Geschrieben am 27. Oktober 2012 von für Bücher, Crimemag

Karl Marlantes: Matterhorn

Getötete „Gooks“ auf der Müllkippe entsorgt

– In seinem Vietnam-Roman „Matterhorn“ beschreibt Karl Marlantes autobiografisch geprägte Kriegserfahrungen, die er als junger Lieutenant machte. Er möchte mit dem Buch, an dem er über dreißig Jahre lang schrieb, seine eigenen Traumata abarbeiten, aber auch zur Aussöhnung zwischen Veteranen und Kriegsgegnern beitragen. Von Peter Münder

Zur Lesung und Diskussion im Hamburger Amerikazentrum in der Hafen City erscheint Karl Marlantes, 67, im akkurat gebügelten hellblauen Hemd, an dessen Brusttasche ein Kugelschreiber steckt. Die kastanienbraune Krawatte ist mit hübschen kleinen Rechtecken dekoriert, der Bart ist sorgfältig gestutzt, die Haare im militärischen Kurzschnitt gehalten, sein strahlendes Lächeln wirkt sehr sympathisch. Der äußere Habitus könnte gut zu einem Brüsseler EU-Kommissar passen, der gerade gewaltige Pläne zur Neuregelung der Schnupftabak-Verordnung ausgebrütet hat. Doch der amerikanische Bestsellerautor stellt hier seinen gerade ins Deutsche übersetzten Kriegsroman „Matterhorn“ (in den USA 2010 erschienen) vor, in dem er seine eigenen traumatischen Erfahrungen als junger Leutnant 1969 während des Vietnamkriegs verarbeitet hat.

Der Roman beschreibt den Einsatz des jungen Offiziers Waino Mellas im vietnamesischen Nordwesten, wo seine Platoon nah am laotischen Grenzgebiet völlig sinnlose Aktionen zur Absicherung und zum festungsartigen Ausbau eines Berges unternimmt, weil dieser kleine Berg von strategischer Bedeutung sein soll. „Matterhorn“ (ein Spitzname ähnlich wie „Hamburger Hill“) wird tatsächlich eingenommen, dann aber wieder geräumt, weil es inzwischen neue wichtige Kampfzonen gibt, und schließlich in einem mörderischen Kampf gegen eine NVA-Übermacht wieder zurückerobert.

Die Tradition …

Marlantes befindet sich mit der drastischen Beschreibung grauenhafter, abschreckender Details in der Tradition von Erich Maria Remarques berühmtem Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“. Einem Marine kriecht ein Blutegel in den Penis und in seine Innereien und verursacht einen qualvollen Tod, beim nächtlichen Spähtrupp-Einsatz wird ein Soldat von einem Tiger zerfleischt und aufgefressen, die quälenden Symptome der Dschungelfäule werden genauestens beschrieben. Die Rassenkonflikte innerhalb der Truppe kochen hoch, als ein weißer Offizier den Afrolook eines Soldaten nicht mehr toleriert.

Auch das „Fragging“ – die Ermordung der eigenen rassistischen, menschenverachtenden Offiziere – hat Marlantes mit beängstigender Eindringlichkeit geschildert. Die bornierten höheren Chargen schikanieren die niederen Ränge, es gibt abstruse brisante Einsatzbefehle für mehrtägige Expeditionen– aber keine logistische Unterstützung, sodass die Soldaten ohne Rationen und Nachschub irgendwie überleben müssen.

Und das Entsorgen der getöteten „gooks“ (Slang für „Schlitzaugen“) auf Müllkippen zwischen Felsspalten spart er ebenfalls nicht aus – zimperlich geht es in „Matterhorn“ wahrlich nicht zu. Marlantes möchte diese drastischen Szenen jedoch nicht als Kritik am militärischen Apparat oder an den Aktionen der Soldaten verstanden wissen: „Die US-Army war ein Pionier bei der Bewältigung von Rassenproblemen und ein Vorbild hinsichtlich der Integration afro-amerikanischer Soldaten“, erklärt er bei der Diskussion nach seiner Lesung.

Das Dilemma

Sein moralisches Dilemma ist permanent greifbar: Es ist der Konflikt zwischen der Vorbildfunktion des heldenhaften Soldaten und den kritischen Aspekten, die er im Roman anspricht. Aber es läuft ähnlich wie in Sebastian Jungers hochdramatischer Afghanistan-Reportage „War“ darauf hinaus, dass ein Mikrokosmos mit explosiven, hochgefährlichen Konfliktsituationen ausgeleuchtet wird, ohne auch nur einmal die naheliegende Frage zu stellen: „Was machen wir hier eigentlich, was haben wir als ausländische Invasoren hier überhaupt zu suchen?“ (vgl. unsere Rezension).

Denn die Jagd auf vermeintliche Taliban-Terroristen in „War“ mutiert ja schnell zur Hatz auf alle Einheimischen, genauso wie Malertes in „Matterhorn“ demonstriert, dass „Killing the Gooks“ das eigentliche Leitmotiv des Vietnam-Kriegs war. Soll dieses in „Matterhorn“ beschriebene Vietnam-Abenteuer also nur zur Rechtfertigung einer aberwitzigen Dominotheorie aus dem Kalten Krieg herhalten?

Marlantes war Rhodes-Scholar in Oxford (er hat das Studium nach seinem Vietnam-Einsatz nachgeholt), er studierte in Yale und ist ein hochintelligenter Mann: Aber hat er nie darüber nachgedacht, dass bereits die Franzosen mit ihrem kolonialen Indochina-Experiment in Vietnam scheiterten? Hat er Graham Greenes „The Quiet American“ nie gelesen und dessen einfühlsame, plausible Abrechnung mit dem Kolonialismus und den dubiosen politischen Infiltrationsversuchen des US-Geheimdienstes nie zur Kenntnis genommen? Und schlicht ignoriert, dass alle imperialistischen Auslandsabenteuer der Briten und Russen in Afghanistan, der Italiener in Nord-Afrika, der Japaner in Burma usw. scheiterten? Diese Anmerkungen muten vielleicht an wie Besserwisserkommentare aus der Retrospektive, aber die historischen Fakten sprechen für sich (vgl. William R. Polk: „Violent Politics“).

Das Trauma

Aus dem Vietnamkrieg kehrte Marlantes – wie sein „Matterhorn“-Protagonist Mellas – als hochdekorierter Held mit den höchsten militärischen Orden (insgesamt sechzehn!) zurück, die vergeben werden: darunter das Navy Cross, der Bronze Star und gleich zwei Purple Hearts. Das Thema „Heroismus“ wird von ihm selbst, aber auch von Veteranen und in den meisten Interviews daher unweigerlich angesprochen, wenn es um „Matterhorn“ geht oder sein danach veröffentlichtes Sachbuch „What it is like to go to war“ mit den angesprochenen ethisch-moralischen Aspekten diskutiert werden. Und Marlantes weist dann auf seine tapferen Kameraden hin, ohne deren mutige Unterstützung er diese Orden nie verdient hätte. Als heroischer Offizier sieht er sich von seinem Vater inspiriert, der im Zweiten Weltkrieg in Europa kämpfte – dieses Ideal eines vaterländischen Kriegers hatte er offenbar schon früh als Kind internalisiert. Über dreißig Jahre lang quälten ihn als Kriegsveteran jedoch Schuldgefühle und traumatische Eindrücke.

Auch während seiner Tätigkeit als selbständiger Business Consultant in Singapur wurde er von diesen traumatischen Episoden heimgesucht: Während eines Meetings sah er plötzlich getötete Soldaten auf seinem Schreibtisch liegen. Seinen Frust und seine Ängste musste er sich in jahrelangen, von selbstkritischen und depressiven Phasen zerrütteten Sitzungen am Schreibtisch regelrecht von der Seele schreiben, um diese düsteren Schatten in bester Kafka-Tradition zu bewältigen.

Es war ihm passiert, erklärt er , dass er sich über einen hupenden Autofahrer an einer Kreuzung so aufregte, dass er in einem furiosen Wutausbruch aus seinem Auto auf die Motorhaube des anderen Autos sprang und mit massiven Tritten die Windschutzscheibe des „gegnerischen Hupers“ zertrümmerte. Diese unkontrollierten Schübe versuchte er mit einer Therapie in den Griff zu bekommen.

Was sich aber als viel wirkungsvoller erwies, war das Schreiben: In einem Jahr hatte er im wahren Schreibrausch rund 1700 Seiten produziert, dann begann der mühselige Schrumpfungsprozeß, bei dem tausend Seiten auf der Strecke blieben. Die brutalen Gesetzmäßigkeiten des Krieges, schreibt Marlantes im nachdenklichen Rückblick des Lieutenant Mellas am Ende des Romans, seien eigentlich ja tröstliche Richtlinien, die einem Halt verliehen – deshalb sehnte er sich danach, wieder mit einem Spähtrupp auf Patrouille zu gehen, um einen Blick in dieses Herz der Finsternis zu werfen: In die „Reinheit und Vitalität des Dschungels, wo der Tod als Teil des geordneten Zyklus, in dem er sich ereignete, einen Sinn ergab“. Hat das Ernst Jünger nicht auch schon so ähnlich behauptet?

Heimat

Als fast ebenso grausam wie das Kriegsgeschehen empfand Marlantes aber auch das Mobbing, dem er nach seinem heroischen Einsatz und den Auszeichnungen mit den höchsten Orden ausgesetzt war: Seine Freundin will mit ihm, einem vermeintlich blutrünstigen Krieger, nichts mehr zu tun haben; seine Bekannten und große Teile der Gesellschaft hätten die Kriegsveteranen damals wie Aussätzige behandelt, erinnert sich der Autor: „Es war ja fast schon normal, dass man im Schnellimbiss, in einer Bar oder im Restaurant Schilder fand mit dem Hinweis: ‚Soldaten sind hier unerwünscht!‘“ Außerdem konnte er mit Nachbarn und Freunden über seine Kriegserfahrungen erst viele Jahre nach dem Kriegsende sprechen, weil die Veteranen ihre kriegerische Vergangenheit schamhaft verschwiegen. Ein prägendes Schlüsselerlebnis war für ihn das Spießrutenlaufen in Washington: Marlantes marschiert uniformiert und mit wichtigen militärischen Dokumenten in der Aktentasche vom Pentagon zum Weißen Haus, wo ihn aufgebrachte Anti-Kriegsdemonstranten als „Babykiller“ beschimpfen.

Wenn er diese Episode beschreibt, ist ihm seine Empörung über diese Ausgrenzung als Aussätziger immer noch anzumerken: Hatte er dafür sein Leben als Soldat riskiert ? Was wussten diese Milchbubis denn schon von heimtückischen Hinterhalten im Dschungel, von sterbenden Soldaten, von mehrtägigen Einsätzen unter Dauerbeschuss? „Ich bin jedenfalls kein Pazifist“, erklärt Marlantes, „wenn man angegriffen wird, muss man sich doch wehren.“ Trotzdem sieht er den US-Einsatz in Afghanistan eher kritisch: „Für den Aufbau von Schulen und um die Teilnahme von Mädchen am Unterricht durchzusetzen, braucht man doch keinen Militäreinsatz – das können zivile Hilfsorganisationen genauso gut übernehmen.“

Vietnam

Die rund drei Dutzend Verleger, denen Marlantes schließlich sein Manuskript vorlegte, lehnten es entweder sofort ab („Wen interessiert denn Vietnam jetzt noch?“) oder sie wollten Plot und Schauplätze verlagern – etwa nach Afrika, nach Afghanistan oder in irgendwelche interessanten Wüstenregionen: „Bloß nicht das dirty word Vietnam erwähnen“ war damals die Devise, erinnert sich Marlantes. Denn Vietnam war ein Synonym für Niederlage und Totalversagen. Doch das kann Marlantes überhaupt nicht nachvollziehen – und das ist sein großes Dilemma.

Erstens gibt er zu bedenken: „Wie will man denn den Erfolg einer Mission bewerten, die ‚hearts and minds‘ der Bevölkerung erobern soll?“ Und eine militärische Niederlage der USA im Vietnamkrieg will er nicht gelten lassen, weil es ja in Paris 1975 ein Friedensabkommen gegeben habe. Weil Marlantes ja nicht als Wehrpflichtiger in den Krieg gezogen war, sondern sich bei den Marines freiwillig verpflichtete und wusste, welch mörderischer Einsatz in Vietnam auf ihn zukam, sieht er sich wohl als Opfer plumper Vorurteile: Als militanter Hardliner oder kalter Krieger will er jedenfalls nicht gelten. 1969, als er sich für seinen Einsatz meldete, war die für beide Seiten so verlustreiche Tet-Offensive mit über 15.000 Toten bereits beendet und die rebellische Anti-Kriegsbewegung hatte in der amerikanischen Bevölkerung und in den Medien rasant an Zustimmung gewonnen.

Dieser vehemente Protest war schon nach dem My Lai-Massaker vom März 1968 enorm stark geworden. Doch das Massaker an 503 vietnamesischen Zivilisten, darunter 182 Frauen und 172 Kinder, hat für Marlantes offenbar nie stattgefunden. Er ignoriert es einfach, auch in seinen Kommentaren und Interviews. Vor allem gegen diese studentische Rebellion wollte Marlantes damals als 23-jähriger Student selbst ein Zeichen setzen: Er war gerade für ein Stipendium in Oxford akzeptiert worden, sah die langhaarigen Hasch-Freaks und Kriegsdienstverweigerer auf den Barrikaden und hielt es für unverantwortlich, sein Land in dieser „bedrohlichen“ Situation im Stich zu lassen. Dann schon lieber nach Vietnam, war sein Motto.

Stolz

Es klingt daher wie das unmissverständliche Credo eines Hardliners, wenn er im Roman unter dem „Matterhorn“-Copyright-Vermerk in einem speziellen Hinweis betont: „Ich bin stolz, mit Offizieren und Soldaten gedient zu haben, die beispielhaft für das Wesen, die Fähigkeiten und den Mut der Marines stehen. Diese Männer haben mit Erschöpfung und Mutlosigkeit gerungen, haben an ihrem Urteil und ihrem Willen gezweifelt; sie haben mich gelehrt, was es heißt, ein Mensch zu sein.“

Das Schlachtfeld als Orden verleihende Schule des Lebens, mörderische Stahlgewitter als reinigende Katharsis – ist das etwa sein abschließendes moralisierendes Fazit? Andererseits sollen die ätzenden Szenarios mit durchgeknallten, profilneurotischen Generälen („We are here to kill the fucking gooks!“) und ihren sinnlosen Einsatzbefehlen auch den Wahnsinn des Krieges zeigen, obwohl ein irres, ausgeflipptes „Apocalypse Now“-Feeling hier nicht recht aufkommen kann. Dantes Vorhölle lässt grüßen, aber Marlantes signalisiert eben auch, dass man sich mit dieser Vorhölle beizeiten arrangieren muss– nur um dann jahrzehntelang vom posttraumatischen Stress-Syndrom heimgesucht zu werden? Diese irritierenden Widersprüche wischt der Autor sofort mit dem Hinweis beiseite, „Matterhorn“ sei zwar autobiografisch inspiriert, doch immer noch ein Werk der Fiktion.

Marlantes hat sich seine moralische Zwickmühle selbst konstruiert: Er möchte Militante und Kriegsgegner miteinander aussöhnen und niemanden verletzen, nebenher noch „minds and hearts“ aller Leser – die der konservativen Kriegsbefürworter ebenso wie die der linksliberalen Kriegsgegner – gewinnen und obendrein noch von allen Lagern anerkannt werden. Mit „Matterhorn“ ist Marlantes zwar ein brisanter, spannender Roman mit einem zerrissenen, faszinierenden Helden gelungen. Aber das Programm für sein erhofftes Wunschkonzert ist so breit und widersprüchlich angelegt, dass sich unweigerlich viele kakophone Untertöne und Dissonanzen einstellen, die das in etlichen Passagen phrasierte Glissando dieses blutigen Dramas dumpf übertönen.

Peter Münder

Karl Marlantes: Matterhorn (Matterhorn, 2012). Deutsch von Nikolaus Stingl. Hamburg: Arche Verlag 2012. 671 S.eiten. 24,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
ders.: What it is like to go to war. Atlantic Monthly Press 2011. 256 Seiten.
William R. Polk: Violent Politics. New York: Harper Perennial 2008. 277 Seiten. 14,99 Dollar.
Fotos Karl Marlantes: Peter Münder.

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