Geschrieben am 8. Januar 2011 von für Bücher, Crimemag

Sebastian Junger: War – Ein Jahr im Krieg

Im Osten nichts Neues

– Verklärendes Helden-Epos oder Anti-Kriegsdokumentation? Kritische Überlegungen zu  Sebastian Jungers  Kriegsreportage „War“ aus dem umkämpften Afghanistan. Ein Essay von Peter Münder

Den extremen Nervenkitzel vor einer entscheidenden Schlacht ließ schon Winston Churchill 1898, damals noch hoch zu Ross, intensiv auf sich wirken: „Ritten wir mitten hinein in Tausende von wartenden, wütenden aufständischen Wilden? Was würde uns oben auf dem Gipfel erwarten? Jetzt konnte jeder Schritt tödlich sein“, berichtete der Kavallerist und Kriegsreporter Churchill im September 1898 von der Schlacht im sudanesischen Omdurman, bei der 20 000 mit primitiven Waffen ausgerüstete separatistische aufständische Anhänger des Mahdi von den Briten mit modernen Gewehren und großkalibrigen Geschützen ihrer Kanonenboote niedergemetzelt wurden. An diesen Augenblick vor der Schlacht konnte Churchill sich noch viele Jahrzehnte später gut erinnern, als er  in seiner Autobiografie „My Early Life“ schrieb: „Wer den coolen Nervenkitzel äußerster Anspannung voll auskosten will, dem empfehle ich solche Momente.“

Um den coolen Nervenkitzel mitten im lebensgefährlichen Schlachtgetümmel mit unberechenbaren Taliban-Kriegern, das ultimative Kameradschaftserlebnis in der kleinen, 150 Mann starken 2. Platoon der 173. Airborne Division und um den extremen existenziellen Härtetest in gnadenlosen Stahlgewittern geht es auch dem amerikanischen „Vanity Fair“-Redakteur und Reporter Sebastian Junger, 48, in seiner großen Afghanistan-Reportage „War“. Mit dem Sachbuch-Thriller „Perfect Storm“ wurde er 1997 bekannt, dann veröffentlichte er noch einen Krimi über den Boston Strangler. Jungers erste Kriegsreportagen, versammelt im Band „Fire“ (aus Liberia, dem Kosovo, Sierra Leone), erschienen schon 2001. Zwischen Juni 2007 bis zum Sommer 2008 zog Junger fünf Mal über mehrere Wochen mit dem Fotoreporer Tim Hetherington auf  den kleinen US-Vorposten Restrepo ins entlegene zehn Kilometer lange Korangal-Tal im östlichsten Grenzgebiet nahe Pakistan, wo die Taliban von Pakistan aus mit Nachschub versorgt wurden.


Größere Kartenansicht

Junger hatte schon früher aus afghanischen Kampfzonen berichtet. Ihn interessiert der Alltag der Soldaten, er will zeigen, was die Soldaten durchmachen, wie sie den viel beschworenen „Krieg gegen den Terror“ (die Frage, wer hier eigentlich den Terror provoziert, stellt er sich nicht) erleben. Leiden die Soldaten unter der langen Trennung von ihren Familien und Freundinnen? Wie gehen sie um mit ihren Todesängsten? Drehen sie durch in gefährlichen Stress-Situationen, wenn der Feind unsichtbar bleibt und nachts die Einschüsse immer näher kommen? Es ist eine Art Laborexperiment mit Selbstversuch: Der total „embedded“ Reporter  macht zwar alle gefährlichen Angriffe auf die Taliban mit und gerät wiederholt in zermürbende Gefechte und erbitterte Verteidigungs-Scharmützel, doch er trägt nur eine Kugelweste, bedient seine Videokamera (sein Dokufilm „Restrepo“ wurde preisgekrönt) und macht sich Notizen – Waffen feuert er nicht ab. Detailgetreu und plastisch beschreibt Junger den Alltag der 150 Waffenbrüder: ihre enge, von Stacheldraht- Verhauen umgebenen Holzhütten ohne fließendes Wasser, aber mit selbst produziertem Generatorenstrom, die sterilen Essensrationen, die engen Schlafkojen, die Taranteln und Flöhe, die „Burnshitter“, auf denen die Exkremente mit Diesel verbrannt werden sowie die gelegentlich in Badelatschen, kurzen Hosen und mit brennender Zigarette im Mund herumballernden Soldaten.

Mit beinah ethnologischem Scharfblick analysiert Junger auch die ritualisierten Schlagabtäusche: Wenn ein Dutzend Soldaten den neuen hochrangigen Vorgesetzten zu Boden reißt und ihn mit Faustschlägen traktiert, dann ist das ihre besondere Art, ihm den Ritterschlag zu verleihen– d. h. der Typ ist einfach in Ordnung und verdient ihren Respekt! Wir sind hier also nicht unter schöngeistigen Tontöpfern, Gewaltanwendung gehört für diese Typen eben zur normalen Kommunikationsform. Was Junger jedenfalls nicht interessiert, sind politische Hintergründe, militärische Strategien oder historische Zusammenhänge, obwohl er sich mitunter auf psychologische Studien beruft, die sich etwa mit gruppendynamischen und neurologischen Aspekten in Kriegssituationen oder mit posttraumatischem Stress beschäftigen. Die Frage nach dem Sinn dieses militärischen Abenteuers vermeidet er ebenso wie weiland Bush, Rumsfeld oder die CIA-Bosse. Für die galt nur die Devise: „Wir sind nun mal hier (in Afghanistan, Irak usw.), alles andere ist unwichtig.“

Und das ist natürlich ein enormer Schwachpunkt dieser aus der Froschperspektive berichtenden Reportage: Der Mikrokosmos dieser adrenalinsüchtigen Krieger wird zwar präzise in den Fokus gerückt – doch die gesamte politische Maschinerie, die Mechanismen einer verblendeten, hypertrophen Politkaste, die ihre imperialistischen Fantasien auslebt und mit der Verheißung vom seligmachenden American Way of  Life unbedingt die gesamte Welt beglücken will,  all das wird konsequent ausgeblendet. Einen kritischen Aufschrei über den Wahnwitz und die Sinnlosigkeit dieses Einsatzes hört man jedenfalls weder vom Reporter Junger noch von den Soldaten aus seinem Platoon. Die hatten sich für diesen Einsatz allerdings auch freiwillig gemeldet. Daher entsteht dann der Eindruck: Man mordet in Afghanistan wie im Film „Apocalypse Now“, man walzt  die Felder und Häuser der Einheimischen platt, nimmt in Kauf, dass Zivilisten als „collateral damage“ vernichtet werden, aber man lernt nichts dazu aus vergangenen Fehlern. Ein vermeintlich banales Detail ist aufschlussreich: Ein Spähtrupp trifft auf einem Rundgang auf eine im Gelände herumirrende Kuh, die von den Soldaten so lange herumgescheucht wird, bis sie sich im Stacheldrahtverhau des Platoon verfängt und darin stecken bleibt. Die Soldaten erschießen und braten sie, sie gönnen sich einen munteren Grillabend. Als dann einige einheimische Männer auftauchen und einen stark überhöhten Schadensersatz für ihr Tier verlangen, wird ihnen angeboten, für das Gewicht der Kuh eine gleich schwere Menge an Reis oder anderen Lebensmitteln aufzubringen. Junger erwähnt im Text kein Wort der Entschuldigung von Seiten der US-Soldaten, im Gegenteil: Mit einer arroganten, sarkastischen Attitüde praktizieren sie als ausländische Besatzer eine prähistorische Sklavenhalter-Mentalität und mokieren sich noch über die ach so „dämlichen Eingeborenen“.

Jugendliche Abenteurer und Patrioten, die wie Paul Bäumer in Erich Maria Remarques  Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ von der Schulbank weg freiwillig an die Front zogen, im 1. Weltkrieg verheizt wurden und einen normalen bürgerlichen Alltag nicht mehr bewältigen konnten, zählte Ernest Hemingway in „Farewell to Arms“ ja zur „Lost Generation“ – sie waren für das normale bürgerliche Alltagsleben untauglich geworden. Ein ganzes Anti-Kriegs-Genre haben Autoren wie Ludwig Renn („Krieg“), Peter Bamm („Die unsichtbare Flagge“), Theodor Plievier („Stalingrad“) u. a. mit ihren aufrüttelnden, düsteren Vernichtungs-Szenarien bestückt. Was ihre „Helden“ trotz aller deprimierenden Erfahrungen dann doch halbwegs zuversichtlich nach vorne blicken ließ, war die Kameradschaft: das Gefühl, sich immer und unbedingt auf die Kollegen mit der Knarre verlassen zu können. Auch die amerikanischen GIs sangen im Vietnam-Krieg noch das hohe Lied auf die Verlässlichkeit ihrer Kumpel, die Napalm-Attacken und Agent-Orange-Einsätze mitmachten, zusahen, wie vietnamesische Frauen und Kinder umgebracht wurden und sich wacker selbst suggerierten, im Kampf gegen die „roten Teufel“ könne man eben nicht allzu zimperlich sein. Erst nachdem über 50 000 US-Soldaten gefallen waren, das korrupte Diem-System kollabiert war und die Vietcong in Saigon einmarschierten, wuchs die Einsicht, dass so eine, als  Nation Building sowie „winning the hearts and minds“ verkaufte, jedoch nur Tod und Vernichtung bringende Invasion dieses imperialistischen Weltpolizisten niemals zu gewinnen war.

Wenn Sebastian Junger sich also mit seinem kleinen Zug immer wieder in lebensgefährliche Situationen begibt und die Soldaten in seinem Platoon erklären, sie hätten sich zu Hause in Minnesota oder Montana zu Tode gelangweilt und sich dann lieber freiwillig vom Militär rekrutieren lassen, dann scheint das Kriegserlebnis zum Synonym für Freiheit und Abenteuer geworden zu sein. Etliche kriminelle Krieger vermieden mit ihrer Rekrutierung auch einen Knastaufenthalt – sie gehörten offenbar schon vor ihrem Kriegseinsatz zur Lost Generation.

Inzwischen dauert das militärische NATO-Abenteuer  in Afghanistan schon länger als der 2. Weltkrieg, über 52 Milliarden Dollar haben die USA allein für den Aufbau ziviler Objekte verpulvert, aber das von korrupten Cliquen und Karsai-Kumpeln ausgeplünderte Land ist noch ärmer als je zuvor, weil die Dollars von der Politkaste und kriminellen Geschäftemachern sofort ins Ausland transferiert werden. Die angeblich gebauten Fabriken, Schulen oder Werkstätten werden entweder gar nicht gebaut, weil eine Kette von Subunternehmern sich die Taschen vollstopft und dann Fotos von Potemkin’schen Phantombauten als Erfolgsmeldungen präsentiert (vgl. Independent, 13. Dezember 2010). Oder die tatsächlich im Auftrag der USA errichteten Schulen werden sofort von den Taliban zerstört, weil die verhasste US-Armee der direkte Auftraggeber ist. Militärisch kann dieser Krieg eh nicht gewonnen werden, weil die Taliban ihre schon gegen die Sowjets praktizierte Guerilla-Taktik anwenden: Kleinere Scharmützel werden mit Unterstützung der Einheimischen im unwegsamen Gelände gnadenlos ausgefochten, die großen Schlachten mit schweren Geschützen bei amerikanischer Luftüberlegenheit werden möglichst vermieden. „Der Feind ist meistens unsichtbar, man kann in Afghanistan nicht siegen“, klagte schon der russische Oberst Alexej Tukalkin in seinem Resümee der sowjetischen Afghanistan-Katastrophe. Und die afghanische Bevölkerung hat es schon längst satt, sich von korrupten Warlords und  Karsai-affinen Drogenbaronen  unterdrücken zu lassen; dann akzeptiert man lieber den harten Knüppel und das scharfe Schwert der unbestechlichen Taliban, die wenigstens für ein eindeutiges, berechenbares Rechtssystem eintreten. Dass ausländische Militärs am Hindukusch schon lange vor den imperialistischen Ambitionen der Briten und Sowjets als verhasste Imperialisten bekämpft wurden, das ist ja eine Binsenweisheit. Allerdings scheinen hohe lernresistente US-Militärs sich damit nicht abfinden zu wollen. Die glauben immer noch, wie weiland im Vietnamkrieg, mit verschenkten Zahnbürsten und versprühtem Agent Orange, mit Chemieklos und Napalmbomben irgendeine diffuse Wahnvorstellung von Demokratisierungsprozess und Nation Building auf den Weg bringen zu können. Und die deutsche Regierung hat sich dieser Wahnvorstellung ja bisher in einer Art Brainwashing-Prozess begeistert angeschlossen. Wie soll das aber funktionieren in diesen exotischen Breiten?

Wer mal mit den Einheimischen auf der Nordroute nach Mazir-i-Sharif durchs Gebirge getuckert ist, auf Bastpritschen in den Karawansereien übernachtete und das archaisch-wilde Wolfsgeheul draußen in den Tälern auf sich wirken ließ, wird in dieser alttestamentarischen herben Märchenwelt auch registriert haben, dass die üblichen Gesetzmäßigkeiten hier außer Kraft gesetzt sind. Stammesfürsten mit uralten Gewehren haben jedenfalls mehr Einfluss und Entscheidungsgewalt als jeder Regierungsbeamte. Kabul ist weit und Karsai könnte genauso gut auf dem Mond seinen korrupten Machenschaften mit den Drogenbaronen nachgehen. Wenn sich aber jedes Dorf  wie eine von der verhassten Kabuler Macht-Clique unabhängige autonome Region verhält, wie soll dann überhaupt das von den Amerikanern favorisierte „Nation Building“ funktionieren? Die Taliban hatten die Amerikaner im Kampf gegen die Russen mit modernsten Waffen ausgerüstet und die Russen vertrieben. Dass die von diversen US-Regierungen eingesetzten korrupten afghanischen Marionetten-Regimes dann nicht das Wohlwollen der Taliban fanden, war vorauszusehen. An dieser Konstellation hat sich ja bis heute nichts geändert, aber Junger bringt das aberwitzige Kunststück fertig, einen minimalistischen, punktualistischen – streckenweise immerhin packenden und faszinierenden –  Auszug aus einem großen, vielschichtigen Panorama zu präsentieren, ohne über diesen Militäreinsatz kritisch zu reflektieren. Dabei präsentiert uns der „Laborleiter“ Junger im Anhang eine Literaturliste mit über hundert Titeln wissenschaftlicher Studien (von „Geruch der Angst“ bis „Peergroup-Hierarchien“), doch die Frage nach dem Sinn dieses Abenteuers blendet der Reporter systematisch aus.

Das ist besonders irritierend und ärgerlich, weil die Heldenverehrung aus der Froschperspektive eine Aufforderung zum Weiterwurschteln militärischer und politischer Apparate impliziert. Dass man die politisch-militärischen Konflikte, die gegenseitigen Aversionen von Invasoren und bevormundeten Einwohnern auch kritischer und genauer auf den Punkt bringen kann, zeigt übrigens die großartige Reportage von Klaus Brinkbäumer über die US-Aufbauversuche im zerstörten Nachkriegsbagdad („Frieden ist langweilig“) oder Jochen- Martin Gutsch mit seinem erschütternden Bericht über das katastrophale afghanische Rechtssystem („Der Missionar des Westens“, beide im Spiegel-Reportagen-Band „Wegelagerer“).

Von den 16 amerikanischen Versuchen der Nachkriegszeit, Staaten aufzubauen oder Regimewechsel zu erzwingen, waren nur die in Japan und Deutschland erfolgreich, konstatiert der US-Politikwissenschaftler William R. Polk in seiner überzeugenden Studie Aufstand. Fremde Invasoren, so Polk, hätten keine Chance, sich gegen den Willen der Einheimischen als Herrscher zu etablieren und diesen ihre Wertsystem aufzudrängen. Doch die Amerikaner erwarten für ihre imperialistischen Größenwahn-Strategien („Winning  Hearts and Minds“) auch noch Belohnungen: Mit Blumen und Karamelbonbons würden die Irakis die US-Truppen beim Einmarsch beglücken, das war die weitverbreitete Erwartungshaltung der Neo-Cons um Bush, Rumsfeld und Wolfowitz. Stattdessen werden die Truppen dort und in Afghanistan mit Bomben und Selbstmordattentaten aus dem Land gejagt. Und der von Junger beschriebene, so verbissen umkämpfte afghanische Vorposten Restrepo, in dem 50 US-Soldaten ihr Leben ließen, ist inzwischen längst geräumt und aufgelöst worden. Irgendwo da oben in einer sonst so chaotischen, irrationalen Catch-22-US-Militärhierarchie hat offenbar irgendwann doch jemand eingesehen, dass diese militanten Abenteuer – zumindest an einigen  Schauplätzen – völlig unsinnig sind. Das ist doch schon mal ein Anfang. Den Rest sollten dann die Afghanen unter sich ausmachen, wenn sie die Taliban  dann tatsächlich auch noch verjagen wollen.

Peter Münder

Sebastian Junger: War – Ein Jahr im Krieg. Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner. Blessing Verlag. 336 Seiten. 19,95 Euro.
William R. Polk: Aufstand. Widerstand gegen Fremdherrschaft – vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zum Irak. Hamburger Edition 2009. 340 Seiten. 32 Euro.
Cordt Schnibben (Hrsg).: Wegelagerer. Die besten Storys der Spiegel-Reporter. Eichborn Verlag. 392 Seiten. 32 Euro.
Verlagsinfo zu Jungers „War“