Geschrieben am 4. November 2015 von für Bücher, Litmag, News

Im Gespräch: Stefan Etgeton („Rucksackkometen“)

etgeton_rucksackkometenExpressive Feier des Lebens

— Mit „Rucksackkometen“ legt der 27jährige Stefan Ferdinand Etgeton ein ebenso cooles wie furioses Debüt vor, das von der Suche nach Sinne und Menschlichkeit erzählt. Karsten Herrmann hat sich mit dem Autor über seinen Roman, der zum deutschen „On The Road“ des 21. Jahrhunderts werden könnte, unterhalten.

Etgetons Ich-Erzähler Fiete hat gerade frisch promoviert und hangelt sich von prekärem Job zu Job als Volontär oder Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Köln, Halle und Berlin. Doch aufgrund mangelnden Engagements und häufiger Blaumacherei verliert er sie alle bald wieder und muss feststellen: „ich war einfach besinnungslos und ohne inneren treibstoff und trieb nur so hin ohne richtung und wahr wahrlich zufällig unterwegs, und zufälligkeit ist auch nicht das schlimme, das schlimme war, dass mir alles egal geworden war. Ich hatte meine verkackte agenda verloren.“

Doch dann kratzt er mit seinem Freund Jan Spille alles Geld zusammen und sie brechen auf zu einem Trip durch Europa, zu einen Trip, mit dem sie sich neu erfinden, „die hoheit über das goldene drehbuch des daseins einfach zurückerobern“ und zugleich auch ein neues Europa der wahren Menschlichkeit schaffen möchten.

Mit minimalen Mitteln trampen sie durch Polen, die Ukraine, Ungarn, Montenegro und Albanien bis nach Griechenland. Auf dem von Zufällen gesteuerten Weg saugen sie die neuen Erfahrungen und Begegnungen in sich auf, feiern das Leben mit viel Bier, Wein und Schnaps oder auch Dope und Kokain. Sie streifen Auschwitz und Tschernobyl, lernen die Gastfreundschaft in den verlassenen Provinzen des Osten kennen, jobben in Budapest und Tirana, finden Liebe und müssen immer wieder Abschied nehmen.

In Griechenland, der Wiege der europäischen Kultur, pinkeln sie in einem symbolischen Akt an die Akropolis und wandern dafür ins Gefängnis. Ihr Weg ist zu Ende, doch das Ziel scheint nicht erreicht. Erst zurück in Berlin, dass er mit einem Daumen weniger erreicht, findet Fiete sein Glück mit Josie, einem „glühmonster“ und „katalysator“ sowie seinem eigenen „schnellrestaurant neues europa“.

„Rucksackkometen“ ist eine klassische road-story in höchst origineller sprachlicher Umsetzung. Es spiegelt eine Generation in den Mittzwanzigern, die nicht in vorgefertigten Schablonen leben und neue Wege finden will. In Hochgeschwindigkeitsprosa und mit einem coolen Sound feiert der im westfälischen Mettingen geborene Etgeton das Leben dabei in expressiven und höchst amüsanten Bildern – ein Debüt mit Kultcharakter!

stefan_edgeton_c_christoph_mukherjeeEine Brutstätte für Liebe und Power und Hingabe und Freiheit

Wie viel Stefan Ferdinand Etgeton steckt in den „Rucksackkometen“? Zuweilen kann man ja schon den Eindruck bekommen, dass man es hier mit einer verkappten Autobiographie zu tun hat…

Parallelen sind einige da, stimmt. Vielleicht ist das also mein Leben, vielleicht auch nicht. Zumindest ist es aber die Verschriftlichung von Emotionen, die mir wichtig sind. Das ist also der literarische Versuch, eine Brutstätte zu schaffen für Liebe und Power und Hingabe und Freiheit, und ist meine kondensierte Sicht auf die Welt, auf eine wundervolle Welt, und ist mein Plädoyer für eine geile Zukunft.

Ihr Protagonist Fiete hat nach Promotion und einigen prekären Jobs irgendwie seine „verkackte Agenda“ verloren. Wie schwierig ist es in der heutigen Welt, in der einerseits fast alles möglich scheint, andererseits aber das gesellschaftliche Grundmodell fest zementiert ist, Orientierung und Sinn im Leben zu finden?

Eine stark individualisierte Gesellschaft, wie die unsere, leidet wohl darunter, dass sie zwar eigentlich nicht klassenlos ist, sich aber niemand mehr niemandem verpflichtet fühlt. Lauter kaputtindividualisierte Einzelkämpfer, die manchmal ein Mindestmaß an Aufrichtigkeit vermissen lassen. Umgeben zu sein von Menschen, die damit beschäftigt sind, viel zu haben, statt viel zu sein, macht das Leben dann manchmal auch beschwerlich, vor allem wenn sich die eigene Idee von Freiheit nicht in der Freiheit alles arbeiten zu dürfen erschöpft. Aber wie man da Sinn oder Ziele findet und seinen eigenen moralischen Kompass, und ob dann diese utopielose Epoche hier irgendwann abgelöst wird? Keine Ahnung.

Fiete und sein Freund Spille brechen auch zu ihrer großen Reise auf, um ein „Europa der wahren Menschlichkeit“ zu begründen. Hat Europa aus ihrer Sicht seine wichtigsten humanistischen Werte verloren?

In meinem Empfinden schon. Unser Leben wird zusehends durch Gesetze bestimmt, die kaum mehr als Vehikel sind, um Partikularinteressen zu befriedigen, die jegliche Konsistenz verloren haben. Marktlogik löst den denkenden und liebenden Menschen als Mittelpunkt jeden Tuns ab. Asyl muss finanzierbar sein, Bildung praxisnah, Ehrlichkeit ist Luxus, Eigenverantwortung Verhandlungsmasse, das BIP heilig. Das macht mich traurig.

Wann und wie sind Sie zum Schreiben gekommen und welche literarischen Vorbilder haben Sie dabei beeinflusst? Mich erinnerte Ihr Debüt phasenweise durchaus an Kerouacs „On the road“, dieser Aufbruch ins Ungewisse, das Tempo, die unbedingte Feier des Lebens und der Poesie, der Rausch.

Kerouac ist tatsächlich ein großer Einfluss gewesen. An Kerouac mag ich seine Sprunghaftigkeit, seine Sucht, sich der eigenen Existenz zu versichern. Er macht in seinem Schreiben deutlich, dass er lieben kann, dass er fühlen kann, dass er fühlen will. Das imponiert mir. Kathrin Röggla mag ich aber auch, weil sie wirbelt. Aber warum ich dann selbst anfing zu schreiben, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich weil es einfach Spaß macht, nächtelang Worttürme zu errichten.

Wie war ihr literarischer Werdegang bis zum Erscheinen Ihres Debüts? Inwiefern sind auch Sie durch die heute ja fast unumgänglichen Schreibschulen, Wettbewerbe und Stipendiate gegangen?

Ich hab 2014 den MDR-Literaturpreis gewonnen für eine Kurzgeschichte, die nun auch den Weg in meinen Roman gefunden hat. Vielleicht hat das geholfen, ernst genommen zu werden, vor allem half mir das aber, mich selbst als Schriftsteller ernst zu nehmen, anders hätte ich wohl nie den Mut gehabt, ein Buch zu schreiben. Schreibschulen hingegen halte ich für vertane Zeit: Literarisches Schreiben unter ständiger Beobachtung kann doch zu nichts führen.

Welche Bedeutung hat die Literatur für Sie einerseits als ein Instrument der Selbsterkundung und Selbstvergewisserung und andererseits auch Weltveränderung, dem Entwurf von besseren Lebensentwürfen und Visionen?

Literatur kann ein Ventil sein für Überdruck, aber meistens macht sie mir auch einfach nur Spaß, weil ich alles darf, und ist befreiend, und ich leuchte mich da auch nicht geplanter Weise aus, sondern schreibe nur und schreibe dann automatisch auf, was mir wichtig ist, und schreibe, wie es mir wichtig ist. Wenn sich als Konsequenz jemand inspiriert fühlt davon, dann ist das ungeplant, aber macht mich derbe glücklich.

Was sind Ihre nächsten Pläne?

Ich arbeite an meiner Doktorarbeit in Volkswirtschaftslehre, es geht um Mechanismen und Anreize und Armutsgefahren im Bereich der Rente. Das hat momentan Priorität. Ich schreibe aber weiter.

Vielen Dank für das Gespräch!

Karsten Herrmann

Stefan Ferdinand Etgeton: Rucksackkometen. C.H. Beck 2015. 272 Seiten. 19,95 Euro. Foto: Christoph Mukherjee

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