Geschrieben am 15. August 2016 von für Bücher, Crimemag, Film/Fernsehen

Filmbuch: Geliebt und verdrängt. Das Kino der jungen Bundesrepublik von 1949 bis 1963

locarno_cover_dtDas Brot der frühen Jahre

Zur Retrospektive „Geliebt und verdrängt. Das Kino der jungen Bundesrepublik von 1949 bis 1963“. Von Alf Mayer.

Eine umfangreiche Retrospektive, ein erkenntnisfreudiger Blick auf liebgewordene Vorurteile und dazu ein idealtypisches Filmbuch – Alf Mayer ist beeindruckt. Hier seine Besprechung.

Das nenne ich Retrospektive: Rund 80 Filme – Spiel-, Dokumentar, Kurz- und Animationsfilme – aus der unmittelbaren Nachkriegszeit Westdeutschlands auf einem Schweizer Festival, nämlich jetzt gerade in Locarno (3. bis 13. August 2016), die allermeisten von ihnen seit Jahrzehnten nicht mehr zu sehen, danach auf internationaler Tournee. Dazu ein Filmbuch, wie es idealtypischer nicht sein könnte, englische Auflage inbegriffen. 33 Autorinnen und Autoren schürfen tief in einer –man muss es sagen – ziemlich verfemten filmischen Vergangenheit. In Opas Kino. Im Filmgeschehen der Adenauerzeit. Totgesagt, davon losgesagt, bekämpft, belächelt, verachtet, mies gemacht und verschwiegen, das war bislang weithin sein Status. Ausnahmen bestätigten die Regel. Über tausend Filme entstanden zwischen 1949 und 1963 in der Bundesrepublik. Alles Schrott? Bieder? Hoffnungslos?

Der Filmjournalist Joe Hembus schrieb 1961 eine Polemik, ihr Titel: „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“. Und darin:
„Er ist schlecht.
Es geht ihm schlecht.
Er macht uns schlecht.
Er wird schlecht behandelt.
Er will auch weiterhin schlecht bleiben.“

locarno 1961.Hembus2-300x429„Kunst oder Kasse“ lautete die Parole

Solche Verachtung gehört zu den Gründungsmythen des Jungen Deutschen Films, gehört zum „Oberhausener Manifest“ und zum Autorenfilm, gehört zu den Kindheits-Sagen vieler heutiger deutscher Filmregisseure und Filmkritiker. Die Stunde Null des jungen deutschen Films begann 1962 mit einem sozusagen kollektiven Vatermord: „Papas Kino ist tot!“ Der alte Drache erledigt, von kühnen Jungregisseuren – „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen!“ – und der neuen Zeit erdolcht. „Unsere“ Nibelungensage. Unser Neuer Deutscher Film. Der erfahrene UFA-Produzent Erich Pommer („Der blaue Engel“ u.v.a.) hatte in den 1920ern proklamiert: „Ein Film ist nie ein Erfolg, weil er gut ist, sondern höchstens, obwohl er gut ist.“ Jetzt wurde das verkürzt auf die Totschlag-Losung: „Kunst oder Kasse!“ Die Antwort war klar.

Locarno tiger2DIFJetzt aber geht der Vorhang wieder auf. Jetzt haben wir Gelegenheit, das Kino der jungen Bundesrepublik von 1949 bis 1963 neu zu sehen. Neu zu schätzen. Ermöglicht wird das durch das Festival del film Locarno und das Deutsche Filminstitut (DIF) in Frankfurt mit seiner Direktorin Claudia Dillmann, möglich machen das die Kuratoren Olaf Möller und Roberto Turigliatto, möglich macht das dies hier vorgestellte Buch, 416 Seiten stark, vorbildlich illustriert mit 270 Abbildungen aus den Archiven des Deutschen Filminstituts und anderen Archiven. Eine Schatzkammer. Ein Standardwerk. Ein Glücksfall. „Es ist Zeit, dass wir ein paar Vorurteile loswerden und uns die widersprüchliche Schönheit dieser frühen Phase des bundesdeutschen Nachkriegskinos erschließen“, sagt Kurator Olaf Möller, neben Claudia Dillmann auch Herausgeber des Buches.

„Adenauerland“ heißt darin sein bemerkenswerter Beitrag; eine Einführung, wie man sie sich nur wünschen kann. „Das bundesdeutsche Kino kam als Problemkind zur Welt: Schon 1950 erschien eine erste Brandschrift zur Rettung des deutschen Films, verfasst von Wolfdietrich Schnurre“, lautet der erste Satz. Lese man die Kritiken der ersten Dekade Nachkriegsfilm, habe man den Eindruck, dass der gute Ton im Mäkeln bestand und Zustimmung ohne irgendwelche Einwände schier unvorstellbar war. (Ich kann das bestätigen aus meiner Arbeit zu einem Buch über „50 Jahre Filmbewertungsstelle FBW – 50 Jahre Filmgeschichte“; die Gutachten, die wir uns dazu aus dem Hessischen Staatsarchiv kommen ließen, verfasst von den artikulationsstärksten Filmfachleuten dieser Zeit, strotzen von „wenn nur“ und „aber“ und „jedoch“ und „zu bemängeln ist“…) In einem wunderbar anschaulichen Text, dem Haupttext des Buches, erinnert Dominik Graf sich an seine Eltern, wenn sie aus dem Kino nach Hause kamen. „Das Kino war damals halt … nun ja.“

Das „ungenaue“ Land – unseres

Da ist es eine späte Ehrenrettung, dass in „Geliebt und verdrängt“ auch der frühen Avantgarde, dem deutschen Nachkriegs-Noir und dem Realismus als Gebot der Stunde nachgespürt wird, „zumindest für diejenigen, die wollten, dass die Bundesrepublik etwas wirklich anders sein würde als das Deutsche Reich der Nationalsozialisten, zumindest für die Aufbruchswilligen aller politischen Couleur“, wie Olaf Möller einschränkt. „Ungenau“ hat Heinrich Böll sein Land 1960 in einem Essay genannt, weil es nie dem entsprach, was man ihm erwartete.
Eben jenes Interesse an diesem Ungenauen stand am Beginn des Retrospektiven-Projekts, berichtet Olaf Möller. Das nähere Hinsehen zeigt(e), „dass vieles entschieden anders war, als einen die allseits geläufigen Klischees glauben machen wollen“. Vor allem aber war – das erweist sich quer durch viele der 33 Buchbeiträge – das Kino der jungen Bundesrepublik nicht so harmoniesüchtig und zahm, wie man gerne glauben mag. Rainer Knerpges zum Beispiel in seinem Artikel „Mamas Kino lebt!“ und Christoph Huber mit „Der Simmel-Komplex. Zu Trivialliteratur und Kino der Adenauer-Ära“ zeigen, so Olaf Möller, „dass man es eher mit einem Schlachtfeld zu tun hat, auf dem Konflikte mit einer zum Teil verblüffenden Direktheit im öffentlichen Raum ausgefochten wurden“. Möllers Liebe gilt dem Genrekino, in dem sich „die politisch wirklich interessanten Filme finden. Wer etwas darüber erfahren will, wie schizophren die BRD in vielerlei Hinsicht war, der muss Heimatfilme, Krimis und Melodramen schauen. Es ist Zeit, dass wir ein paar Vorurteile loswerden und uns die widersprüchliche Schönheit dieser frühen Phase des bundesdeutschen Nachkriegskinos erschließen.“

Provinziell?  – aber vier Oscarnominierungen in Folge

Eines der Verdikte über den deutschen Film der Nachkriegszeit lautet, dass er provinziell und international weder vorzeigbar noch anerkannt gewesen sei. Claudia Dillmann widerlegt das in einem informativen Artikel über die Produktionsbedingungen des Adenauer-Kinos („Der Pakt mit dem Publikum“). Vier bundesdeutsche Produktionen in Folge waren von 1956 und 1959 für den Auslands-Oscar nominiert: Helmut Käutners „Der Hauptmann von Köpenick“ mit Heinz Rühmann, Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“ mit dem nahezu unbekannten Mario Adorf, Franz Peter Wirths „Helden“ mit Liselotte Pulver und O.W. Fischer sowie Bernhard Wickis Antikriegsfilm „Die Brücke“. Erst 1973 fiel das Oscar-Licht wieder auf einen deutschen Film, auf Maximilian Schells „Der Fußgänger“. Je einen Golden Globe für den besten ausländischen Film gab es 1955 für László Bendeks „Kinder, Mütter und ein General“, 1956 für Gottfried Reinhardts Hauptmann-Verfilmung „Vor Sonnenuntergang“, 1958 für Rolf Thieles „Das Mädchen Rosemarie“ und 1959 Wickis „Brücke“. Das Kino war damals weit flexibler, es gab keine langwierigen Förderprozesse und Gremien, sondern hemdsärmelige, zupackende Filmproduzenten, ein Starsystem, europäische Auslandsmärkte und noch kein Fernsehen, das Zuschauer abzog. „Dieses Kino ist lange tot, überall in Europa“, betont Claudia Dillmann. „Doch nur in der BRD wurde sein Tod als Triumph gefeiert.“

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Harald Brauns „Der gläserne Turm“ (1957) mit Lili Palmer (Foto: DIF)

Aber die Toten leben noch. Es gibt viele Entdeckungen zu machen. Das Buch regt dazu vielfach an. Dominik Graf, dessen großen Text „„Hunde, wollt ihr ewig leben?“ über „einige Männerbilder und ihre Darstellungsstile im westdeutschen Nachkriegsfilm“ wir nach gebotener Frist hier bei uns auf CrimeMag veröffentlichen werden, mailte uns: „Erster richtiger Überraschungs Hit des Jahres war gerade in Locarno Harald Brauns „Der gläserne Turm“ (1957) mit Lili Palmer und O.E.Hasse und Peter van Eyck. Sagenhafter deutscher Ehe-Noir, Psychoterror trifft auf modernistische Architektur in Westberlin. Vielleicht überhaupt der beste Film des Jahres bislang.“

Melodramen – „Damit das Opfer einen Sinn hat“

Auch Rudolf Worschech, verantwortlicher Redakteur von „epd-Film“, macht in seinem Text über die „Kameraarbeit in den 1950er Jahren“ auf etliche Werke neugierig, die man kaum zu sehen erwarten kann. Eigentlich aber trifft das auf so gut wie jeden Beitrag zu in diesem Lustmachbuch. Wann zuletzt habe ich so sehnsuchtsvoll in einem Filmbuch geblättert und gelesen, fragte ich mich beim Schreiben dieser Rezension immer wieder. Da nimmt Peter Ellenbruch sich den bundesdeutschen Kriminalfilm zwischen 1950 und 1963 vor, da blickt Hervé Dumont auf Robert Siodmak in der Bundesrepublik, da sieht Markus Stiglegger den deutschen Kriegsfilm „Aus den Gräbern, aus den Trümmern“ steigen. Da findet Jörg Gerle in den Naturfilmen „ein grünes Gewissen“, da beleuchtet Fritz Tauber den Heimatfilm aus heutigem Winkel. „Damit das Opfer einen Sinn hat“ erzählt Werner Sudendorf uns süffig vom Melodram, Fabian Tietke lüpft die Schlafmütze für den westdeutschen Animationsfilm. Miguel Marias, der frühere Direktor des Spanischen Filmarchivs, erblickt in „Ludwig II“ die Transluzenz des deutschen Kinos, HT Nuotio berichtet von Erfolgen deutscher Filme in Finnland, Chris Fujiwara spiegelt uns die junge Bundesrepublik Deutschland in amerikanischen und britischen Filmen und Marco Grossi findet die junge BRD im italienischen Kino definiert durch „Der Professor, der Tourist und die Sexbombe“. Ralf Schenk und Andreas Goldstein blicken „nach drüben“, behandeln deutsch-deutsche Koproduktionsversuche mitten im Kalten Krieg und die „Westfilme“ der DEFA, Filme, die im Westen Deutschlands spielten. Frank Wisbar, der große Unbekannte, wird von Fabian Schmidt porträtiert, Jürgen Dünnwald schreibt über „13 Minuten Filmgeschichte“ und die Zusammenarbeit von Peter Weiss und Christer Strömholm. Jennifer Lynde Barker hat sich den Avantgardisten Hans Fischerkoesen gewählt, Norbert Pfaffenbichler wendet sich Franz Schömbs zu, Elisabeth Streit den nicht realisierten Projekten von Peter Lorre und Bert Brecht. Besonders gefreut habe ich mich über Stefanie Plapperts Widmung „In memoriam Ronny Loewy, Kosmopolit und Filmwissenschaftler“. Zu Recht weist sie in ihrem Porträt von Victor Vicas auf Ronnys Arbeit im Frankfurter Filmmuseum hin. Mit der jetzigen Retrospektive setzt das DIF seine Pflege des deutschen Nachkriegskinos fort. Seit den 1980er Jahren sind in Frankfurt wichtige Ausstellungen und Publikationen entstanden, darunter „Zwischen Gestern und Morgen“ (1989) und „Abschied vom Gestern“ (1991/92), Monographien zum Produzenten Artur Brauner, dem Regisseur Kurt Hoffmann und den Schauspielern Curd Jürgens, Maria Schell und Klaus Kinski. Der Nachlass von Curd Jürgens wurde als virtuelle Ausstellung online zugänglich gemacht.

Von wegen langweilig – Zoff gab es genug

Eine Leerstelle im Buch sind Komödien und Schlagerfilme. Stefanie Mathilde Franks Beitrag über Remakes von Spielfilmen aus der Zwischenkriegszeit am Ende der 1950er Jahre macht das teilweise wett. Karin Baal, Karin Dor, Inge Egger, Brigitte Grothum, Hildegard Knef, Marianne Koch Hilde Krahl, Ilse Kubaschewski, Ruth Leuwerik, Barbara Rütting, Margit Saad, Elke Sommer, Nadja Tiller, , Ingrid van Bergen und Sonja Ziemann stehen bei Rainer Knepperges im Mittelpunkt von „Mamas Kino lebt!“

Die „Adenauer-Ära“ war alles andere als langweilig, sie war von der Auseinandersetzungen um große Themen geprägt: Westbindung, Blockdenken, Wiederbewaffnung , erbitterter Antikommunismus , Kalter Krieg, soziale Marktwirtschaft, Aussöhnung mit Frankreich, Europagedanken, Mitgliedschaft in der NATO, Friedensbemühungen, Verhandlungen mit Russland über die „Heimholung“ der letzten Deutschen aus sowjetischer Gefangenschaft, „Wiedergutmachung“ an Israel, alte Nazis an den Schaltstellen der bundesdeutschen Institutionen, Gewerkschaften und Mitbestimmung, Jugendkultur, Restauration, autoritärer Regierungsstil und das oh so freie Amerika.

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Frank Wisbars „Hunde, wollt ihr ewig leben?“ von 1959 (Foto: DIF)

Kriegsschuld und Kriegsverbrechen wurden auch im Kino verdrängt, das entsprach der damaligen Grundstimmung der Bevölkerung. Man muss sich vor Augen halten, dass der erste Auschwitz-Prozess erst im Dezember 1963 begann, 18 Jahre nach Kriegsende, und dass 40 Jahre nach Kriegsende erstmals ein deutscher Bundespräsident, es war  Richard von Weizäcker, im Jahr 1985 vom Kriegsende als einem „Tag der Befreiung“ gesprochen hat und man dabei im Bundestag eine Nadel hätte fallen hören können.

  • Doch es gab Ausnahmen. „Hunde, wollt ihr ewig leben“ von Frank Wisbar (1959) war ein fast dokumentarisch inszenierter Spielfilm über die Schlacht von Stalingrad, der die Sinnlosigkeit und Brutalität erfahrbar macht.
  • Die Spur führt nach Berlin“ (1952) Franz Cap gab einen authentischen Eindruck der Stadt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Er entstand an Originalschauplätzen wie dem Brandenburger Tor, dem Funkturm oder dem Bahnhof Zoo. Die Narben des Krieges sind deutlich sichtbar. Es entstand auch eine englischsprachige Fassung für den internationalen Markt, Titel „Adventure in Berlin“. Auch der Thriller  „Viele kamen vorbei“ (1955/56) von Peter Pewas thematisierte die Ausweglosigkeit der von den Alliierten verordneten Freiheit.
  • Locarno G.W. Pabst_Bekenntnis DIF

    Elisabeth Müller in G.W. Pabsts „Bekenntnis der Ina Kahr“

    Ein schonungsloses Drama mit dem patriarchalisch auftretenden „deutschen Mann“ der fünfziger Jahre im Visier war G.W. Pabsts „Das Bekenntnis der Ina Kahr“ (1954) mit Elisabeth Müller in der Hauptrolle. Ina Kahr steht vor Gericht, weil sie ihren Mann ermordet hat. Rückblenden zeigen, welche Ehehölle die Frau zu erdulden hatte.

  • Ein Leben im „goldenen Käfig“ für die Ehefrau eines herrschsüchtigen Wirtschaftswunder-Managers, das zeigt der von Dominik Graf (siehe weiter oben) gerühmte Nachkriegs-Noir „Der gläserne Turm“ (1957) von Harald Braun.
  • In „Schwarzer Kies“ (1961) von Helmut Käutner ist eine Militärflugbasis der US-Amerikaner im Hunsrück das Zentrum einer Geschichte von Korruption und Prostitution, Schwarzmarkt und Wirtschaftskriminalität.
  • Jugendkriminalität in West-Berlin  war das Thema von „Am Tag, als der Regen kam“ (1959). In den Hauptrollen Mario Adorf und die junge Elke Sommer, die später in Hollywood Karriere machte.
  • „Der Verlorene“ (1951) von und mit dem ehemaligen Brecht-Schauspielers Peter Lorre ist vielleicht der traurigste aller Nachkriegsfilme. Ein Mann zerbricht im Land der Mörder. Für meinen Geschmack hätte er im Buch mehr Raum verdient, aber Max Annas wird das hier bald bei CrimeMag bald innerhalb seiner Filmkolumne „On Dangerous Ground“ nachholen.
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Peter Lorre in seinem Film Noir „Der Verlorene“ (1951) – (Foto: DIF)

Das Buch ist aber längst nicht nur Retro. Wie Olaf Möller zutreffend konstatiert, ist auch das heutige Deutschland wieder damit beschäftigt, seinen Platz in der Welt zu finden, während Millionen von Flüchtlingen Schutz unter seinem Dach suchen. Deutschland hat das schon einmal geschafft, damals in der Zeit der „Adenauerfilme“, das spiegelte sich in ihnen, nicht in allen natürlich, wie das ja auch heute nicht der Fall ist. Aber es gab sie, solche Filme und solche Antworten. Opas Kino ist nicht tot. Man kann es – zunehmend auch auf DVD – und in der nun auf Reisen gehenden Retrospektive sehen. Oder ihm in diesem sehr empfehlenswerten, prall lebendigen Buch näherkommen.  Von wegen tot.

locarno Das_Brot_der_frühen_JahrePS. Nach der Premiere beim Festival del film Locarno jetzt im August 2016 geht die Retrospektive „Geliebt und verdrängt” auf internationale Tournee. Bisher sind folgende Stationen bestätigt: In der Schweiz die Cinémathèque suisse in Lausanne, das Kino Rex in Bern und das Filmpodium in Zürich. In Deutschland im Oktober/ November 2016 im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main, später im Zeughauskino in Berlin, im Filmmuseum Düsseldorf, im Metropolis Kino Hamburg und in der Caligari FilmBühne in Wiesbaden. In Portugal in der Cinemateca Portuguesa, in Italien beim Festival „I Mille Occhi“ in Triest und dann im Museo Nazionale del Cinema in Turin. Nach gegenwärtigem Stand endet die Reise 2017 in den USA, wo die Film Society of Lincoln Center in New York und die National Gallery of Art in Washington Stationen sind. Locarnos künstlerischer Festivalleiter Carlo Chatrian wertet die internationale Resonanz als „ein klares Zeichen für die Qualität unseres Angebots“.

PPS. Den Titel dieses Artikels habe ich mir  dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1962 entlehnt, der auf einer im Sommer 1955 entstandenen Erzählung Heinrich Bölls beruht. Regisseur Herbert Vesely, so sagt die  Geschichtsschreibung, begründete mit dieser Inszenierung einer unspektakulären Geschichte eines deutschen Durchschnittsbürgers, der es sich in der Bundesrepublik der späten Adenauer-Jahre behaglich eingerichtet hat und ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen glaubt, den Neuen Deutschen Film, war damit das kurzzeitige Flagschiff der Oberhausener Vatermörder. Olaf Möller weist in seinem Buch gerade anhand dieses Films nach, wie sehr die Protagonisten des Oberhausener Manifests mit Opas Kino – lange galt vulgo der Begriff „Altbranche“ – verbandelt und verbunden gewesen sind.

Alf Mayer

Claudia Dillmann/Olaf Möller (Hg.): Geliebt und verdrängt. Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963. Deutsches Filminstitut (DIF), Frankfurt 2016. Mit 270 Abbildungen aus den Archiven des Deutschen Filminstituts und anderen Archiven.416 Seiten, 24,80 Euro. (Es gibt auch eine englische Ausgabe.) Zum DIF-Shop hier.

Hinweis 1: Zu diesem Buch gibt es auch eine bestechend sachlich-schöne Rezension von Hans Helmut Prinzler, dem früheren Leiter der Retrospektive der Berlinale, Vorstand der Stiftung Deutsche Kinemathek und Direktor des Filmmuseums Berlin. Überhaupt sei hier seine Internetseite, auf der er regelmäßig Filmbücher bespricht, ausdrücklich empfohlen. Zu „Geliebt und vergessen“ schreibt dieser kenntnisreiche Filmhistoriker und Publizist abschliessend: „Es gehört zu den schönen Erfahrungen beim Umgang mit der Filmgeschichte, dass man manches aus zeitlichem Abstand anders sehen kann und sich auch nicht von einhelligen zeitgenössischen Verrissen beeinflussen lassen muss. Mein Respekt gilt den Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt für diese Publikation.“

Hinweis 2: Eine Abkehr von der Altbranche ganz ohne Vatermord – teils von ihm mitfanziert, aber auch mit riskiertem eigenen Geld – unternahm Anfang der sechziger Jahre die sogenannte Münchner Gruppe um Rudolf Thomé, Klaus Lemke, Max Zihlmann, Werner Enke und May Spils, der ersten deutschen Filmregisseurin „seit Leni Riefenstahl“, wie sie in dem Dokumentarfilm „Zeigen was man liebt“ mit einer Mischung aus Belustigung und Ekel anmerkt. CulturMag-Autor Frank Göhre ist einer der drei Regisseure dieser ohne jedes Förder- oder Fernsehgeld zustandegekommenen Dokumentation. Der Film hatte im Juni auf dem Münchner Filmfest Premiere und hat noch keinen Verleih,  zieht aber bereits durch die Kinos. (Eine Besprechung von mir im Frankfurter „strandgut“ hier.) Ruheanker und kompetenter Interviewpartner in dem äußerst lebendigen Film ist Olaf Möller, der derzeit wohl kundigste Filmfachmann in Sachen Filme der frühen Bundesrepublik.

Hinweis 3: CrimeMag-Autorin Sonja Hartl (siehe ihren text zur „Blue“-Trilogie von Eoin McNamee in dieser Ausgabe) hat die Retrospektive in Locaro gesehen und zusammen mit ihren Kolleginnen von KinoZeit.de in vier Teilen davon berichtet (am Ende dieses Teil finden sich die Links zu den anderen):

Hinweis 4: In 13 Kurzfilmen erzählt Kurator und Herausgeber Olaf Möller „Wie es wurde, was es ist: Die Geburt des deutschen Nachkriegskinos“:

 

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