Die wachsende Vielfalt politischer Kriminalromane verändert die Buchlandschaft. Der einstigen Schmuddelecke ist das Genre Krimi längst entwachsen, das wissen nicht nur Krimiexpert/innen. Doch jetzt spricht Kriminalliteratur extrem unterschiedliche Zielgruppen an, und wer gut beraten will, muss unterscheiden können. Die altvertrauten Kategorien Thriller, Whodunnit, Rätselkrimi schaffen es nicht mehr, die Möglichkeiten des Genres zu erfassen. Sie sagen etwas über Erzählmuster aus, aber gute Kriminalliteratur unterwirft sich solchen Mustern oft gar nicht. Sie spielt damit, verweigert Schematisches, zeigt sich als ernst gemeinte Gegenwarts-Prosa, grenzüberschreitend, die Realität kommentierend. Die Genre-Zugehörigkeit liegt in der treibenden Handlung, den Themen Gewalt und Verbrechen, der Betonung von Konflikten und Widersprüchen unserer Zeit. Das ist keine harmlose Unterhaltung, es ist politische Kultur. Und doch ist es Krimi. Von Else Laudan.
Anspruchsvolle politische Krimis erleben eine Blütezeit. Was bedeutet das kulturell und genrehistorisch?
Wir erleben seit einigen Jahren eine Konjunktur des sozialkritischen Kriminalromans, des Roman noir, des politischen Gesellschaftsromans mit Spannungsaspekten. Das beeinflusst die Zusammensetzung der Krimi-Zielgruppe stark. Leserschichten, die früher Krimis verschmähten, entwickeln immer stärkeres Interesse am Genre. Gerade in gebildeten Kreisen setzt sich die Sichtweise durch, dass Noirs und Politkrimis die Gesellschaftsromane unserer Zeit sind: Sie thematisieren Konflikte und Missstände, loten die Dimension des Verbrechens auf höherer Ebene aus und bilden soziale Realität ab. Diese Wahrhaftigkeit und Brisanz des Genres zieht starke Schriftsteller/innen an, die wiederum neue Leser/innen anziehen.
Historisch steht diese „gehobene“ politische Kriminalliteratur in der Tradition der amerikanischen Hardboiled-Autoren (Hammett, Chandler, Macdonald & Co) der 1920er, 30er und 40er Jahre. »Raymond Chandlers Forderung, Morde von realen Verbrechern unter wirklichen Verhältnissen zu beschreiben, war die Begleitmusik zu einer Innovation des Genres.« (Tobias Gohlis) Mit Kriminalliteraten wie Himes, Thomas, Ellroy, Willeford, Thompson, Mosley, Paretsky und vielen anderen lässt sich die Reihe zeitlos guter US-Hardboiled-Autoren bis heute weiterverfolgen. Was sie von der staatstragend-gemütlichen Abteilung des Krimigenres unterscheidet, drückte mal ein Feuilletonist so aus: »Philip Marlowe, anstelle von Hercule Poirot in Christies Orientexpress versetzt, würde keinen Mörder finden, sondern eine verbrecherische, halb Mitteleuropa umfassende Fahrplanstruktur« (J. Jessen in der Zeit). Hardboiled und Noir sind Absagen an das harmlosere Krimimuster der wiederherstellbaren Ordnung: Die Verbrechen, die untersucht werden, sind keine Störung der gesellschaftlichen Ordnung, sie sind Bestandteil oder Folge dieser Ordnung. Kurz gesagt: Es geht nicht um einen Mord, sondern um die Wahrheit. Ob als zeitgenössische literarische Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, als historische Spurensuche oder präzises Sittenbild, das vielgestaltige Genre kann dies alles leisten.
Gute Kriminalliteratur ist der soziale Realismus des 21. Jahrhunderts
Es ist keine Modeerscheinung und kein Zufall, dass explizit politische und literarisch kühne Genre-Titel immer mehr gelesen werden. Dafür gibt es plausible Gründe. Zum einen das verbesserte Prestige des Genres, auch eine Folge gezielter verlegerischer Anstrengungen: Die Krimi-Verlagslandschaft hat in den letzten Dekaden viel qualitatives Engagement erlebt. Früh hat sich Diogenes verdient gemacht, wo schon ab den 1990ern große Kriminalliteratur in erstmals anständiger, werktreuer Übersetzung herauskam (Rowohlt zog dann nach). Thomas Wörtche zeigte im Unionsverlag mit der Reihe UT Metro die Internationalität des Genres, mit Anspruch und Niveau. In den letzten zehn Jahren haben vor allem unabhängige Verlage das Feld gepflügt, auch wenn die Konzerne gern nachziehen: Unions macht weiter feine Internationale, Ariadne feiert Erfolge mit hochpolitischen Schriftstellerinnen, Independent-Verlage wie Alexander, Kunstmann, Pendragon, Liebeskind, Pulpmaster, Polar und viele weitere kümmern sich mit Hingabe und Qualitätsanspruch ums Genre, bringen große Klassiker neu heraus und pflegen die Innovation. Dass Suhrkamp eine Krimireihe startete, ist schon ein Indiz; dass dort kürzlich Thomas Wörtche als Herausgeber eingesetzt wurde, erst recht.
Dazu passend hat sich die Kritik neu aufgestellt. Kriminal- und Noir-Literatur leuchten heute im Feuilleton, viele Literaturkritiker schaffen in ihren Wirkungskreisen Raum für anspruchsvolle Krimikritik. Der Trend wurde verstärkt durch die Vernetzung namhafter Rezensent/innen in der Jury der KrimiZEIT-Bestenliste, die das Interesse an hochkarätigen Krimis befördert und auch dem Buchhandel ein gutes Instrument an die Hand gibt. Die meisten guten Literaturkritiker schätzen den Realismus politischer Spannungsromane (nicht aber Psycho- oder Metzelthriller und Regiokrimis). Mehr und mehr große Medien pflegen eine ambitionierte Krimikritik, im Feuilleton und online. Bezeichnenderweise finden sich in Krimirezensionen immer häufiger – und zwar im Sinne eines Gütesiegels – Begriffe wie „Sozialstudie“ und „gesellschaftliche Wahrheiten“.
Naturgemäß lockt das „gehobene“ Genre seit jeher auch glänzende Stilist/innen an, starke Literat/innen, die das Geheimnis im Gewöhnlichen aufspüren, präzise, packende Milieustudien schreiben, konzentrierte soziale Szenarien mit verblüffend lebendigen Figuren und langem Nachhall. Da gibt es neu zu entdeckende Klassiker wie Ross Thomas, Charyn, Ambler, Greene, Manchette, Dexter, Burke und andere sowie packende Gegenwartsliterat/innen wie Woodrell, Ortuño, Nixon, Disher, Ani, Kröger, Manotti, Gran, Hooper, Bruen, Kerrigan, Ming, Stroby, Victor und viele, viele mehr.
Und was tut sich beim Publikum?
Soziologisch gesehen rücken seit der Wirtschaftskrise die Leser/innen-Erwartungen immer stärker ins Politische. Dasselbe geschah in den 1930ern, und es geschieht auch jetzt. Man merkt es an Rezensionen und Bewertungen seriöser Kritiker, in Blogs und Social Media, bei Lesungen und Veranstaltungen. Die Kultur ums Genre ist in Bewegung. Überall lesen kluge Köpfe Genreliteratur und reden darüber. Menschen zitieren aus Krimis. Das literarische Leben wimmelt von politischen Spannungsromanen. Die Krise hat mit zunehmender Spürbarkeit die Menschen fühlen lassen, dass etwas dran ist an der Aussage, das Verbrechen gehe von der Macht bzw. vom Geld aus. Die Folge: Das Interesse breiter Literaturleserschaften richtet sich aufs anspruchsvolle Genre.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich nach wie vor eine große Masse von herkömmlichen Krimifans, die sich hungrig durch gemütliche Rätselkrimis, Regionalkrimis oder Nervenkitzelthriller schmökern. Ihnen bedeutet der neue Anspruch wenig: Sie lieben gerade die leichte Kost und haben keine Berührungsängste gegenüber „Trash“ (Schund), das Politische ist ihnen egal. Diese Leser/innen finden ihre Lektüre nicht nur in den Taschenbuchprogrammen großer Verlage, sondern – das müssen Buchhändler/innen wissen – auch ganz gezielt bei bestimmten unabhängigen Verlagen, die sich schwerpunktmäßig um deutschsprachige Autor/innen kümmern, zum Beispiel Grafit, Gmeiner, Emons und KBV. Der Bedarf an leichter Krimikost besteht also weiterhin. Es gibt noch ein Publikum für Nervenkitzelthriller und für den „Cozy“, den „gemütlichen“ Krimi, der mehr beruhigt als beunruhigt.
Das darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass eine andere Kategorie von Kriminalliteratur auf dem Vormarsch ist und dass diese ein neues, gesondert anzusprechendes Publikum mobilisiert. Die eingeführten Unterscheidungen (Thriller, Regio- oder Cozy-Krimi) erfassen diese Spaltung der Kriminalliteratur nicht. Sie wenden sich nicht an die wachsende Zielgruppe des nicht-schematischen, literarischen Krimis. Aber genau das wäre jetzt sinnvoll.
Braucht der Buchhandel eine neue Kategorie?
Als Gesellschaftsroman unserer Zeit kann der Krimi durchaus einen neuen Regalplatz beanspruchen. Nur wie bekommt man das griffig gefasst? Die Bezeichnung „gehoben“ mag verständlich sein, doch sie ist vage und elitär. Es geht ja nicht darum, Leser/innen abzuwerten, sondern darum, zu verstehen, was jemand im Genre sucht! Regionalkrimis, Rätselkrimis, schlicht gestrickte Thriller mit Gut und Böse, das alles lesen bestimmte Kund/innen gern. Doch das sind andere als die Kund/innen, die das Genre für den dunklen Realismus lieben. Ebenso wie es andere Autor/innen sind, die so etwas schreiben. Eine klare Kategorientrennung kann hier dem stationären Handel unterscheiden helfen und suchenden Kund/innen Frust ersparen.
Der kriminalliterarische soziale Realismus beruht nicht nur auf Spannung und Erzählkunst, sondern auf präziser Geschichtskenntnis und umfassender Recherche. »Die Wirklichkeit ist ein Krimi« – wie oft hat man diesen Satz schon gelesen? Ein anspruchsvoller Krimi macht soziale Realität greifbar, sinnlicher als Dokus und Reportagen. Der Kritiker Thomas Wörtche schrieb: »Wie der Kriminalroman mit Wirklichkeiten umgeht, ist ein Qualitätskriterium. So wie seine künstlerische Inszenierung ein Qualitätskriterium ist.« Illusionslose Wahrheiten in funkelnder Prosa: Das ist die zeitgemäße kritische Kriminalliteratur. Nennen wir es also Realismus-Krimis? Oder Kritische Krimis?
Diese neu belebte politische Genre-Tradition ist höchst international. Der französischsprachige Noir hat seine eigenen Ikonen (Manchette, Izzo, Daeninckx, Malet u. a.), und derzeit glänzende politische Autor/innen wie Manotti, Guez, Roux, Topin u.a. Ähnliches gilt für England, Irland, Schottland und für die skandinavischen Länder. Wo immer gute Verlage sich engagieren, wächst der Horizont. Politkrimis aus Südafrika, aus Kuba, Israel, Südamerika, aus dem arktischen, asiatischen und arabischen Raum machen von sich reden. Denn Schriftsteller/innen aus allen Teilen der Welt nutzen das Genre, um ihre Gesellschaft zu reflektieren oder zu sezieren, und finden dafür ein internationales Publikum. Ein guter Krimi kann im Kopf ein Fenster zur Welt aufstoßen: Mit magnetischem Spannungsbogen und starken Figuren führt er uns über den Tellerrand unseres Alltags und erlaubt Einblicke in fremde Wirklichkeit. Die auf Spannung und Mitfiebern ausgerichtete, stark personale Erzählperspektive verstärkt das Erlebnishafte, Lebensechte. Es ist wie eine Reise im Kopf, aber nicht als lustig-bunte Touristenunterhaltung, sondern wirklichkeitsnah und widersprüchlich. Das Genre ist jetzt enorm welthaltig. Wäre demnach Welt-Krimis ein gutes Etikett?
Genauer trifft es allerdings die mutigere Bezeichnung Politische Kriminalliteratur, denn die anspruchsvollen Krimis sind klar gesellschaftskritisch. Statt schematisch zu erzählen, bauen sie auf die Neugier und Intelligenz ihrer Leser/innen, zeigen das Verbrechen im Normalen, in Geschichte und Gegenwart, prekäre Realität in packender, kunstvoller, aber zugänglicher Form. Diese Art Krimi ist ein erstklassiges literarisches Medium politischer Bildung und kann mühelos zur schulischen Oberstufenlektüre avancieren. Sie ist Spiegel unserer Gesellschaft oder »Fenster zur Welt«. Über die Machenschaften in Wirtschaft und Politik, über Gier und ihre Auswirkungen auf Menschenleben erfährt man aus solchen Krimis oft mehr Wahres, mehr Hintergrund und mehr Konkretes als aus den Nachrichten. Es ist eine beeindruckende Blüte, die dem Genre besonders in Zeiten der Krise wächst. Tobias Gohlis schrieb 2011: »Erschütternde, bewegende Kriminalliteratur entsteht durch einen neuen Blick auf die verborgene, meist verdrängte und geleugnete Welt des Verbrechens«, und: »Gute Kriminalliteratur erfüllte niemals nur ein Schema, sie wuchs mit ihrem Thema, dem Verbrechen.«
Ein Regal fürs politische Genre
Kürzlich notierte die schottische Bestsellerautorin Val McDermid im Observer: »Der Kriminalroman ist zurzeit links, er kritisiert die bestehenden Verhältnisse, manchmal ganz offen, manchmal subtil. Häufig verleiht er Figuren eine Stimme, die in der Welt nicht behaglich eingerichtet, nicht gut aufgehoben sind. Wenn Menschen alles Vertrauen in die Politiker verlieren, suchen sie es anderswo. Vielleicht vertrauen sie uns Schriftsteller/innen, weil sie darauf bauen, dass wir – eingewoben in erfundene Geschichten – die Wahrheit sagen, und womöglich werden wir darum auf eine Art gehört und gelesen, wie wir es kaum je zuvor erlebt haben.«
Ob urban oder Country, Europa oder Übersee: Wir sehen seit Jahren, wie die Leserschaft politischer Krimis ständig wächst. Ambitionierte Buchhandlungen tun gut daran, diesem Bedürfnis einen prominenten Regalplatz zu verschaffen. Weil so ein Regal kritisch Lesende erfreut und das Vertrauen in den Standort Buchhandel wirkungsvoll erneuert – und zwar speziell bei dem Publikum, das diesen Standort kulturell erhalten will, statt nur noch per Mausklick einzukaufen!
Diesen Indie-affinen Genre-Leser/innen etwas zu bieten lohnt sich. Sie werden nämlich immer mehr. Der politische Kriminalroman erreicht sowohl ein problembewusstes jüngeres Publikum als auch Weltliteratur-Leseratten aller Generationen. Er fasziniert Menschen mit Anspruch und weitem Horizont. Das sind die dankbarsten Zielgruppen der Zukunft. Und die Independent-Verlage sorgen mit engagierten Autor/innen und Übersetzer/innen für den innovativen, qualitätsbewussten Nachschub.
Else Laudan, Verlegerin
Dieser Text ist zuerst in Print im Branchenmagazin „Buchmarkt“ erschienen. Wir fanden, er hat über die Branche hinaus Öffentlichkeit verdient.
In der Branche hoch angesehen, zeichnet Else Laudan im Argument Verlag + Ariadne, Hamburg, seit 1988 für Krimininalliteratur verantwortlich. Ein Porträt von ihr hier.
Orientierung über wichtige Neuerscheinungen bieten z.B.:
Print: KrimiZEIT-Bestenliste
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