Geschrieben am 15. Februar 2014 von für Bücher, Crimemag

Dennis Lehane: In der Nacht

Dennis_Lehane_In der NachtNoir, das ist Wissen um das, was man verliert

– Alf Mayer über Dennis Lehane anlässlich seiner Gangster-Saga „In der Nacht“.

Es ist sein Gangsterbuch, nach sechs Romanen mit dem Privatdetektivpaar Patrick Kenzie & Angela Gennaro, den stand-alones „Mystic River“ und „Shutter Island“ sowie dem großen historischen Boston-Panorama „Im Aufruhr jener Tage“. Das von Sky Nonhoff übersetzte „In der Nacht“ ist Teil zwei einer auf mehrere Bände angelegten historischen Familiensaga der irischstämmigen Coughlins aus Boston. Der Patriarch ist der zweithöchste Polizist in der Stadt, die Zeit das Amerika zwischen den beiden Weltkriegen, die drei Söhne verschiedener, wie sie nicht sein könnten.

Mit Danny, dem Ältesten führte Dennis Lehane „Im Aufruhr jener Tage“ (The Given Day) in die Jahre 1918 und 1919, zu Polizeistreik und Anarchisten, antikommunistischer Hysterie, sozialen Spannungen und grausamen Arbeitsbedingungen, Arbeiteraufständen, zu Wirtschaftskrise, Spanischer Grippe, Rassenunruhen, Lynchings. Die Hauptfiguren waren der aus Alf Meyers Blutige Ernte_Noir_The given dayTulsa geflohene Schwarze Luther Laurence und der Polizist Aiden „Danny“ Coughlin, der seinem Vater nacheifert, einem angesehenen Polizeiinspektor in Boston, und sich dafür als Undercover-Agent Finger und Seele verbrennt. Ein breit angelegtes Gesellschaftskaleidoskop (760 Seiten, da muss gekürzt worden sein in der deutschen Ausgabe, hatte das Original schon 704 dicht bedruckte) – ein Es war einmal in Amerika. „World Gone By“, der dritte Band der Saga, wird im August 2014 erscheinen.

Nun ist mit „In der Nacht“ der jüngste Coughlin-Bruder dran, Joe, der mit 20 ein Outlaw werden will, kein Gangster, darauf bis zum Ende beharrend. Lehane schreibt hier ökonomisch, manchmal geradezu kondensiert und leicht distanziert – eine Kinoperspektive. (Diese Einflüsse gibt es tatsächlich, zu Lehanes Filmaffinitäten weiter unten.) „I just wanted to write a gangster novel“, sagt Lehane. „As for the larger canvas, I like the idea of looking at the 20th century through one or two families, so I’m not sure it is a trilogy. Could be a decalogue. I have no idea.“
„In der Nacht“ hat in der Originalausgabe 402 Seiten, in der Übersetzung im Diogenes-Hardcover-Format sind es 584. Ja, Diogenes. Lehane ist nun angekommen im Verlag von Dashiell Hammett (den er für Gottvater hält), von Raymond Chandler,

F. Scott Fitzgerald, Ford Maddox Ford, Eric Ambler, Simenon und Ross Macdonald. Lehane liest im März in Köln, Zürich, Berlin und München, ein Anlass, wieder in seine Bücher zu schauen, darunter unbedingt alle sechs Abenteuer von Patrick Kenzie und Angela Gennaro.

Die Füße im Zementblock, das im ersten Satz

Mit seinen Füßen in einem Zementblock, zwölf bewaffnete Kerle auf einem Boot um ihn herum, auf die richtige Stelle

Dashiell Hammett

Dashiell Hammett

wartend, um ihn über Bord zu werfen und im Golf von Mexiko zu versenken, treffen wir Joe Coughlin im ersten Absatz von „In der Nacht“ an. Ein starkes Bild. Filmisch. Als Kinogänger wissen wir: Jetzt kommt eine Rückblende. Lehane, als Erzähler ein wagemutiger und immer würfelbereiter Virtuose, öffnet gleich eine doppelte. Eine Gangster- und eine Liebesgeschichte warten auf uns, Reflektionen über das Gewerbe inklusive.

Joe ist einer Frau begegnet, die ihn letztlich auf dieses Boot gebracht hat, mit dem, so viel sei verraten, seine Reise und seine Leiden längst nicht am Ende sind. Sie hieß Emma Gould, er war mit ein paar Kumpels dabei, die Spielhölle eines Gangsters in South Boston auszurauben, als sie sich in die Augen schauten. Und er ihr als Maskierter eine Socke („brandneu … unbenutzt … fünfzig Prozent Seide, Ehrenwort“) in den Mund stopfte. Damals im Jahr 1926 war er ein Springinsfeld, ein Nichtsnutz, der jüngste Sohn eines Polizisten, auf dem besten mutwilligen Weg, ein Outlaw zu werden. „Kein Gangster, ein Gesetzloser“, darauf legt Joe auch später noch wert. Eine Affäre wird daraus, allen Gefahren zum Trotz, denn die quecksilbrige Emma ist mit dem gefährlichsten Gangster Bostons liiert. Joe wird, auch um ihr zu imponieren, immer wagemutiger, bis der Vater ihn greifen und zusammenschlagen, mit einer vergleichsweise milden Strafe ins Gefängnis bringen lässt. Dort geht die Karriere erst richtig los.

Als der Vater seinen Sohn ins Gefängnis bringt, heißt es: „There were too many prisoners and too few guards for the prison to run as anything but that it was – a dumping ground, and then a proving ground, for animals. If you went in a man, you left a beast. If you went in an animal, you honed yout skills.“ Die Übersetzung: „Es gab zu viele Gefangene und zu wenig Wärter, um aus dem Gefängnis etwas anderes zu machen als es tatsächlich war – eine Müllhalde und nicht zuletzt eine Brutstätte für Ungeheuer. Wer diesen Ort als Mensch betrat, verließ ihn als Bestie. Wer ihn als Bestie betrat, konnte das Tier in sich erst so richtig herauslassen.“ (Lehane wurde von Sony beauftragt, das Buch für das Hollywood-Remake des französischen Gefängnis-Thrillers „Un prohetè“ zu schreiben.)

Im Gefängnis findet Joe seinen Mentor, einen an Machiavelli geschulten Gangsterboss, draußen dann eine weite neue wilde Welt. Es ist die Ära der amerikanischen Prohibition (1919 bis 1933), in die Dennis Lehane uns transportiert, in der Saubermänner und –frauen den Alkoholgenuss verboten und so erst recht dem Verbrechen und dem großen Geschäftemachen Auftrieb gaben. Da sind wir mittendrin in einer packend erzählten, großen Geschichte, in der im Namen des Geldes viel Blut und manche Träne vergossen wird. Der Stoff, aus dem die Gangster-Sagas sind. Die Rückseite des Dollars, die dunkle Seite der Wirtschaft. Lehane führt uns von Boston nach Florida, in die Stadt Ybor und nach Kuba selbst. Joe Coughlin vergleicht gegen Ende des Romans sein Streben mit dem der USA, eben beständig den eigenen Einflussbereich zu erweitern. Seite 575: „Gewiss, Amerika exportierte sein Wohlwollen gern mit vorgehaltener Waffe… Und hatten sie in Ybor nicht dasselbe getan? Sie hatten mit Blutgeld Krankenhäuser gebaut, mit ihren Gewinnen aus dem Rumgeschäft Frauen und Kinder von der Straße geholt. Seit Anbeginn der Zeit waren gute Taten mit schmutzigem Geld erkauft worden.“

Foto Gaby Gerster/ © Diogenes Verlag

Foto Gaby Gerster/ © Diogenes Verlag

Ein Gangster mit Skrupeln – und ein katholischer Autor

Das Sympathische an Joe sind seine Skrupel, ist sein Beharren auf so etwas wie Anstand, ist seine Fähigkeit zur Liebe. Lehane zeigt, was Liebe in jungen Jahren und im Alter bedeutet, was es ausmacht, eine Verpflichtung für ein größeres soziales Gefüge zu haben, sei es für ein Gangsterimperium. Mit Joe Coughlin erforscht Lehane, wie Zeit und Familie die Prioritäten eines Mannes verändern. Autobiografische Züge mögen da eingeflossen sein. Lehane selbst teilt sich seine Zeit zwischen Massachusetts und Florida, wo er jedes Frühjahr an seiner früheren Hochschule, dem Eckerd College in St. Petersburg, über Schreiben lehrt. Ein Großteil von „In der Nacht“ spielt in der untertunnelten Küstenstadt Ybor nahe Tampa, „einem Mini-New Orleans“ wie Lehane sagt, mit heute noch wunderbar erhaltenen Häusern, mit alten Zigarrenfabriken, Palmen und einer kubanisch-spanisch-italienischen Bevölkerung, damals das nationale Drogenzentrum. Lehane: „Tampa was the narcotics capital of America in the ’20s, with a thriving trade in rum and illegal immigrants. But no writers were looking at Tampa—and it’s such a romantic, sexy place. I’d loved Ybor since I went to college there in the eighties.“ Das literarische Denkmal, das er Ybor setzt, wurde 2013 mit der Goldmedaille des „Florida Book Award“ ausgezeichnet, gleichzeitig gewann er den „Edgar“ als bester Kriminalroman des Jahres.

Am Beginn des Buches ist Joe ein junger Springsinfeld. Er will einen Mythos leben und glaubt, dass er unbeschadet durchkommt. „He’s living with a little bit of a myth“, meint Lehane. „He thinks he can navigate these waters and remain an outlaw, without becoming a gangster. But as the book progresses, it becomes very clear that you cannot be an outlaw without becoming a gangster. Not in this trade, not in this time period.“

Als er im Gefägnis sitzt, will sein Bruder Danny ihn zu sich holen, zum Film. Das sei ehrliche Arbeit.
„Außerdem würdest du ein Leben führen, bei dem du nicht mehr dauernd über die Schultern sehen musst.“
„Darum geht’s nicht“, sagt Joe.
„Worum dann?“ Danny schien aufrichtig interessiert.
„Die Nacht. Sie hat ihre eigenen Gesetze.“
„Der Tag genauso.“
„Oh, natürlich“, sagte Joe. „Aber sie gefallen mir nicht:“
Wortlos musterten sie sich durch das Drahtgeflecht.
„Ich verstehe dich nicht“, sagte Danny schließlich:
„Das war mir klar“, erwiderte Joe. „Du glaubst eben an Gut und Böse. Ein Kredithai lässt jemandem die Beine brechen, weil er seine Schulden nicht bezahlt hat, ein Bankier sperrt jemand anderem das Konto, und du glaubst, da gäbe es einen Unterschied – als wäre der Banker ein Ehrenmann, der Kredithai aber ein Krimineller. Ich bin auf Seiten des Kredithais, weil er niemandem etwas vormacht, und wenn du mich fragst, sollte der Bankier genau dort sitzen, wo ich gerade mein Leben friste. Ich habe keine Lust, Steuern zu bezahlen, dem Boss beim Firmenpicknick eine Limonade zu holen und eine Lebensversicherung abzuschließen. Ich sehe keinen Sinn darin, immer älter und fetter zu werden …“

Das Attraktive am Mythos des Gangsters ist der bloßgelegte Kapitalismus – wie dies mit Zivilisten schief geht, demonstriert gerade ausgerechnet der erfahrene Scorseses wohl ziemlich unabsichtlich in „The Wolf of Wall Street“, dessen Erkenntnisgewinn bescheiden ist und dessen kathartische Wirkung gegen Null geht, ein leider ziemlich schales Unternehmen. „The attraction of the gangster myth is that it’s capitalism laid bare“, sagt Lehane. „We see these guys who are doing all the terrible things that we believe that a lot of corporate America are doing, but at least they’re upfront about it. And so, while that is maybe splitting hairs, I think there’s something slightly more admirable about Joe Coughlin than say, you know, the guys who rig the system so that they could lay waste, not only to this country but to the globe back in 2008.“

Joe Coughlin freilich – „You‘re an outlaw, a bandit in a suit“ – bekommt seine Rechnung präsentiert. Lehane hat seine eingebauten Sicherungsschranken, das Gangsterum allzu sehr zu glorifizieren: „I was raised far too Catholic to think I’m going to write a gangster book in which the gangster gets out scot-free … so I knew the book was heading down that path. I also knew that it was going to be about the love of genre, not necessarily the love of gangsters.“
Man lernt durch den Schmerz, heißt es einmal in „The Given Day“, wo der Diakon Broscious meint: „The nature of learning, my brother? Is pain.“ Unsere Erfahrungen, wußte der Krimiliebhaber Brecht, machen wir in katastrophischer Form.

Lehane und Film – eine love story

Alf Meyers Blutige Ernte_Noir_shutter islandDer 1966 im Bostoner Stadtbezirk Dorchester in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Lehane gehört zweifelsfrei zur Riege der besten Kriminalautoren der Welt, zugleich gilt er mittlerweile als einer der heißesten Autoren in Hollywood. Drei seiner Romane kamen bisher auf die Leinwand. Clint Eastwoods Verfilmung von „Mystic River“ erhielt mehrere Oscars, Martin Scorsese führte Regie bei „Shutter Island“, Ben Afflecks „Gone Baby Gone“ war eine auf den i-Punkt genaue Verfilmung des gleichnamigen Romans. Affleck wird auch bei „In der Nacht“ Regie führen, Leonardo di Caprio will Joe sein Gesicht geben. Im September 2014 kommt „The Drop“ in die Kinos, Lehanes eigene Adaption seiner Kurzgeschichte „Animal Rescue” (enthalten in der von ihm herausgebenen Storysammlung „boston noir“): „A crime-drama centered around a lost pit bull, a wannabe scam artist, and a killing.“ Tom Hardy und Noomi Rapace standen vor der Kamera, für James Gandolfini (hier sein Nachruf) war es ein letzter Filmauftritt als Mafiaboss, Regie führte der Belgier Michaël R. Roskam, der 2011 mit dem exzessiven „Bullhead“ auffiel und für den Auslands-Oscar nominiert war.

Ebenfalls für DiCaprio kinoreif machte Lehane „The Deep Blue Good-by“ (dt. als: Tausend blaue Tränen / Abschied in Dunkelblau) von John D. MacDonald aus dem Jahr 1964, der Film um eine sehr beliebte Krimiserienfigur soll ganz simpel „Travis McGee“ heißen.

Clint Eastwood persönlich rief ihn wegen der Filmrechte von „Mystic River“ an, ein irgendwie lebensveränderndes Telefonat, der Film ist wirklich formidabel, der Roman freilich hat noch ein paar Schwingungen mehr. Was seine Geschichten denn für Filmemacher so anziehend mache, wurde Lehane einmal gefragt. Seine bescheidene Antwort: „I honestly don’t know. None of my stories reinvent the wheel; we’ve seen them before in some way, shape or form. The only thing I do notice is that I seem to write characters actors like to play. Scripts based on my books attract great actors; great actors attract other great actors. In that regard, I’ve been very fortunate.“

Film ist immer wieder Thema in Lehanes Büchern:
„Nobody hands me my guns and says run. Nobody“, zitiert Angie aus „The Magnificent Seven“ in Lehanes Erstlingsroman „a drink before the war“ vor einem Showdown und hat in dem Moment exakt das Lachen von James Coburn im Gesicht, ein Lachen, das Patrick schmerzhaft-süß seine Liebe spüren lässt. („At that moment, I think I knew what love was.“)

„Who’s your favorite actor?“, wird Patrick in „Prayers for Rain“ von einem Mann gefragt, der im Rollstuhl sitzt.
„Current or old-time?“
„Current.“
„Denzel“, I said. „You?“
„I have to say Kevin Spacey.“
Und weiter: „Joan Allen.“
„Sigourney. With or without automatic weapon.“
Dann kommen die Alten: „Lancaster. Mitchum. Ava Gardner. Gene Tierney.“
„It’s true what they say about good movies, though.“
„What do they say?“
„The transport you… Good movies, man, they give you another life. A whole other future for a while.“
„For two hours“, I said.
„Yeah.“ He chuckled again.

„Jerome Miller“ ist Bubbas (unten mehr zu ihm) favorisierter Alias. Es ist der Name von Bo Hopkins in Peckinpahs „KillerAlf Meyers Blutige Ernte_Noir_killer elite Elite“, ein Film von 1975, „den Bubba an die elftausend Mal gesehen hat und freihändig jede Stelle zitieren kann“.
„I hate John Woo movies“, sagt Patrick in „Gone, Baby. Gone“, von einer Pistole bedroht und den anderen mit einer Pistole im Schach haltend.
„Me, too“, sagt der andere. „I thought I was the only one.“
I shook my head slightly. „Warmed-over Peckingpah with none oft he emotional subtext.“
„What’re you, a film critic?“
Der Filmaustausch geht weiter. „I like chick movies“, gesteht der andere, „you toss Out of Africa or All about Eve in the VCR, I’m there, man.“ Sie senken die Waffen …

Immer wieder Reminiszenzen an Filme, so in der Unterhaltung mit einem russischen Gangsterboss, auch in „Moonlight Mile“ (2010):
„You got Blu-Ray?“
„Huh?“
„You got Blu-Ray player?“
„No“
„Oh, man, you crazy. Pavel, tell him.“
Pavel said, „You not watching movies unless you watch the Blu-Ray. It’s the pixels. Ten-eighty dpi, Dolby True HD sound? Change your life, man.“

Als Cowboy aufgetakelt kommt Danny „In der Nacht“ seinen Bruder Joe im Gefängnis besuchen. Weil ich das Wort „Streifen“ für Film immer schon nicht leiden konnte und es für einen von Filmfeinden ersonnenen Begriff halte, hier ein Vergleich von (ansonsten geschmeidig-cooler) Übersetzung und Original:

„Bis vor kurzem haben Nora und ich in New York gelebt. Fünf Jahre lang.“
„Und was habt ihr dort gemacht?“
„Streifen.“
„Streifen?“
„Filme. Kintopp, Kinofilme, na, Streifen eben.“
„Du bist jetzt beim Film?“
Danny nickte, nun offenbar ganz in seinem Element.“

„Me and Nora have been in New York the last few years.“
„Doing what?“
„Making shows.“
„Shows?“
„Movies. That’s what they call them there – shows. I mean, it’s a little confusing because a lotta people call plays show too. But anyway, yeah, movies, Joe. Flickers. Shows.“
„You work in movies?“
Danny nodded, animated now.

Gegen Ende von „In der Nacht“ sieht Joe zumindest den Namen seines Bruders wieder, in einem Kino. Im Abspann von „Ritt über den Höllenpass“ steht: „Drehbuch Auden Coughlin“. Warten wir also, was das dritte Coughlin-Buch für uns bereithalten wird: „World Gone By“ klingt eigentlich wie ein Filmtitel und würde zum untergegangen Studio-System passen.Alf Meyers Blutige Ernte_Noir_boardwalk empire
Zwischen seinen beiden historischen Boston-Romanen wurde Lehane als Consulting Producer und Writer/Editor für die vierte Staffel von „Boardwalk Empire“  verpflichtet, war besonders bei den Folgen „New York Sour“ und „Resignation“ involviert. Zur Fernsehserie „The Wire“, mit der Lehane gerne akkreditiert wird, muss man sagen, dass David Simon sie erfunden hat, es neben ihm 13 Autoren gab, darunter auch Geroge P. Pelecanos und Richard Price. Lehane, der keineswegs damit selbst allzu sehr angibt, hat drei der insgesamt 60 Episoden geschrieben: „Dead Soldiers“ (3.03.), „Refugees“ (4.04), „Clarifications“ (5.08). Über seine Arbeit für „The Wire“ sagt Lehane, dass er bei der Fernseharbeit viel über das Schreiben lernte, zu destillieren nämlich und zu strukturieren. „The novelist’s structure is unwieldy, and you don’t realise how much so until you try an epic. Without The Wire I might have produced a 900 page book“, sagte er über „The Given Day“. Für „In der Nacht“ hat er seine Werkzeuge noch einmal geschliffen und verfeinert. Destilliert ist eigentlich ein schönes Etikett, das man einem Roman über einen Gangster in der Prohibitionszeit anheften kann.

„Wir sind ihre mißbrauchten Kinder“: Lehanes Romane im Schnelldurchlauf

Gute 20 Jahre alt ist mittlerweile Lehanes Erstlingsroman „a drink before the war“, die Originalausgabe legt auf diese Schreibweise Wert. 1990 geschrieben und 1994 veröffentlicht, ist das immer noch ein Hammer-Buch, ein wirklich starker Auftritt. „Kauft zwei Exemplare. Eines zum Lesen und Geniessen, eines zum Sammeln. Denn ich wette, Lehane wird ein Name werden, mit dem man rechnen muss in den kommenden Jahren“, lautete der Blurb von James W. Hall. John Dufresne meinte: „It’s like watching Robert B. Parker and John Updike duke it out phrase by phrase on some steamy night ins Boston’s Combat Zone. Christ, Lehane writes beautiful sentences! His gritty and disturbing first novel is that rare thing – a tale of frenzied and reckless violence told with grace and intelligence.“

Alf Meyers Blutige Ernte_Noir_a drink before the warDer erste Absatz lautete: „My earliest memories involve fire. I watched Watts, Detroit, and Atlanta burn on the evening news, I saw oceans of mangroves and palm fronds smolder in napalm as Cronkite spoke of lateral disarmament and a war that had lost its reason… As I grew, so did the fires, until recently L.A. burned, and the child in me wonders what would happen to the fallout, if the ashes and smoke would drift northeast, settle here in Boston, contaminate the air…“
Im letzten Sommer dann, heißt es weiter, „kam der Hass – und wir gaben ihm viele Namen: Rassismus, Pädophilie, Gerechtigkeit, Selbstgerechtigkeit, aber all diese Worte waren nur Schleifen und Einwickelpapier für ein beschmutztes Geschenk, das keiner haben wollte. Menschen starben in diesem Sommer. Die meisten von ihnen unschuldig. Einige von ihnen schuldiger als andere. Und Menschen töteten letzten Sommer. Keiner von ihnen in Unschuld. Ich weiß es, ich war einer von ihnen. Ich schaute einen Revolverlauf entlang, schaute in Augen, die tollwütig waren von Furcht und Hass, und ich sah mich im Spiegel. Drückte den Abzug, um das Bild zu löschen.“

Am Ende ist ein Senator, der Kinder mißbrauchte, bloß gestellt, ein perverser Gangsterboss erschossen:
„One disgraced, one dead. One breathing, one dead. One white, one dead… L.A. burns, and so many other cities smolder, waiting for the hose that will flood gasoline over the coals, and we listen to politicians who fuel our hate and our narrow views and tell us it’s simply a matter of getting back to basics while they sit in their beachfront properties and listen to the surf so they won’t have to hear the screams of the drowning.“
Und dann der Satz: „They don’t respect us because we are their molested children. They fuck us morning, noon, and night… and we go to sleep, trading our bodies, our souls, for the comforting veneers of ‚civilization‘ and ‚security‘, the false idols of our twentieth-century wet dream.“

Beide zusammen erschiessen sie den Bösewicht, Angie sagt, sie denke, das war richtig so: „Some people, you either kill them or leave them be, because you’ll never change their minds.“ Sie reden länger darüber, machen sich klar: „We took care of Socia according to the laws of the jungle, and we dispatched Paulson in accordance with the laws of civilication.“ Angie sagt darauf: „Civilization seems to be something we chose when it fits our purpose.“

Warum Privatdetektiv sein?

Sein erster Roman, so sieht es Lehane in der Rückschau, handelte von einem Rassenkrieg, der stellvertretend für einen Klassenkrieg ausgefochten wurde. Ehe er zum Schriftsteller wurde hatte Lehane mit mißbrauchten Kindern gearbeitet, in seinen ersten Romanen wurde das zu einer Obsession, aus der er sich mit „Mystic River“ befreite. Die tragische Hauptfigur darin: „The Boy Who’d Escaped from Wolves and Grew Up“. Das Problem, das Andrew Vachss als Autor ziemlich erledigte, sieht Lehane so: „It’s tough, there’s a fine line between calling attention to it, and exploiting the issue for entertainment.“ Die Arbeit für „The Wire“ politisierte ihn auf neue Weise. „The Given Day“ behandelt den Rassenkrieg auf breiter Leinwand, die Feuermetapher aus dem Erstling scheint dort wieder auf, wenn James J. Storrow, ein über den Dingen stehendes Mitglied der Oberschicht, über den Polizeichef Edwin Curtis sagt: „Such men fiddle while cities burn…such men love ash.“

Alf Meyers Blutige Ernte_Noir_gonebaby gone„Gone, Baby. Gone“ (1998) beginnt mit dem lakonischen Satz: „Each day in this country, twenty-three hundred children are reported missing.“ Die erste Seite schließt: „Of these cases, three hundred children disappear every year and never return.“ In „Sacred“ (1997) fragen sich Kenzie und Gennaro: „We’re the richest, most advanced society in the history of civilisation and we can’t keep a kid from getting carved up in a bathtub by three freaks. Why?“ Eine große Empathie, ein Schmerz für gestörte oder zerstörte Elternhauser durchzieht nicht nur diesen Roman: „Raising a kid. It’s hard. It’s not like in the commercials.“
Patrick springt in diesem Buch von einem Steinbruch in die Tiefe, tat das schon als Kind. „I jumped for the same reason I became a private detective – because I hate knowing exactly what’s next.“
An anderer Stelle dort: „I’m a P.I. – I dunno, maybe I’m addicted to the great What Comes Next. Maybe I like tearing down facades. That doesn’t make me a good guy. It just makes me a guy who hates people who hide, pretend to be what they’re not.“
Die Welt, in Patrick Kenzies Erfahrung, ist wie Vegas: „You walk away a winner once or twice, but if you go to the table too often, roll the dice too much, the world will swat you into place and take your wallet, your future, or both.“
Elf Jahre ließ Lehane sein Ermittlerpaar ruhen, eher er 2010 mit „Moonlight Mile“ zu Patrick und Angie zurückkehrte, beide desillusionierter nun, keine Lover mehr, nur Partner.
„There’s an eighth continent now, Patrick. It’s accessed by a keyboard. You can paint the sky, rewrite the rules of travel, do whatever you want. No boundaries and no border wars because very few people even know how to find this continent. I do.“ So spricht im Alter von vier Jahren verschwundene, von Patrick und Angie in „Gone Baby Gone“ aufgespürte und dann wieder verschwundene Amanda McCready über das Internet. Patrick registriert in diesem Roman auch: „Four people just had been killed in front of me, and I felt nothing. Zip. That’s what twenty years of swimming in shit had cost me.“

„Sacred“ (1997) beginnt mit dem Satz: „A piece of advice: If you ever follow someone in my neighborhood, don’t wear pink.“
Auf Seite 256 zischt Patrick einer Entführerin zu, die ihm eine Pistole an die Eier hält: „I’ll kill you.“ Sie darauf: „That’s what all the boys say.“
In „Prayers for Rain“ (1999) wird im ersten Satz eine Frau folgendermaßen vorgestellt: „The first time I met Karen Nichols, she struck mea s the kind of woman who ironed her socks“, und es heißt weiter: „She read John Grisham novels, listened to soft rock, loved going to bridal showers, and had never seen a Spike Lee movie.“ Aber damit wir uns nicht falsch verstehen, Lehane schreibt mit die besten Frauen im Genre, nicht umsonst hat Andrea Fischer, die gestandene, kluge und pfiffige Ex-Gesundheitsministerin, viele Lehanes übersetzt. Hier noch einige Lehane-Sätze:
„He moves like he expected things to get out of his way.“
„ A good man who’d done a bad thing for a good reason“
„The only good thing Catholics love more than God is a short service.“
„He drove back to the city with a windshield grimed by salt and his own fear drying into his scalp.“
Oder: „Music speaks for the soul because words are too small“

Lehane, das sollte man keineswegs verkennen, hat viel Humor, das auf kaum einem Foto zu versteckende Spitzbübische transportiert sich auch in seine Romane.
Als Patrick in „Moonligt Mile“ eine neunzehnjährige Bedienung in einem Diner nach der Lokalzeitung fragt, sagt die: „Was?“
„A what?“
„A newspaper.“
Blank stare.
„A newspaper. It’s like a homepage without a scroll button.“
„We’re a restaurant.“

The world according to Bubba

Und dann ist da noch Bubba: „He was a born sergeant; next to him, John Wayne was a pussy“, wird er einmal beschrieben. Gary Philips äußerte kürzlich die Phantasie, einen Roman über Hawk schreiben zu wollen, den Sidekick von Robert B. Parkers Spencer. Lehanes Patrick und Angie haben Bubba, der lässt gleich bei seinem ersten Auftauchen auf Seite 125 in „a drink before the war“ vier Handgranaten für Patrick da, man könne ja nie wissen. Später wird er angetroffen, wie er aufmerksam „The Anarchist‘s Cookbook“ liest. Hier Lehanes erste Zeilen über ihn:
„… an absolute anachronism in these times – he hates everything and everybody except Angie and myself, but unlike most people of similar inclination, he doesn’t waste any time thinking about it. He doesn’t write letters to the editor or hate mail to the president, he doesn’t form groups or stage marches or consider his hate as anything other than a completely natural aspect of his world, like breathing or the shot glas. Bubba has all the self-awareness of a carburetor (einer Vergaserdüse, AM) and takes even less notice – unless they get in his way. He’s six feet four inches, 235 pounds of raw adrenaline and disassociated anger. And he’d shoot anyone who blinked at me the wrong way… The world according to Bubba is simple – if it aggravates you, stop it. By whatever means necessary.“

Alf Meyers Blutige Ernte_Noir_boston noirLehane und sein Boston

Auf den letzten Seiten von „Moonlight Mile“ (2010) kündigt Patrick Kenzie an, dass er seine Karriere als Privatdetektiv an den Nagel hängen und zurück an die Uni will, um Geschichte zu studieren. Auch Lehane hat das für sich irgendwie vor, auf gewisse Weise kann Boston es nämlich durchaus mit New York aufnehmen, die Geschichte seiner Polizei und die seiner Gangster inklusive. Das in Deutschland ohne besondere Aufmerksamkeit gebliebene Gerichtsverfahren gegen James J. „Whitey“ Bulger, für zwölf Jahre Amerikas meist gesuchten Verbrecher, ist da nur ein aktuelles Ausrufezeichen. Scorsese und sein Drehbuchautor William Monahan hatten ihre Gründe, das Remake der HongKong-Trilogie „Infernal Affairs“ in Boston anzusiedeln. Und wieder können wir spekulieren, warum Scorsese seinen längst verdienten Oscar ausgerechnet für das brutale Gangster-Epos „The Departed“ erhielt (mit einem übel-bösen Jack Nicholson) und Dennis Lehane seinen „Edgar“ für seinen ersten Gangsterroman, nämlich „In der Nacht“.
Alle Lehane-Romane bisher sind auch Boston-Romane. Im Arbeiterstadtteil Dorchester aufgewachsen, ist Lehane da spezifischer und auch härter als etwa Robert B. Parker oder Tess Gerritsen. Bewegend war, wie er sich nach dem Bombenanschlag auf den Boston Marathon äußerte, da sprach ein Mann der Zivilgesellschaft. Im Vorwort zum Sammelband „boston noir“ (2009, Akashic Books), für den er auch Stewart O’Nan gewann und Jim Fussili, benennt er George V. Higgins „The Friends of Eddie Coyle“ (hier unser Klassikercheck) als den ultimativen Boston-Roman und liefert gleichzeitig eine Boston-Definition von Noir:

„Eddie Coyle is a good example here because if there’s a more seminal noir novel of the last forty years, I don’t know of it. And it’s also the quintessential Boston novel. It captures the tribalism of the city, the fatalism of it, and the outsized humor of people who believe God likes a good joke, usually at your expense…“ Und weiter, die Veränderungen betreffend: „That’s the paradox of the new Boston – what’s lost has, in many cases, been taken: what’s left is what people can’t sell. Noir is a genre of loss, of men and women unable to roll with the changing times, so the changing times instead roll over them.“

Neben „Eddie Coyle“ benennt Lehane allüberall noch „The Last Hurrah“ und „The Edge of Sadness“, beide von Edwin O’Connor, der für „Sadness“ 1962 den Pulitzer-Preis erhielt, die Hauptfigur ein sich vom Alkohol entwöhnender katholischer Priester. Als ihm wichtgstes Non-fiction-Buch nennt er „Common Ground. A Turbulent Decade in the Lives of Three American Families” von J. Anthony Lukas aus dem Jahr 1985, das die Rassengeschichte dreier Bostoner Familien recherchiert.Alf Meyers Blutige Ernte_Noir_wild bunch
Da weiß einer vom Genre und liebt es, da hat einer seine Wurzeln, macht Literatur daraus. Move on, Dennis Lehane.

PS. Der größte Satz in einem amerikanischen Film? Für Lehane ist es William Holden als Pike Bishop in Peckingspahs The Wild Bunch , der vor dem letzten, ihnen allen den Tod bringenden Gefecht schlicht sagt: „Let’s go.“

Alf Mayer

Dennis Lehane: In der Nacht (Live By Night), aus dem Amerikanischen von Sky Nonhoff. Diogenes Verlag 2013. 586 Seiten, 22,90 Euro. Zur Webpräsenz des Autors. Verlagsinformationen zum Buch.

Die Bücher von Dennis Lehane

Die Patrick Kenzie und Angela Gennaro Serie:
Streng vertraulich (1994, A drink before the war)
Absender unbekannt (1996, Darkness, Take My Hand)
In tiefer Trauer (1997, Sacred)
Kein Kinderspiel (1998, Gone, Baby. Gone) (Deutscher Krimi-Preis)
Regenzauber (1999, Praying for Rain) (Deutscher Krimi-Preis)
Moonlight Mile (2010, dtsch. 2011)

Spur der Wölfe (2001, Mystic River) (Deutscher Krimi-Preis)
Shutter Island (2003)
Coronado (2006)
Im Aufruhr jener Tage (2008, The Given Day)
In der Nacht (2012, Live By Night)

Tags : , ,