Geschrieben am 22. März 2014 von für Bücher, Crimemag, Porträts / Interviews

David Peace: GB84

David Peace_GB84David Peace und die wundersame Trinität Fußball, Sozialismus und Christentum

– Die blutigen Konflikte während des jahrelangen Bergarbeiterstreiks zur Thatcher-Zeit, die David Peace im jetzt übersetzten „GB84“ beschreibt, liegen zwar schon dreißig Jahre zurück. Doch der Roman verdichtet die intensiven, makabren Szenen zum düsteren Gruselepos und einer beängstigenden Klassenkampfchronik, deren gravierende gesellschaftspolitische Veränderungen heute noch spürbar sind. Während seiner Lesereise vor der Leipziger Buchmesse sprach David Peace mit Peter Münder in Hamburg.

„Dieses Land befindet sich im Krieg, Mr. Dunford. Die Regierung und die Gewerkschaften, die Linken und die Rechten, die Reichen und die Armen. Dann haben wir noch die irischen Paddys, die Schwarzen, die eitlen Wichtigtuer und die Perversen, sogar die verdammten Frauen- sie alle wollen abgreifen, was sie kriegen können. Bald wird nichts mehr für den weißen Mann übrig sein, der arbeitet“.
Der Baulöwe Derek Box zum „Evening Post“- Lokalreporter Eddie Dunford in „1974“David Peace hat das wüste Treiben des Yorkshire Rippers im neorealistischen Brutalo-Stil im „Red Riding Quartet“ (David Peace bei CrimeMag) beschrieben und die deprimierenden Nachkriegsjahre im besiegten Tokio (siehe hier) als düstere apokalyptische Tristesse gezeigt, in denen sich kriminelle Kreaturen außerhalb akzeptierter gesellschaftlicher Normen tummeln.

Brian Clough (Wikimedia Commons)

Brian Clough (Wikimedia Commons)

Die Bergarbeiterstreiks von 1984, die zu beinah bürgerkriegsähnlichen, wilden Schlachten zwischen Kumpeln und Polizei eskalierten, hat er im 2004 veröffentlichten Roman „GB84“ als kriegerische Chronik und verstörendes Sittengemälde einer Post-Orwell’schen „Big Sister is watching you“-Periode inszeniert, in der sich kriminelle Machenschaften von Polizei, Geheimdienst und Special Branch-Sonderkommandos mit paranoiden Überwachungspraktiken und der Zerstörungswut aller Beteiligten vermischen. Und er hat sich zuletzt dem dramatischen Schauplatz zugewendet, der für Millionen Zuschauer weltweit das Zentrum des Universums darstellt: nämlich dem Fußballplatz.

Das Innenleben sowie die manischen Aktionen der beiden berühmten englischen Trainer Brian Clough (Leeds United) und Bill Shankly (FC Liverpool) hat der Autor aus Yorkshire in den beiden Romanen „The Damned United“ (2006) und „Red or Dead“ (2013) unter die Lupe genommen. Mit extremen, die meisten Leser wohl überfordernden Redundanzschleifen und autistisch anmutenden Aktionen des Wundertrainers aus Liverpool hat Peace, 47, im 700 Seiten starken Roman „Red or Dead“ zuletzt den auf perfektionistische Mannschaftsaufstellungen, Trainigsprozeduren und erfolgreiche taktische Rasenmanöver fixierten Bill Shankley als kafkaeske Grüblernatur porträtiert, für den Solidarität, Hilfsbereitschaft und Perfektionismus zum moralischen Leitfaden gehören. Der daher auch gnadenlos daran arbeitet, eigene Fehler auszumerzen.

Bill-Shankly-Statue (Wikimedia Commons/Stuart Frisby

Bill-Shankly-Statue (Wikimedia Commons/Stuart Frisby)

Monomanisch und obsessiv?

Ist das Monomanische und Obsessive seiner Figuren das übergreifende Leitmotiv des 47-jährigen, aus Yorkshire Stammenden, aber seit fast zwanzig Jahren mit der japanischen Ehefrau und zwei Kindern in Tokio lebenden Autors David Peace ?

„Als meine Freunde und Bekannten „Red or Dead“ lasen, hielten sie das Buch tatsächlich zuerst für meine Autobiografie“, erklärt Peace grinsend bei unserem Treffen in einem Hamburger Hotel. „Ich habe nämlich oft Probleme abzuschalten, es rotiert viel bei mir im Kopf, und Fußball gucken oder darüber zu schreiben ist für mich einfach das wirksamste Mittel, um zu entspannen.“ Sein Lieblingsverein ist immer noch der auch schon in „1974“ erwähnte Club Huddersfield, dessen Spiele er früher regelmäßig mit seinem Vater besuchte. „Aber mein Sohn ist jetzt großer Fan von ManU“, ergänzt Peace zerknirscht, weil er diese Neigung für ziemlich abartig hält. „Diese Kluft, die da unsere Familie trennt, ist leider ein Indiz dafür, wie sehr ich als Pädagoge versagt habe“, konstatiert er milde lächelnd. Keine Frage: Der sympathische Autor mit dem kahlen Schädel und der großen schwarzen Brille hat trotz seines ausgeprägten Faibles für düsterste Noir-Tristesse und tückische Konflikte einen herrlichen Sinn für Humor und für selbstironisches Understatement.

Red-or-Dead
Bibellektüre

Der „Mann fürs Grobe“ – jedenfalls auf dem literarischen Sektor – trägt keinen Schlagring, er ist auch nicht tätowiert. Was kaum bekannt sein dürfte: Er liest jeden Tag in der Bibel. Die in „GB84“ einmontierten Kapitelanfänge, die aus Monologen der beiden Kumpel Peter und Martin bestehen und mitten im Satz abbrechen, sind in jeweils zwei Spalten angeordnet – „genau wie in der Bibel, das habe ich so übernommen“. Peace ist zwar Mitglied der anglikanischen Kirche, er ist jedoch nicht auf dem großen Missionierungstrip. Auch wenn ihn der Verlust traditioneller Werte, für den er vor allem das Thatcher – System verantwortlich macht, schon seit der Wiederwahl der Eisernen Lady 1983 umtreibt. Ein Kernsatz, der ihre eiserne Ideologie wiedergibt, ist eine Sentenz, die Peace ziemlich entsetzt und mit beinah schmerzverzerrtem Gesicht zitiert: „Es gibt keine Gesellschaft, sondern nur Individuen“. Damit sei auch jede Form von sozialer Verantwortung oder Solidarität ausgeschlossen, meint der Autor.

Wer seine Bücher verstehen will, muss sich jedenfalls mit der wundersamen Trinität auseinandersetzen, die auch Bill Shankly zuletzt in „Red or Dead“ ansprach: nämlich mit Fußball, Sozialismus und Christentum. Der größenwahnsinnige, egomanische Leeds-Trainer Brian Clough, der nur an der eigenen Legendenbildung und seinem Image als Superstar interessiert war, ließ ja sogar den Schreibtisch und Sessel seines Vorgängers verbrennen, um damit seine Verachtung für diese „minderwertige“ Kreatur zu dokumentieren. Genau deshalb war dieser kickende Pseudo-Zarathrustra auch nur 44 Tage lang für den Verein tragbar gewesen.

Tokyo_year_ZeroZäsuren

Peace ist jedenfalls ein Autor, den das alltägliche Erbsenzähler-Kleinklein als literarischer Stoff überhaupt nicht interessiert. Er sieht immer die großen Zusammenhänge und historische Zäsuren: „Aber solche Großereignisse kann man eben nicht in nur einem Buch behandeln“, erklärt er. „Nach Thatchers Wiederwahl 1983 und dem großen Streik von 1984 war der radikale Wertewandel, diese primitive Gier und der geradezu asoziale hedonistische Exzess überall deutlich spürbar – aber diesen Umschwung konnte ich nur in einer Trilogie verarbeiten“. Daher schließt sich nun an „GB84“, „Red or Dead“ noch der nächste Band an, der „GB/DK“ (= decay = Verwesung) heißen soll“.

Auch die japanische Trilogie will der Vielschreiber noch in diesem Jahr beenden: „Jashumon“ („Tor der Häretiker“) soll sich an „Tokyo Year Zero“ und „Occupied City“ anschließen.

Peace war 1994 nach Tokio übergesiedelt, wo er Sprachlehrer für Englisch war. Er brauchte die kritische Distanz zur Heimatinsel, weil er den englischen Alltag als chaotischen Wahnsinn empfand, der ihn einfach nur paralysierte:

„Wenn ich damals die 18-Uhr-Nachrichten im TV sah, bekam ich eine unheimliche Wut angesichts dieser Zustände, in denen eine bornierte und grotesk-inkompetente Politkaste schalten und walten konnte, wie sie lustig war. Das war ein geradezu paralysierender Strudel, in dem ich mich befand. Der machte das Schreiben für mich einfach völlig unmöglich“.

David-Peace-1974So hatte er sich dann darauf eingerichtet, aus der großen Distanz in Japan zu schreiben. Für „GB84“ studierte er im Archiv der Tokioter Nationalbibilothek ein Jahr lang alle auf Microfiche abgespeicherten britischen Tageszeitungen und speziell die Streikberichte von 1984. Er las aber auch Zolas „Germinal“, die große USA – Trilogie von John Dos Passos und Dutzende anderer Werke mit direktem Bezug zum Arbeitsleben und zu sozialen Konflikten. Peace hat sein kleines Büro in der Nähe des Kaiserpalastes, in dem er die absolute Ruhe und die Routine seines Arbeitsalltags genießt, der schon um sieben Uhr beginnt. Er ist auch Dozent an der Uni, leitet Kurse über zeitgenössische Autoren der Weltliteratur und ist auch bei Literaturfestivals in Tokio als kompetenter Autor und aktiver Debattenteilnehmer ein gern gesehener Gast.

Seine Wut über unhaltbare englische Zustände, diese zwischen Leeds und Sheffield wabernde Korruption und Brutalität des Ripper-Quartetts, ist eigentlich auf jeder Seite spürbar und führt auch zu Übertreibungen oder merkwürdigen Assoziationen. Da parkt etwa der total verfrorene Eddie Dunford im vorweihnachtlichen Schneeregen in seinem schäbigen kleinen Vauxhall auf einem schäbigen Parkplatz „mit meinen bis zur Achselhöhle hochgestopften Bandagen und ich dachte an den Holocaust“, heißt es in „1974“. Leicht zerknirscht und selbstkritisch geht Peace auf solche Vorbehalte gegenüber seinem Frühwerk ein: „Ja, da war Einiges doch noch ziemlich unreif.“

David Peace in Hamburg (März 2014) Photo: P. Münder

David Peace in Hamburg (März 2014) Foto: P. Münder

Chaos und Brutalität

Mag sein, dass viele Leser das im Ripper-Quartett gezeigte Chaos und diese Brutalität eher in Wagadugu oder Kinshasa erwartet hätten und wohl auch im Hintergrund „The horror, the horror“ aus Joseph Conrads „Heart of Darkness“ murmeln hören. Aber der entsetzte, kritische und gegen unhaltbare Zustände protestierende Peace wollte mit dieser im Quartett gezeigten bedrückenden, chaotischen Vorhölle aus Yorkshire eben auch aufrütteln und die altvertraute Praxis der über alles Bedrückende und Unschickliche beflissen gedeckten Mäntelchen endlich Schluss machen.

Die blutige Gewaltorgie, aus der Sicht des jungen, meistens angetrunkenen Lokalreporters Eddie vor uns ausgebreitet, enthält ja nicht nur Passagen, in denen sich Provinz – Cops wie tobsüchtige Mafia – Killer aufführen. Der eher unbedarfte, aber ehrgeizige Eddie Dunford ist einerseits hilfloses Opfer, das sich herumschubsen, von Baulöwen einladen und zu windigen Manövern überreden lässt. Eddie greift ja schließlich zur großen Knarre und ballert die Bösewichter ins Nirwana. Er verliert sich auch in drastischen sexuellen Fantasien und gibt sich große Mühe, seinen brutalen Analverkehr mit einer wehrlosen Frau möglichst schockierend und detailliert wiederzugeben.

red-riding-trilogy-afmSozialkritischer Realismus

In „GB84“ überzeugt Peace mit einem drastischen, sozialkritischen Realismus, der sich zu einer beängstigenden Verdichtung hochschaukelt. Denn die als Kapitelanfänge eingeschobenen Monologe von Peter und Martin liefern uns direkte Einblicke in ihre Konflikte mit der Familie, sie beschreiben brutale Polizeischikanen, Verfolgungsjagden und Schlägereien, denen sie als Streikposten ausgesetzt sind. Die paranoide Grundstimmung ist ebenso glaubwürdig wie überwältigend, weil beide Gruppen Angst haben: Die streikenden Arbeiter nebst „King Arthur“ Scargill und Gewerkschaftern wie Terry Winters sowie die regierungstreue Gegenseite mit Polizisten, dem millionenschweren Juden Sweet und seinem Fahrer, Bodyguard und Mann für alle Fälle Neil Fontaine fürchten sich vor eingeschleusten Maulwürfen und dem Abhören ihrer Telefone.

Aber Peace hält sich nicht immer detailgetreu an historische Vorbilder oder Figuren, er hat fiktive Szenen fabriziert, um Situationen zu verdichten und er ergreift auch keine Partei, um seiner Empörung über bestimmte Machenschaften oder Zwischenfälle Ausdruck zu verleihen. Diese Protestgrundstimmung gegen Ausbeutung und soziales Elend ist von vornherein gegeben und muss nicht noch weiter aufgeladen werden. Aber neben den Aktivitäten beinharter Killer und Entführer hat Peace hier auch wieder verwischt-verhuschte Szenarios eingeblendet, die irrational wirken und nicht leicht zu erklären sind.

10_peace_quartet
Warum nennt er den millionenschweren Thatcher-Sympathisanten, der extrem dubiose und brutale Undercover-Aktionen gegen streikende Arbeiter finanziert, durchgehend einfach nur „The Jew“? Diese Figur soll bewusst holzschnittartig-klischeehaft angelegt sein und das Vorurteil vom schwerreichen, intriganten und berechnenden Juden bestätigen, meint Peace:

„In England wird diese Frage gar nicht gestellt, weil jeder das Juden-Klischee für absolut realistisch hält.“ Und dass sich ausgerechnet der abgebrühte Neil Fontaine am Ende von „GB84“ den Bauch aufschlitzt und im altbewährten Mishima-Stil Harakiri begeht, ist ja auch deswegen verblüffend, weil der skrupellose Fahrer, Bodyguard und Special Branch-Söldner eigentlich als rechte Hand des millionenschweren jüdischen Thatcher-Unterstützers Sweet nach der blutigen Niederschlagung der Streiks auf der Siegerstraße stand.

„Ja, das Ende ist vielleicht überraschend“, meint Peace, „für diese makabre Schlussszene habe ich mich von Gerhard Richters Serie ‚18. Oktober‘ mit seinen verwischten RAF-Bildern inspirieren lassen, auf denen die toten RAF-Leute ja liegend mit Kerzen gezeigt wurden. Dieser Schluss sollte einfach mein Tribut an Japan und an eine düstere japanische Tradition sein.“

David Peace ist ohne Zweifel einer der ganz großen Autoren unserer Zeit – aber eben auch einer der rätselhaftesten. Und das ist auch gut so – auch wenn manche Figuren und Szenen verstörend, irritierend und provozierend wirken. Und er hat ja noch so viel vor!

Peter Münder

David Peace: GB84 (GB84, 2004) . Roman. Deutsch von Peter Torberg. München: Liebeskind 2014. 536 Seite. 24,80 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

In seinem CulturBooks-Essay „Feldspiel und Weltspiel, Batter und Bowler: Über Baseball, Cricket und Literatur“ (CulturBooks Single, Oktober 2013) setzt sich Peter Münder mit den „nationaltypischen“ Sportarten Baseball und Cricket auseinander und geht auf die Sportromane von Chad Harbach („The Art of Fielding“) und Joseph O’Neill („Netherland“) ein, deren Hauptfiguren Baseball-, bzw. Cricket-Spieler sind.

Tags : ,