Geschrieben am 15. September 2016 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops – September 2016

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Bloody Chops – September 2016

Diesmal gehackt, verpackt und serviert von Joachim Feldmann (JF), John Harvey (JH), Alf Mayer (AM), Alexander Roth (AR), Thomas Wörtche (TW)

Über: Alan Carter, Claire-Louise Bennett, Arne Dahl, Michael Herzig, Evan Hunter, Henrik Lange, Iain Levison, Ben Sanders, Martin Specht, Walter Satterthwait, Gregor Weber.

Asphaltseele von Gregor WeberFrankfurt, Bahnhofsviertel, 4. Revier

(AM) Bei Krimis über Frankfurt bin ich empfindlich, habe zulange hier gelebt. Noch schlimmer wird es, wenn es sich um einen Cop-Thriller handelt und der Polizist, um den es geht, ausgerechnet das 4. Revier in der Gutleutstraße und das Bahnhofsviertel zu seinem Zuhause gemacht hat. Genau dort hat ein Freund gearbeitet hat: der leider viel zu früh verstorbene Fred Prase; manchen vielleicht noch erinnerlich mit seinem Buch „Feuerteich“ (1985), für das er im Bahnhofsviertel fotografierte und mit seinen Fotos und Texten neben Frank Göhre einer der ersten war, die sich „dem Milieu“ auf eine angenehm entmythologisierende, menschliche Weise näherten. Zudem war er ein richtig guter Polizist. Mit ihm unterwegs zu sein, das war mehr als lehrreich.
Nun also Ruben Rubeck. Siebenundvierzig, mieser Straßenbulle. Sieht aus wie siebenundfünfzig, fühlt sich manchmal wie siebenundachtzig. Schluckspecht, nach dem Kater ist vor dem Kater. Läuft in einem Ami-Parka herum „wie ein Typ in einer Krimiserie“, wird manchmal darauf angesprochen, aber das Ding ist einfach praktisch. Rubeck ist geschieden, anspruchs- und kinderlos und Kriminalkommissar, in seinem Alter ein lächerlich niedriger Dienstgrad. Geht ihm aber am Arsch vorbei.
Morgens um elf gerät er in eine Schießerei. „Kein Gebrüll. Da waren auf jeden Fall Typen zugange, die das nicht zum ersten Mal machten. Das war gut. Bei Schießereien gibt es nichts Schlimmeres als Anfänger.“ Auch Ruben drückt ab, hat einen Albaner aus Hamburg erschossen, wie sich herausstellt. Erst ist er über die Nachwirkungen beruhigt („Wenn man schießt und nicht mehr zittert, hat man ein Problem“), dann wird der Fall doch zu einem Problem – und zwar aus der Vergangenheit. Kosovo, UN Special Team Six, bei dem auch Sonderkräfte der Bundeswehr dabei waren. Rubeck und seine Freunde. Kursiv gesetzte Kapitel führen in diese Zeit zurück.
Um es kurz zu machen, da laufen ein paar Fäden wie Zündschnüre aufeinander zu – und auch Fred Prase würde vermutlich diesem Gregor Weber – der, ohne das gegen ihn zu verwenden, einmal ein „Tatort“-Kommissar war, ehe er ehrbar wurde – ein Bier ausgeben, weil der es furztrocken auf die Reihe kriegt, Klischees auf die Theke zu dotzen, dass sie Pirouetten drehen wie eine flirrende Münze. Guter Schnodderton reihum, viel Tempo und ein kleine witzige Eskapaden, etwa Rubeck vor dem Fernseher: Humphrey Bogart mal mit Revolver, mal mit Automatik, mal Spade und mal Marlowe in den alten Filmen, und eben was ein Waffenkenner da so sieht. Dazu richtig klasse Boxclub-Szenen, fetzig gut.
Den Antritt mit der „Sommer 1999“-Nummer hätte ich nicht unbedingt gebraucht, wäre lieber gleich ins Gutleut eingefallen. Dass der Kaffee im Palmengarten „echt Scheiße schmeckt“, ist hoffentlich eine veraltete Information, sonst hat Johnny Klinke in seinem feinen „Caféhaus Sießmayer“ (wie das Ding schon lange heißt, aber nicht benannt wird) wie auch im Gesellschaftshaus ein Problem. Auch ist mir natürlich aufgefallen, dass der Showdown aus Frankfurt hinaus ins halbimaginäre Taunus-Hinterland führt. Spätestens das schnelle Ende aber schreit dann: „Fortsetzung!“
Werden wir erhört? Die Prüfung für Ruben Rubeck kommt erst noch. Aus dieser Nummer hier kam er richtig gut raus. Deutsches Hardboiled, gut abgehangen.

Gregor Weber: Asphaltseele. Thriller. Heyne Hardcore, München 2016. 240 Seiten, Klappenbroschur, 14,99 Euro.

 

51yabyetcul-_sx299_bo1204203200_Dein Freund und Helfer

(TW) Es ist heiß in Perth, Western Australia. Idyllisch am Indischen Ozean gelegen, sind die Stadt und das ganze riesige Territorium ein El Dorado des Organisierten Verbrechens, ein „schmieriges kleines Reich von Räuberbaronen.“ Diese Feststellung trifft Sergeant Cato Kwong von der dortigen Polizei, der hier in der ihm gewidmeten Serie von Alan Carter seinen zweiten Auftritt hat: „Des Einen Freud“.

Das geht natürlich nur, wenn auch die Polizei Teil des Problems ist. Und so hat es der vom „Viehdezernat“ zurückversetzte  Kwong (siehe CM vom 6.6.2015) nicht nur mit der Hitze und unerfreulichen Seewespen und anderem Getier zu tun, sondern auch mit einem Bandenkrieg, einem üblen Serienmörder, einem netten kongolesischen Profikiller namens Dieudonné und vor allem mit Kollegen und Kolleginnen, von denen man grundsätzlich nie weiß, ob sie korrupt sind, wen sie decken, welche eigenen trüben Süppchen sie kochen, wer wen erpresst  und wer mit wem nicht nur metaphorisch im Bett liegt.

Die Polizeiführung und die Politik sind machiavellistische Weltmeister im Unter-den-Teppich-Kehren, Kategorien wie Legalität und Wahrheit sind Lachnummern. Polizeieinsätze geraten zur Farce oder gleich zur Katastrophe und besonders Cato bekommt es in diesem Buch voll ab: Man sticht ihm in den Bauch, er wird verprügelt, mit einer Nagelpistole bedroht und von missgünstigen Nachbarn angezeigt. Pleiten, Inkompetenz, Sabotage und permanentes Lügen durchziehen als blutrote Fäden das Buch.

Bis auf leicht überplottete Elemente ist Carters Buch eine großartige, grimmige Cop Novel, die sich ziemlich radikal und mit böser Komik der moralischen Korrosion einer hemmungslos gierigen Gesellschaft annimmt, die mit schöner Rhetorik jede Abscheulichkeit als systemische Notwendigkeit, als alternativlos tüncht, und wenn noch so viele Menschen dabei vor die Hunde gehen.  The world in a nutshell.

Die Hintergründe zu seinen Cato-Kwong-Romane und über Perth als Goldgrube für gierige Leute hat Alan Carter sehr eindrücklich in seinem Aufsatz in Tobias Gohlis/Thomas Wörtche, ed: Crime & Money geschildert.

Alan Carter: Des Einen Freud (Getting Warmer, 2013). Roman. Dt von Sabine Schulte. Hamburg: Nautilus 2016, 384 Seiten, € 19,90

 

cover-narco-wars-9783861539117Informationen in hoher Dosis

(AM) Ein echtes Reporter-Buch. Von einem Könner seines Fachs. Martin Specht ist vor Ort gewesen, das merkt man immer wieder. Er folgt dem Weg der Drogen von Kolumbien in die USA, von Afghanistan in den Nahen Osten und nach Europa. Immer wieder zieht er die Verbindungen zu uns, macht klar, warum das Thema uns alle angeht und wie sich im „War on Terror“ Schrägstrich „War on Drugs“ rechtsstaatliche Strafverfolgung und geheimdienstliche Operationen längst miteinander mischen, wie Drogenkriminalität und Terrorismus mit einander verschränkt sind. Die bisherigen Strategien zur Bewältigung des Problems taugen wenig, das machen seine Nahaufnahmen klar.

Er hat auf beiden Seiten und auf mehreren Kontinenten recherchiert, hat einen Auftragsmörder getroffen, der in Honduras für ein kolumbianisches Drogenkartell tötet, hat Polizei und Militär in Mexiko und Afghanistan bei Einsätzen begleitet und beobachtet, hat mit US-amerikanischen Spezialkräften über ihre geheimen Operationen und mit „Mr. Kokain“ und „Mr. Heroin“ bei Europol über die Schmuggelwege nach Europa gesprochen, zeichnet Schmuggelwege durch die Karibik nach und zeigt auch, wie der Amphetaminmarkt mit dem syrischen Bürgerkrieg zusammenhängt.
Historische und politische Zusammenhänge sind immer in seinem Blick, ebenso die Geldströme des Drogenhandels. Auf verhältnismäßig wenigen Seiten findet man hier pralle, anschauliche Information und auch weitere Quellenhinweise. Ein verdienstvolles Buch. Hiermit empfohlen.

Martin Specht: Narco Wars. Der globale Drogenkrieg. Reportagen. Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 216 Seiten, Broschur mit 19 Fotos und 3 Karten., 18 Euro.

 


51sieygc9cl-_sx329_bo1204203200_Viel Regen, Schuld und Sühne

(JF) Mördermumpitz von ganz besonderem Kaliber präsentiert Schwedenkrimi-Routinier Arne Dahl in seinem neuen, von der heimischen Kritik in höchsten Tönen gelobten, Werk.  Tatsächlich gelingt es dem Autor, seine Leser bis zur Hälfte des Romans auf recht unterhaltsame Weise an der Nase herumzuführen, um dann die unvermeidliche Geschichte vom genialischen Mörder aufzutischen, der sich auf grausame Weise für einst erlittenes Leid rächt. Da überrascht es wenig, dass der ermittelnde Kommissar das eigentliche Ziel seines ausgeklügelten Vergeltungsplans ist. Und das nicht ohne Grund, wie dieser weiß.

Es regnet oft in diesem Roman. Nicht nur einmal lässt der Erzähler einer Figur Wasser über das Gesicht laufen, so dass es aussieht, „als wäre ihr Kopf ein weinendes Auge“. Schließlich verlangen die großen Themen Schuld und Sühne nach einem angemessen düsteren Ambiente und sinnträchtigen sprachlichen Bildern. Freunde des Genres, denen das Gefühl, „der Regen hätte die Zeit in Einzelteile zerlegt und fortgespült“, nicht fremd ist, dürfen sich auf wohlige Lesestunden freuen.

Arne Dahl: Sieben minus Eins. Kriminalroman. (Utmarker. 2016). Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps. 408 Seiten. München: Piper 2016. € 16,99.


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Großartig bescheuert

(TW) Lustig im besten Sinne ist Iain Levinsons „Gedankenjäger“. Eine winzige, geheime US-Behörde von beklagenswertem moralischem Standard manipuliert Individuen, die daraufhin die Gedanken der sie umgebenden Menschen lesen können. Allerdings werden diese Individuen ab einem gewissen Zeitpunkt wunderlich und müssen, wenn sie ihre Spionageaufträge erledigt haben, „zum Abendessen eingeladen“ werden, was der Euphemismus für finale Entsorgung ist. Und weil ein schon zum Tode verurteilter Gedankenleser sich dessen entzieht und flieht, wird ein ebenfalls gedankenlesender Cop auf ihn angesetzt.

Dieser Cop kapiert bald, dass auch er danach eine dieser netten Einladungen bekommen wird. Die charmante Killerin, die dafür zuständig ist, kann zwar keine Gedanken lesen, aber ihre eigenen Gedanken wiederum sind nicht lesbar. Bald türmen sich die Leichen, denn Cop und Beute tun sich zusammen und die Jagd wird zum Roadmovie. Lustig ist der Roman, weil Levinson, der schon immer für außergewöhnliche Bücher (zuletzt „Hoffnung ist Gift“, siehe hier) gut war und deswegen sträflich unterschätzt ist, hier offen über die Erzählkonvention „Thriller“ spottet.

Denn diese Konvention funktioniert auch prächtig, wenn sie keine seriösen Themen verhandelt, sondern genauso gut, wenn sie ein völlig bescheuertes Handlungselement wie selbstverständlich der „Realität“ hinzufügt bekommt. Außer natürlich, man will böse Geheimdienstexperimente wie „Gedankenlesen“ als schwer symbolische Warnung vor dem verstehen, was finstere Mächte Menschen antun. Aber vermutlich würde Levinson es sehr komisch finden, wenn man sein rasantes, kleines l´art pour l´art-Stückchen als Alu-Hut-Prosa lesen wollte.

Iain Levison: Gedankenjäger (Mindreader, 2015). Roman. Dt. von Walter Goidinger. Wien: Deuticke, 301 Seiten, €  19,00, Verlagsinformation.


517jpaxl4yl-_sx313_bo1204203200_Reacher auf die Matte

(AM) Aus dem Amerikanischen übersetzt sei das Buch, sagt die Verlagsinformation, aber es spielt nur – wenn auch überzeugend – in den USA. Ben Sanders ist Neuseeländer, 1989 in Auckland geboren. Seinen ersten Thriller („The Fallen“) veröffentlichte er mit 21, drei Mal war er schon für den neuseeländischen Krimipreis nominiert. Meine Erwartungen für „American Blood“ waren dennoch bescheiden. Ich wurde furios überrascht.

Dieses Ding hat Wucht und Drall,  ist einer der so selten gewordenen Thriller, wo Plot, Momentum, Mechanik und Stil sich zu einem altmodisch guten Lese-Spaß vereinen. Lee Child, aufgepasst. Solche Buchklappensätze sage ich eigentlich nicht, aber wie Ben Sanders hier das Genre auf die Matte legt, das hat große Klasse und macht viel Spaß.

Ungestraft, ja bravourös, lässt er sein Ding in einer Bar anfangen, wo ein Blonder am Tresen sitzt, in einen Überfall gerät, ratzfatz die beiden Typen außer Gefecht setzt. Gleich in der nächsten Szene eine ähnliche, geschickt variierte Szene auf einem Parkplatz. Reacher-Standardsituation im Doppel, als Rittberger mit Salto elegant genommen. Und das ist erst der Anfang. Dialoge knallen wie Schusswechsel, Knallhartes paart sich mit Witzigem. „Hört uns jemand zu?“ – „Glaube ich nicht. Aber Sie sind von der Regierung, Sie können mir das sagen.“ Da ist etwas „einfach binär. Entweder stirbst du, oder ich.“

Der Held heißt James Marshall Grade, war ein Undercover-Cop, ist jetzt im Zeugenschutzprogramm in New Mexico und vermietet gerne seine sicheren Unterkünfte unter, um sein Einkommen aufzubessern. Die Suche nach einem vermissten Mädchen, das ihn an jemanden aus seiner Vergangenheit erinnert, ist der Motor der tempostarken Geschichte, die auch Referenzen zu Robert Louis „eigentlich Lewis“ Stevenson oder Dylan Thomas bietet, kurzum ein raffiniert geschliffenes Vergnügen ist, in der die Femme fatale am Ende fragt: „Wirst du nach mir suchen?“

Inzwischen sind es Bücher wie dieses, nach denen man als Thrillerleser ganz schön suchen muss.

Ben Sanders: American Blood. Aus dem Englischen von Berni Mayer. Heyne Verlag, München 2016. Taschenbuch, 432 Seiten, 9,99 Euro. Webseite des Autors.


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Ach, Hoke …

(TW) Mit „Wie wir heute sterben“ schließt der Alexander Verlag seinen Re-Launch des Hoke-Moseley-Quartetts von Charles Willeford ab, dem wir vor einiger Zeit einen Klassiker-Check gewidmet haben, bei dem Sie auch weiterführende Links finden.

Plot-Konventionen spielen auch hier, wie in allen Romanen um den eigenwilligen, um nicht zu sagen skurrilen Moseley vom Miami PD keine große Rolle, sie sind erzähltechnischer free style. Atemberaubend lakonisch und cool, wie Moseley im Mittelteil undercover und illegal auf einen modernen Sklavenhalter in den Everglades angesetzt wird und das Problem ohne mit der Wimper zu zucken und ohne schlechte Träume danach erledigt oder mit einem von ihm einst in den Knast gebrachten Mörder umgeht, der nach seiner Haftentlassung ins Haus gegenüber zieht und sich an Moseleys seltsame Kleinfamilie heranmacht.

Und gnadenlos sein Blick auf die Ökonomie, die das menschliche Dasein bis ins Detail bestimmt. Diese genialen vier Romane aus den 1980er Jahren haben einen gewaltigen Anteil daran, dass man „Krimi“ oder Kriminalliteratur niemals nie und nimmer als „Format“-Literatur mit Regeln und Algorithmen betrachten kann.

Charles Willeford: Wie wir heute sterben. (The Way We Die Now). Dt. von Rainer Schmidt, mit einem Vorwort von Donald E. Westlake, durchgesehen und mit einer Nachbemerkung von Jochen Stremmel. Berlin: Alexander Verlag 2016, 285 Seiten, € 14,90, Verlagsinformation.


chop-satterthwait-6018zWiederbegegnung mit Lizzie Borden (1)

(AM) Ja lebt denn der alte Holzmichel noch? Ja das tut er, das tut er. Und es gibt sogar wieder Neues von ihm. Walter Satterthwait, ein beeindruckend cooler, lässig abgehangener und vielseitiger Autor, seit einigen Jahren von der Bildfläche verschwunden, auf griechischen Inseln zugekifft oder in Santa Fe auf Landkommunen verlanghanst, was immer da auch war, ist wieder zurück. Die New Yorker Mysterious Press hat sein jüngstes Werk im Programm. Es heißt „New York Nocturne“ und verheißt im Untertitel „The Return of Miss Lizzie“. Ich habe es mir kommen lassen.

Und siehe, er hat es noch drauf, der alte Schwerenöter, in seinem gerade 70.Lebensjahr. Der Meister der spritzigen Krimis bietet eine vergnüglich-rasante Kutschfahrt durch das New York der Goldenen Zwanziger, das Algonquin Hotel inklusive. 26 Jahre später knüpft er an seine fulminante „Miss Lizzie“ von 1989 an, gönnt sogar Dorothy Parker ein paar vergnügliche Erlebnisse und führt uns durch ein hervorragend recherchiertes nächtliches New York des Jazz-Zeitalters mit Speakeasies und Nachtclubs, dass die Gläser klirren und die Tische wackeln. Ein guter Teil seiner Expertise freilich stammt aus eigenem Erleben. Er war lange genug Barkeeper, um kundig vom nächtlichen Esprit schreiben zu können.

Satterthwait kehrt hier zu der in den USA in die Folklore eingegangenen Mörderin Lizzie Borden zurück, der er wieder die hier sechzehnjährige Amanda Burton als Freundin und Erzählerin zur Seite stellt. Er hat auch bereits Oscar Wilde in den Wilden Westen verfrachtet („Wilde West“), Ernest Hemingway und Gertrude Stein („Maskeraden“), Harry Houdini und Arthur Conan Doyle („Eskapaden“) sowie viele andere Persönlichkeiten der 1920er in seiner Serie mit den Pinkerton-Detektiven Beaumont & Turner lebendig gemacht. Ja, er lebt noch! Hoch die Tassen!

Walter Satterthwait: New York Nocturne. The Return of Miss Lizzie. Mysterious Press, New York 2016. Trade Paperback, 298 Seiten, $ 14.99.


chop-evan-hunter-lizzie-00Lizzie (2) – Ed McBain/ Evan Hunter hat eine Theorie

(AM) 1984, zwischen den Cop-Romanen „Ice“ und „Lightning“ vom 87. Polizeirevier, wurde Ed McBain auch wieder als seriöser Autor Evan Hunter aktiv. Unter diesem Namen war Salvatore Lombino (1926 – 2005) über Nacht mit „Die Saat der Gewalt“ berühmt geworden (1955 verfilmt), unter diesem Namen hatte er für Alfred Hitchcock das Drehbuch für „Die Vögel“ geschrieben.

Nun nahm er sich einen der bekanntesten Morde der amerikanischen Geschichte vor, verübt am 4. August 1892 in Fall River, Massachusetts. Des Mordes an ihrem Vater und ihrer Stiefmutter verdächtigt – benutzt wurde vermutlich ein Beil – wurde die zur Tatzeit 32 Jahre alte Lizzie Borden. Der von großem Medienrummel begleitete Sensationsprozess endete mit einem Freispruch. Bis ans Lebensende geächtet, führte Lizzie mit dem kleinen Vermögen ihres Vaters ein Leben, von dem sie schon immer geträumt hatte. Bis heute sind sie und die angeblich 40 Axtschläge („forty whacks“) Teil der amerikanischen Popkultur.

chop-evan-hunter-orgig-cover-1984204203200_Evan Hunter/ Ed McBain rekonstruiert in seinem 560 Seiten starken Buch die Dialoge des Mordprozesses, verwendet dafür die Originalakten, und schneidet Lizzies innere Monologe dagegen. Er zeigt eine lustvolle, aber von viktorianischer Zeit und Umständen unterdrückte, latent aggressive Jungfer, die bei einem (historisch verbürgten, in den Einzelheiten aber fiktiven) Europatrip im Jahr 1890 dem Hedonismus von Paris, London und der Riviera begegnet und ihr Herz immer mehr zu einer Mördergrube macht.

Für 1984 ziemlich frivol, spielt Ed McBain das Motiv vermuteter lesbischer Sexualität in mehreren Varianten aus. Im letzten Kapitel imaginiert und zeigt er, wie unterdrückte Sexualität zu Mord aus Verzweiflung führt. In einer raren Aufnahme äußert Evan Hunter/ Ed McBain hier seine Theorie im Mordfall Lizzie Borden.

Evan Hunter: Lizzie. William Morrow Paperbacks New York 2016. Erstausgabe 1984. 560 Seiten, $ 10,99.


chop_pondEine Barista empfiehlt John Harvey ein Buch

(JH) The first thing that made me think I should read Claire-Louise Bennett’s short story collection, Pond, was the strong recommendation it received from a barista in the Rathbone Place branch of TAP Coffee in Nottingham, where I’d take refuge so as to fill in time before the first day of auditions for the Nottingham Playhouse production of Darkness, Darkness, which I’d adapted from my own novel, and which were to take place in the basement of the American Free Church nearby. The book, when I came across it a few days later, face out on the shelf in Foyles (the Charing Cross Road branch) made me want to pick it up immediately, and I would, in all probability, have done so even without the earlier recommendation, it looked so perfect. White text on a strong and plain blue background, just the title and the author’s name and the name of the publisher, Fitzcarraldo Editions. Great job, Fitzcarraldo! Just to be sure, I checked with the guy who works in the fiction section who’d previously recommended Lucia Berlin, and whose judgement could therefore be trusted, and when he gave it the thumbs up, without further hesitation, I bought it.

You know how sometimes you start on something you’ve been really looking forward to, the spaghetti vongole your partner has been labouring over in the kitchen, for instance, or an old and lovingly remembered episode of Homicide or Hill St.Blues, and almost immediately doubts appear? Well, I have to say, that happened here. After three weighty quotes in the frontispiece, one from Nietzsche, the first story, “Voyage in the Dark”, just over half a page long, seemed worryingly precious and rather transparently ‘meaningful’, and I had the kind of feeling I used to get stepping into the rooms at Tate Britain showing the work of that year’s Turner Prize nominees, namely, Oh shit I ought to like this or, at the very least, I ought to defend the right of others to like it, but then, mercifully, and before that thought could be fully formed or acted upon, I turned the page to the second story, “Morning, Noon and Night”, which begins …

Sometime a banana with coffee is nice. It ought not to be too ripe – in fact there should be a definite remainder of green along the stalk, and if there isn’t, forget about it. Though admittedly that is easier said than done. Apples can be forgotten about, but not bananas, not really. They don’t in fact take all that well to being forgotten about. They wizen and stink of putrid and go almost black.

Oatcakes along with it can be nice, the rough sort.

And so it goes for eighteen pages, expanding its focus outwards and inwards from bowls strategically placed on the window sill to display aubergines and squash, and some more discussion of the possibilities of breakfast, to the place where she now lives, the place where she used to live, her interest in and aversion to gardening of various kinds,  baths, the language of love and her relationship, hinted at, with a man who may (or may not) live close by, finally settling for a detailed description of the stone cottage, in the kitchen of which she’s standing, chopping walnuts. All in prose that could seem long-winded and unnecessarily tortuous if it weren’t for the fact that you can read it aloud almost at first sight without ever stumbling, so well-judged is it in its balance, its distinctive rhythms and repetitions.

As the man from Foyles said, it doesn’t always work but when it does …

The stories centre around the narrator living on her own in a fairly remote stone cottage which I venture to guess from the weather is somewhere on the west coast of Ireland. She’s on her own, but not quite on her own; there seems to be at least one gentleman caller, though sometimes she calls on him (them?) and returns with her knickers worn inside out over her tights. As the blurb writer puts it nicely on the back jacket, she is “captivated by the stellar charms of seclusion but restless with desire.”

I’m tempted to say Bennett’s method in these stories and, to a lesser extent, the style, remind me of Virginia Woolf (or Katherine Mansfield?) filtered through a contemporary sensibility, the internal thought – contradiction on contradiction – held steady by a precise description of the everyday that is so detailed and yet, somehow, shifting, that it verges on the surreal.

As the barista might say, it’s the best book I’ve read so far the year.

Claire-Louise Bennett: Pond. 20 Stories. Fitzcarraldo Editions, London 2015. (Originally published in Ireland by the Stinging Fly Press, 2015.) 180 pages, Paperback.Claier


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Gesellschaftsporträt mit Ansage

(AR) Zwölf Menschen lässt Michael Herzig in seinem neuen Roman „Am Ende die Nacht“ eine Schweizer Großstadt durchstreifen. Fünf Tage lang treffen Unter-, Mittel- und Oberschicht aufeinander, nähern sich Milieu und High Society an. Da sind zum Beispiel der progressiver Zuhälter Gökhan, der sein Geld statt mit Transsexuellen in Zukunft mit Immobilien verdienen will, die Journalistin Zoë, die sich erst mit dem Jugendwahn ihrer Mitbewohnerin, und später mit den Eskapaden eines angesehen PR-Beraters herumschlagen muss, sowie die Prostituierte Zsófia, die ausgerechnet in einer depressiven Bankerin ihren Schutzengel findet. Für einen Wimpernschlag sieht es so aus, als ließe sich jede gesellschaftliche Kluft mit einem beherzten Sprung überwinden. Dann hält die Realität Einzug.

Mal abgesehen davon, dass Formulierungen  wie „Komm, ich zeige dir etwas sexuell Geiles“ und Wörter wie „Polente“ klingen, als kämen sie direkt aus „Manta, Manta“ und nicht aus den Mündern zweier junger Migranten, ist Herzigs Prosa ein Genuss. Knapp, präzise, treibend. Es hakt lediglich an der Story. Denn natürlich ist es eindrucksvoll, wenn viele gesponnene Fäden zusammenlaufen und ein erzählerisches Netz entsteht. Natürlich sind einzelne Episoden (ich sage nur „Dach“) für sich genommen wahnsinnig stark. Nur entsteht daraus – wie so oft bei episodischen Erzählungen – leider kein Roman. „Am Ende die Nacht“ wirkt wie ein literarischer Taschenspielertrick: Nett, aber schnell wieder vergessen. Die Hälfte der Figuren wird mit dem Zuschlagen des Buches fast automatisch aus dem Gedächtnis gelöscht, und auch die Geschichte gibt in ihrer Gesamtheit nicht genug her, um dort lange zu verweilen. Es bleiben höchstens Bruchstücke haften.

Letztendlich laufen all die miteinander verzahnten Erzählungen nämlich grob vereinfacht auf Folgendes hinaus: Der moderne Großstadtmensch besteht nur noch aus „gepflegter Leere“ und sein Einkommen verläuft disproportional zu seinem emotionalen Gleichgewicht. Das mag stimmen oder nicht – es wurde jedenfalls schon deutlich dringlicher erzählt.

Michael Herzig: Am Ende die Nacht. Gebundene Ausgabe. Grafit Verlag, Dortmund 2016. 224 Seiten, 20 Euro.

 

Wie Sie den Schwedenkrimi des Jahrhunderts schreiben von Henrik Lange

Ein netter Trittbrettfahrer

(AM) Angeblich ist der Boom der Schwedenkrimis vorbei, wird uns gerade als der neueste Trend im deutschen Krimimarkt erklärt. Falls Sie aber noch schnell einen schreiben wollen, kommt der Ratgeber „Wie Sie den Schwedenkrimi des Jahrhunderts schreiben“ gerade noch richtig. Eine schonungslose Konkurrenz herrscht auf dem nordischen Markt. Amateure, Promis, Minister – einfach alle schreiben Krimis: Glamourkrimis, Weinkrimis, diese und jene Krimis. Henrik Lange siedelt seinen Ratgeber im Ort Bollebygd an. Er hat Tipps für den Einstieg, den Mord, den Schauplatz, das Wetter, die Figuren (Magengeschwür, Hotdog-Wampe, Rückenschmerzen usw.), den Unschuldigen, den nervigen Vorgesetzten, die Kollegen, das Privatleben der Kommissare, dringend erforderliche Szenen (sehr umfangreicher Teil), für Wiederholungen, für die Sicht des Mörders, das Große Grübeln, die Rechtsmedizinerin, den Wettlauf mit der Zeit, Auflösung, Festnahme, Vernehmung, Pressegespräch, Anklage, Danksagung und den Haken am Schluss. Man muss wirklich an Vieles denken als Schwedenschreiber. Zur Entspannung erzählt Henrik Lange, der auch schon „Filmklassiker für Eilige“ vorlegte, „für die ganz Eiligen“ in vier Bildern den Sjöwahl/Wahlöö-Klassiker „Der Mann auf dem Balkon“, Asa Larsons „Sonnensturm“, Mankells „Mörder ohne Gesicht“, Camilla Lackbergs „Die Eisprinzessin schläft“, Kerstin Ekmans „Die Totenglocke“, Lindgrens „Meisterdetektiv Blomquist“, Stieg Larssons „Verblendung“.
Nichts davon ist ernst gemeint, vieles davon aber nicht weit hergeholt. Manch eigener Lektüreerfahrung wird man hier wiederbegegnen und schmunzeln. Ein luftig angenehmer, ironischer Umgang mit dem Genre, etwas ganz anderes als das voll in die Binsen gegangene „111 Gründe, Krimis zu lieben“ (siehe unser „Kickass“ in dieser Ausgabe).

Henrik Lange: Wie Sie den Schwedenkrimi des Jahrhunderts schreiben. Aus dem Schwedischen von Leena Flegler. Goldmann Taschenbuch. München 2016. 160 Seiten, Klappenbroschur, durchgängig Zeichnungen, 12,99 Euro.

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