Babykost, auf 111 Löffelchen serviert – oder: Wenn der Frosch mit der Maske hinter einem Vorhang steht …
„Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“ (Karl Kraus, 1909)
Gut, dass Karl Kraus das nicht mehr erlebt hat, dachte Alf Mayer sich bei der Lektüre von Hardy Cruegers „111 Gründe, Krimis zu lieben“.
Es war eine Reise in eine Welt, in der es keinen Eric Ambler, James Lee Burke, Jerome Charyn, Garry Disher, Nicolas Freeling, Frank Göhre, Chester Himes oder Elmore Leonard, keine Sara Gran, keine Carol O’Connell, keine Helen Zahavi, keine Zoë Beck, keine Denise Mina, keine Margaret Millar, keinen Ed McBain, Ross Macdonald, Mike Nicol, Peter O’Donnell, Jack O’Connell, Derek Raymond, Ross Thomas, Joseph Wambaugh, keinen Leonardo Padura, keine Masako Togawa, keine Patrícia Melo, keine Malla Nunn, keinen Jean-Claude Izzo, Paul Temple, Robert Wilson oder Charles Willeford gibt. All solche schöne Gründe, Kriminalromane zu lieben, werden Sie hier nicht finden.
Man denkt ja immer, man selbst habe schon Vieles vom Meisten gesehen, aber dann kommt von irgendwo ein Lichtlein her, und es zu fassen fällt dir schwer. In diesem Fall schippert das Kerzlein manchmal als „mörderische Bootsfahrt auf der Oker“ oder flackert bei einer „Krimilesung im Bettenlager“. Ehrlich. Alle Zitate hier sind echt. Irgendwie ist das Kerzlein auch nach Berlin gelangt, wo der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf ein Geschäftsmodell bedient, bei dem man nur bis 111 zählen können muss. Ok, bei „112 Gründe, Feuerwehrmann zu sein“ sogar eins weiter, dafür eins weniger bei „110 Gründe, Polizist zu sein“, aber sonst reichen 111 Sachen, um seinen Chef zu hassen oder wahlweise Lehrer, Kollegen, Vermieter, Mitarbeiter usw., oder all das hundertelfmal selbst zu sein oder hundertelfmal zu lieben.
Hassen oder Lieben, da gibt es ja eh buchmacherische Synergieeffekte, ist gehupft wie gesprungen. Das gilt auch für Handball, Tischtennis, Klettern, die Nationalmannschaft, Segeln oder Wrestling, Rot-Weiss Essen, die Offenbacher Kickers, Eintracht Frankfurt, die Pfalz (Überschneidungen vermutlich mit dem FC Karlsruhe), Berlin, Sylt, das Rheinland, Mallorca, Finnland, Norwegen, Schweden sowie 111 Mal Wichsen oder 111 x 111 x 111 Dufasstesnicht. Ich hätte da noch Vorschläge für Kartoffelsalat oder was mit Nudeln, Steaks, überhaupt Grillen, Malbücher, Kreuzworträtsel – tja, und auf Kriminalromane sind sie leider von selbst gekommen. Nun ist es in der Welt: „111 Gründe, Krimis zu lieben.“ Und es ist laut Stimmen im Internet „ein ungeheuer auf- und anregendes Buch“, „ein unersetzliches Nachschlagewerk für Krimifans“ , ein „Standardwerk“ (Buchmarkt), „witzig, unterhaltsam, informativ und man kann sich beim Autor sicher fühlen, weil er unglaublich kompetent in dem Thema ist“.
Auch Raimond Chandler kam nur bis Braunschweig
Autor Hardy Crueger aus Braunschweig (das C in seinen Namen dient dazu, Verwechslungen mit einem Filmschauspieler auszuschließen, doch, doch), der allerlei Krimiwerkstätten in und um Braunschweig betreibt, tritt mit einer Großmetapher an. Die Reise durch den Ozean der Kriminalliteratur ist bei ihm eine Kreuzfahrt, zu der er einlädt wie ein Impressario. Schnell aber merkt man bei der Lektüre, dass man hier nur eine Discounter-Pauschaltour in ziemlich seichten Gewässern gebucht hat und alles sowieso viele Nummern kleiner ausfällt als im Prospekt versprochen, mit der immergleichen Bordunterhaltung und allerlei kalten Bauern vom Buffet, sinnfreie Landgänge nach Ka Lau inbegriffen. Thomas Wörtche, meinen Redaktionskollegen bei CrimeMag, muss ich hier in Schutz nehmen, er wird nämlich gleich eingangs als „eine Koryphäe des Genres“ gebucht, als würde er da unten treu im Maschinenraum dieser Kaffeefahrt werkeln. Tut er aber nicht. Weder wurde er (glücklicherweise) gefragt, noch hat Autor Hardy Crueger auch nur je eine Zeile von Thomas Wörtche über ein mechanisches Zitieren hinaus geistig erfasst und verarbeitet. Hätte er, oder hätte er zum Beispiel „Penser Polar“ gelesen, wäre das 111-Gründe-Sammelsurium nicht möglich, fände ein derart unbedarft-uninformierter Umgang mit dem Genre der Kriminalliteratur keinen Buchumschlag.
Mit Vermietern, Chefs, Handball, der Nationalmannschaft oder Wrestling kann man das ja meinetwegen machen, sie 111mal unter Liliput-Fingerhüte zu stecken. Aber Kriminalliteratur wird von denkenden Wesen gelesen, da ist eine solch sinnfreie Präsentation des Genres anno 2016 ebenso subdiskutabel wie unverantwortlich. Unverständlich auch, dass ein Verlag hier keine Expertise einholt. Lektorat oder gar Korrektorat scheinen zudem in Ferien gewesen zu sein. Ed McBain taucht nur im Register auf, kommt aber sonst nicht vor, das geschieht auch Richard Price und einigen anderen; ohnehin scheint das Register nur gelegentlich mit den vorangegangen Seiten zu tun zu haben – wohl eine der 111 Ideen, ein Buch unbrauchbar zu machen. Binnen drei Zeilen wird die ZDF-Serie „Das Team“ zum „A-Team“ (Seite 86), Jochen Vogt wird durchgängig Jochen Vogel genannt, Raimond Chandler (175) findet sich ohne sein Ypsilon und da heißt es durchgehend Georg Nader (statt George) als „Jeremias Baumwolle“. Deutschsprech für AfD-Krimileser? Oder was steckt hier dahinter?
Man muss schon ordentlich von der Kohl’schen Sancta Simplicitas gesegnet sein, um so unbedarft Kraut und Rüben, Äpfel und Birnen, Kreti und Pleti, Lurche aus der 17. Reihe mit den Größen des Genres in einen Topf zu werfen und alles als die gleich treffliche Krimisüßspeise auszugeben. Um „die Vielfalt“ der Krimi-Sparten aufzuzeigen (Zitat: „Fast so schlimm wie bei der Rockmusik“, muss ja ein Dschungel sein, aber hallo), nimmt Hardy Crueger Zuflucht zu den Internetsuchbäumen der Verlage und Anbieter Bastei-Lübbe, Random House, Weltbild, Thalia und Amazon. Alles klar? Von Richard Starks Gangsterfigur Parker geht es im nächsten Absatz umstandslos zu Erich Kästners Kinderbuch „Emil und die Detektive“ (89/90), da gilt Edgar Wallace als „Urgestein“, der „geboren wurde, als in Amerika noch die Indianerkriege tobten“ (echt, steht da auf Seite 113 als Verharmlosung eines Völkermordes). Da gibt es gottseidank den „knuffigen Kommissar Kluftinger“, da gibt es sogar Straßen- und Mitmachkrimis, Bettenlager mit Kerzlein und sich räkelnden Mimis und Krimibootsfahrten auf der Oker. Alles eine große breiige Babykost. Auf 111 Löffelchen serviert.
Das Quartett des Schreckens
Krimi ist hier Wellness, schauriges „Abenteuer“, den penisverspeisenden „Kannibalen von Rottenburg“ inbegriffen, allen voran mottenkugelhaft definiert vom „Literaturwissenschaftler Prof. Ulrich Suerbaum“, anno dunnemal 1984. Das Genre als Streichelzoo, bestenfalls als Geisterbahn, bei der auch Omis nicht erschrecken brauchen und Mimi immer noch mit dem Krimi zu Bett geht. Bitte nie auch nur ein wenig Inhalt oder Tiefe aufs Brot, hier ist bunter Kindergeburtstag angesagt. Dies Buch ist eine Infantilisierung des Genres, oft unfreiwillig komisch. Letztlich ist es belanglos, unbrauchbar. Aber man muss fürchten, dass der Buchmarkt so etwas als Standard annimmt.
Eine Verwendung, die ich mir vorstellen könnte, wäre ein „Quartett des Schreckens“. Die größten Schoten aus dem Buch als lustiges Frage- und Antwort-Kartenspiel. Zum Beispiel:
Frage: Wann ist ein Krimi ein Thriller? – Richtige Anwort: „Ohne Cops ist es ein Thriller“ bzw. „Wenn wir nur noch Opfer und Täter haben, ist es ein Thriller.“ (Seite 12)
Frage: Wie kompliziert ist Moral im Krimi? – Richtige Antwort: „Im Krimi ist die Moral ganz einfach. Verbrechen lohnt sich nicht. Punkt.“ (72)
Frage: Lebt der Krimi noch? – Richtige Antwort: „Detektivgeschichten sind in Deutschland heute fast ausgestorben.“ (29)
Frage: Was ist der wahre Schrecken? – Richtige Antwort: „Gänsehaut gibt es, wenn der Frosch mit der Maske hinter einem Vorhang steht.“ (51)
Frage: Wer sind die Täter? – Richtige Antwort: „In wohl 90 Prozent aller Krimis ist es wie im wirklichen Leben: Der Täter ist männlich, ca. 1,78 groß, zwischen 20 und 40 Jahren alt und stammt aus keiner besonderen Gesellschaftsschicht.“ (84)
Frage: Funktionieren Krimis auch unter Wasser? – Richtige Antwort: Im Prinzip ja. „Krimis funktionieren überall, auf dem Land, in der Stadt, am und auf dem Meer.“ (99)
Frage: Ab wann wurde der Krimi klug? – Richtige Antwort: „Spätestens mit Maj Sjöwall und Per Wahlöö aus Schweden kam das Intellektuelle in den Krimi.“ (105)
Der Autor macht ein großes Versprechen: „Auf jeden Fall bin ich sehr neugierig, wie sich das Genre in den nächsten Jahren entwickeln wird, und werde das Meinige dazu tun, dass es leserlich bleibt.“ (299) Und er schließt: „Einige Fragen konnte ich aus Zeit- oder Platzgründen in diesem Buch nicht beantworten. Zum Beispiel ob Polizisten Krimis & Thriller lesen? Oder warum in früheren Kriminalfilmen bei einem Verhör dem Verdächtigen mit einer Lampe ins Gesicht geleuchtet wird? Und ob das in Wirklichkeit auch gemacht wird? Falls Sie die Antworten wissen, schreiben Sie mir bitte?“ (300)
Warten wir also auf „111 Gründe, einem Verdächtigen ins Gesicht zu leuchten“ oder, final, auf „111 Haare, an denen sich wirklich Alles herbeiziehen lässt …“ Aber der Wahnsinn hat nie ein Ende. Sagt das Amen in der Kirche.
Alf Mayer
Hardy Crueger: 111 Gründe, Krimis zu lieben. Eine Hommage an das spannendste Genre der Welt. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2016. Broschiert, 320 Seiten, 9,99 Euro. Webseite des Autors.
- Ach, und wenn schon etwas Altbackenes, dann doch wenigstens gediegen, informativ und klug, etwa zum Beispiel aus dem Jahr 1953, damals vom anglophilen Karl Anders in seinem Nest-Verlag verlegt, nämlich: Fritz Wölcken: Der literarische Mord. Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Detektivliteratur. Mit einem Vorwort von Thomas Wörtche. Digitale Neuauflage. CulturBooks Longplayer, März 2015. 347 Seiten. 39,99 Euro.