Berlin, das Original
„Es wird Nacht im BERLIN der Wilden Zwanziger“ von Robert Nippoldt (Bilder) und Boris Pofalla (Text) ist ein absoluter Hammer-Pracht-Band. Thomas Wörtche wälzt sich wollüstig in Bildern und Texten und Songs.
Ein bisschen ironisch ist das Ganze schon: Da treten ein paar, literarisch gesehen, mittmäßige bis belanglose Romane eine Welle los – die „Gereon-Rath“-Romane von Volker Kutscher. „Der nasse Fisch“, das erste Buch der Serie erschien 2007, also vor genau zehn Jahren. Heute ist der Hype voll erblüht – zigfach kloniert in ebenso belanglosen Mee-too-Büchern wie Kerstin Ehmers „Der weiße Affe“, multimedial von Tom Tykwer veredelt als „Berlin Babylon“ und in Comics von Arne Jysch oder mit sehr schönen Illustrationen von Kat Menschik als Geschenkbuch in der Verwertungskette aufbereitet. Dieses Phänomen konnte vermutlich nur passieren, weil es, so muss man befürchten, einen massiven kulturellen Gedächtnisverlust gibt, oder aber ein mächtiges Bedürfnis nach Simplifikation. Beides wäre in der derzeitigen psychopolitischen Großwetterlage nur allzu plausibel. Denn der Kutscher-plus-Rezeptions-Cluster schreibt die ganzen Narrative der Weimarer Republik in Berlin (und zunehmend auch in anderen Gegenden, ganz analog zum Regiokrimi) noch einmal. Und das ist, angesichts der Originale von Brecht, Döblin, Benn, Keun, Isherwood, Lang & Co., eine ziemlich aussichtslose Operation, zumal das Re-Writing keine neuen Aspekte, keinen Erkenntnisgewinn und statt ästhetischer Innovation (das große Markenzeichen der Originale) nur Reduktion hervorbringt.
Die schiere Pracht
Zur List der Vernunft allerdings gehört, dass Wellen auch Dinge mittragen, die sehr sinnvoll, im vorliegenden Fall gar prächtig sind. Robert Nippoldt (Bilder) und Boris Pofalla (Texte) haben einen wunderbaren, großformatigen und erfreulich schweren Band gestaltet: „Es wird Nacht im BERLIN der Wilden Zwanziger“.
Die Opulenz dieses gewaltigen Panoramas verdankt sich der Intelligenz des Konzepts: Nippoldts Bilder von Personen, Schauplätzen, Veduten, Stadtkarten, Alltagsgegenständen der Zeit, Filmplakate, Werbung, Architektur, die so ziemlich alle Bereiche des öffentlichen und kreativen Lebens der Zeit umfassen, orientieren sich, in einer atemberaubenden Mischung aus Detailrealismus und Abstraktion, an der tradierten Ikonographie (Josephine Baker, Brigitte Helm) und verdoppeln in der Reproduktion deren ästhetische Dimensionen. Wiedererkennbarkeit plus die eigene, sofort erkennbare Handschrift Nippoldts (die wir schon zum Beispiel aus seinem Band über Chicago kennen) verleihen dem Band eine starke künstlerische Autonomie. Re-Drawing kann, in diesem Fall, eben eigenständige Kunst von 2017 hervorbringen, ohne wie das Re-Writing in einer schlaffen Simulation hängen zu bleiben.
Diversität
Und sie illustrieren in bester didaktischer Manier (hier einmal positiv gemeint) die Texte, die die Vielfalt und die kulturelle Diversität der Berliner Roaring Twenties beschreiben. Pofallas Texte behandeln nicht nur die üblichen Protagonisten der Zeit (Kisch, Tucholsky, Weill, Rathenau, Ebert etc.), sondern richten auch den Blick auf nicht so oft gedroppte Namen wie die Malerin Jeanne Mammen, die Trickfilmmacherin Lotte Reiniger, die Sängerin Margo Lion, die Varieté-Virtuosin Thea Alba, die Tänzerin Anita Berber oder die „Chansonette“ Claire Waldoff, wie überhaupt das Thema „Die neue Frau“ den ganzen Band schon fast leitmotivisch durchzieht. Natürlich bearbeiten Nippoldt/Pofalla auch die großen topischen Themen: Elektropolis, die beleuchtete Stadt (mit irre guten Bildern des Karstadt-Hauses am Hermannplatz, etwa), die Verkehrsmetropole (auf Nippoldts Bild zieht vor dem modernen Flughafen Tempelhof noch eine Pferdekarre des Wegs, Kommentar überflüssig, Aussagekraft hoch.
Detail: 1930 gab es 466 Verkehrstote, viel mehr als heute), die Zeitungsstadt (1928 gab es 2635 Printmedien), die Kinostadt, die Literaturstadt (allerdings ohne Benn und Döblin, der einzige Punkt, der leichtes Stirnrunzeln hervorruft), die schwule und lesbische Stadt (mit einem schönen Porträt in Wort und Bild von Magnus Hirschfeld) das extrem vielfältige, freizügige Nachtleben, Abteilung Luxus, Lust und Laster, Jazz und Kabarett. Aber der Band hält die berühmten „Schattenseiten“, nicht die romantisch-schicken, sondern die deprimierend tragischen, immer im Fokus: Die große Armut“, die Elendsprostitution und – natürlich – den Aufstieg der Nazis. In einer sehr beredten Karte zeichnet Nippoldt die Emigrantenströme seit 1933 (und früher nach) und das Schlussbild zeigt, stellvertretend für den ganzen Aderlass (von dem sich Deutschland immer noch nicht erholt hat, sorry to say) eine resignierend dreinschauende Marlene Dietrich inmitten ihrer gepackten Koffer.
Soundtrack
Und noch schöner: Eine beigelegte, von Robert Nippoldt und Stephan Wuthe zusammengestellte und sachkundig kommentierte CD liefert den Sound der Jahre mit: Lotte Lenya, Dajos Béla, Ernst Busch. Mischa Spoliansky, die Comedian Harmonists, Joseph Schmidt und Richard Tauber und viele mehr.
Man ist fast versucht, den ganzen Band nachzuerzählen, aber lassen Sie sich lieber selbst überraschen und delektieren Sie sich an den vielen Details, Aspekten, Einfällen und Informationen. Dieser Prachtband über eine immer noch für die weltweite Kultur- und Sozialgeschichte zentrale Zeit macht sämtliche Fake-Narrative überflüssig.
Thomas Wörtche
Robert Nippoldt/Boris Pofalla: Es wird Nacht im BERLIN der Wilden Zwanziger. Bilderbuch plus CD. Taschen Verlag, Köln 2017. 224 Seiten, 49,99 Euro. Verlagsinformationen.