Geschrieben am 2. November 2016 von für Bücher, Litmag

Anthologie: Ulrike Sterblich, Hg.: „Iss doch wenigstens das Fleisch“. Wie wir wurden, was wir aßen

sterblich_fleischAuf des Messers Schneide zwischen appetitlich und unappetitlich

Von Michael Höfler

Schon vor Jahren musste man sich fragen, ob nicht längst alles Schmackhafte in ungezählten Kochbüchern vielfach durchgenudelt und -gekaut worden sei. Doch es folgten ungezählte weitere Rezeptsammlungen in übergefälliger, längst sattgesehener Hochglanzoptik, die sich immer angestrengter als neuartig ausgeben mussten. Deshalb rennt „Iss doch wenigstens das Fleisch“ offene Buffets ein. Das dauerbrisante Fleischthema liefert zudem reichhaltigen Anlass für zweischneidige Gaumenfreuden.

Die ersten drei der sechzehn Texte machen aus Standardrezepten des Erzählens Mildbissiges. Dann aber folgen u.a. eine raffiniert zwischen Gaumenfreude und Halsverengung balancierende Erinnerung von Tex Rubinowitz („Casu Marzu“: „Käsefliegen legen ihre Eier auf dem Käse ab, die Maden dringen in den Käse ein und wandeln ihn durch Verdauung um, sodass er eine cremige Konsistenz und ein kräftiges Aroma bekommt“), ein als missglückte Gerichtfolge dargebotenes Vegetarismus-Plädoyer von Claus Zäsar Zehrer („trainiert sich eine seelische Hornhaut an“), ein hochkluges Ernährungs-Lexikon von Jens Friebe („Fleischersatz ist so inkonsequent wie … Sex ohne Zeugungsabsicht“) und eine FKK-Erzählung von Fil, bei der das Fleisch auf der Halterseite des Messers die Hauptrolle spielt. Anschließend schwelgen andere in Erinnerungen an fett-klebrig-zähflüssiges Retroessen („Soss tata, womit die Mayonnaise geredet war“, Peter Glaser; „sämige Matsche“, Verena Günter), kauen das Vegetarismusthema durch und vernachlässigen das Unappetitliche. Zuletzt aber lässt Oliver Maria Schmitt den Leser in einer erfrischenden Anti-Hommage an der kulinarischen Einfalt seiner Mutter teilhaben („sie schaffte es, die Fleischköttel auf den maximalen Verhärtungspunkt zu garen und diesen Zustand dann über Stunden [beim Kauen] beizubehalten“) und lobpreist die bislang von Retronostalgie verschonte Dosennahrung.

Bereits vor fünf Jahren gab es mit „Fruchtfleisch ist auch keine Lösung“ (Satyr) eine sehr gute und vielschichtige Anthologie zum Thema Fleischkonsum. Die literarische Qualität ist hier noch etwas höher. Dafür kann sich diese Textsammlung nicht recht entscheiden, ob sie eine dialektische Auseinandersetzung mit Fleisch, eine kulinarische Kuriositätensammlung oder ein Anti-Leckerbuch (Adjektiv, das dankenswerterweise im Buch nicht vorkommt) sein will. Der Buchrückentext bietet als Programm u.a. „Bauch vollschlagen“, „wundern“, „ärgern“ und „erbrechen“ an. Die Herausgeberin Ulrike Sterblich muss in ihrem Schlusswort Allgemeinplätze aufsuchen, um die Beiträge zusammen zu bringen. Tatsächlich handelt sich am ehesten um eine Lobrede aufs Essen, die die üblichen Maßstäbe und Hemmschwellen des Appetitlichen zu „überwinden“ (Buchrücken) weiß. Kulinarische Abgründe bleiben jedoch mitunter nur duftende Hangwiesen. Dafür sind einige Texte wirklich vorzüglich geraten, während andere sprachlich kaum abfallen, aber sich des überstrapazierten Rezepts gefälliger Selbstironie bedienen.

Schlussendlich gilt für das Verlangen des Rezensenten nach dem Ungustiösen sinngemäß, was Sarah Stricker in ihrem Beitrag schreibt: Der Hunger ist gestillt, aber es bleibt noch Appetit.

Michael Höfler

Ulrike Sterblich, Hg.:Iss doch wenigstens das Fleisch“. Wie wir wurden, was wir aßen. Mit Texten von Katharina Adler, Lucy Fricke, Jens Friebe, Peter Glaser, E.L. Greiff, Verena Güntner, Thomas Lindemann, Felix Lorenz, Elinor Richter, Tex Rubinowitz, Jochen Schmidt, Oliver Maria Schmitt, Sarah Stricker, Fil, Frau Freitag und Klaus Cäsar Zehrer. Rororo, 2016. 224 Seiten. 12,00 Euro.

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