Geschrieben am 1. Oktober 2011 von für Bücher, Crimemag

Ángel de la Calle: Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts

Eine Frau des 20. Jahrhunderts

Tina Modotti (1896–1942) war eine, wie es so schön heißt, vielschichtige Frau. Neben vielen anderen Dingen eine Pionierin der Fotografie und eine überzeugte Kommunistin, später eine anscheinend beinharte Stalinistin. Ihr Leben als „Biopic“ und das Biopic als Comic, als graphic novel – getextet und gezeichnet von Ángel de la Calle. Thomas Wörtche erfreut sich an einem Meisterwerk.

Tina Modottis sachlichen, formal rigiden Fotos – ihre Callas kennt vermutlich jeder, die Frau mit der Fahne auch – hatten einen unüberschätzbaren Einfluss auf die Entwicklung des noch jungen Mediums Fotografie. Sie war Schauspielerin in Hollywood, verkehrte im avantgardistischen Mexiko City der 20er Jahre mit allem, was Rang und Namen hatte, darunter Diego Rivera, dessen Arbeit an seinen wichtigen Wandgemälden sie exklusiv dokumentierte, dem sie Frieda Kahlo vorstellte und dem sie Modell stand. Das tat sie auch für den frühen Großmeister der Fotografie, für Edward Weston, ihren Lehrer und Geliebten, von dem sie sich später entliebte, aber ihm noch danach eine faszinierende, wenn auch erratische Briefpartnerin blieb. Sie dokumentierte authentisches mexikanisches Leben auf dem Land, das nicht schicke, das nicht pittoreske. Sie war sexuell autonom. Tina Modotti war „in“, sie und der Zeitgeist waren „links“, Mexiko City war sexy, Breton, Trotzki, Eisenstein, alle waren da, Modottis „Schüler“ Alvarez Bravo (hier bei cultmag) hat sie alle porträtiert und die Atmosphäre der Zeit festgehalten.

Dann verliebte sie sich ernsthaft – in den im mexikanischen Exil lebenden Gründer der kommunistischen Partei Kubas, Julio Antonio Mella. Und der wurde am 9. Januar 1927 ermordet, unter sehr rätselhaften Umständen und unter den Augen von Modotti.

Tina Modotti

Biopic?

Mit diesem Mord beginnt der spanische Comic-Zeichner und -Szenarist Ángel de la Calle sein Opus magnum. Eine Biographie von Tina Modotti als graphic novel, eine Annäherung an eine Frau, die ihn seit Jahrzehnten beschäftigte. Aus einem gezeichneten Biopic über eine Künstlerin, die in den letzten Jahren immer mehr in den Schatten von Frieda Kahlo geriet, macht de la Calle ein extrem vielschichtiges Werk, Comic as Comic can – und das ist sehr viel. „Modotti“ ist eine Geschichte der linken Illusionen und Enttäuschungen und eine Geschichte der mit dieser Linken verbundenen Künste. Es ist auch die Geschichte des Comic- und Crimefictionfreaks Ángel de la Calle aus dem asturianischen Gijón, der zusammen u. a. mit dem nach Mexiko exilierten Co-Gijonesen Paco Ignacio Taibo II das historisch immer noch wichtigste Krimi-Festival der Welt, die Semana Negra, gegründet hat (inzwischen um ein wichtiges Comic-Festival erweitert, das de la Calle leitet). Während er „Modotti“ über die Jahre hinweg recherchiert, plant, schreibt und zeichnet, entwickelt sich die Semana Negra zu einem Riesenfestival, hat mit politischen Widersachern zu tun, vernetzt sich immer besser in der Welt der Populären Kultur. Taibo und de la Calle fliegen um die Welt, streiten, diskutieren, reflektieren – auch als ihre eigenen, satirischen und parodistischen Alter Egos, als trotzkistisch und stalinistisch gewendete Superhelden aus dem Marvel-Universum – die ewigen Fragen um Politik und Kunst. Diese Passagen des Comics sind so intelligent, federleicht und ironisch gemacht, stets im undogmatischen, fröhlich anarchistischen Modus gehalten.

Der historische Prozess

Dieser komisch-anarchistische Modus bildet den Kontrapunkt zu der immer düsterer werdenden Geschichte der Tina Modotti. Denn je mehr sie sich der Dokumentarfotografie widmet und im Lande herumreist, desto politischer wird sie. Ihre Fotos werden, so wie Walter Benjamin es im „Kunstwerk-Aufsatz“ formuliert hat, „Beweisstücke im historischen Prozeß“. De la Calle lässt später Tina Modotti und Walter Benjamin in Paris zusammentreffen, als sie schon für die Komintern einen Kongress organisieren soll und die Crème de la Crème der europäischen Intellektuellen noch einmal innerlich defilieren lässt. Ein intellektuelles Milieu, von dem sie sich schon allmählich entfernt hat, aber zu dem sie nichtsdestotrotz immer noch gehört: Louis Aragon, James Joyce, Robert Capa, Ernest Hemingway, André Gide, André Malraux & Co.

Tina Modotti, Vittorio Vidali, 1930

Stalinismus

Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird aus einem spannenden Leben ein rätselhaftes. Tina Modotti lässt sich mehr und mehr auf die offizielle Linie der KPdSU ein. Zunehmend gerät sie unter den Einfluss von Vittorio Vidali, einem stalinistischen Hardliner und vermutlich auch Killer, aus dessen Radius sie nie mehr verschwinden sollte. Ob er schon möglicherweise bei der Ermordung Mellas die Finger im Spiel hatte und Modotti aus Parteiraison als Augenzeugin schwieg – man weiß es nicht, und de la Calle tut uns nicht den Gefallen, eine These anzubieten. Stattdessen zeichnet er die Mordnacht so, dass alles offen bleibt, polyvalent, für jede Interpretation zugänglich.

Die Ästhetisierung des Politischen und die Politisierung der Kunst

Den zweiten Teil der Benjamin’schen These, dass der Kommunismus – als Antwort auf die faschistische Ästhetisierung des Politischen – die Kunst politisiert, trifft auf Modotti nicht mehr zu. Sie hört auf zu fotografieren und ist nur noch in klandestinen Missionen für die Komintern und andere Formationen der Partei unterwegs, im Spanischen Bürgerkrieg und anderswo auf der Welt. 1942 stirbt sie – unter rätselhaften Umständen – auf dem Rücksitz eines Taxis in Mexiko City. Ermordet? Oder einfach an Erschöpfung vom Leben? Auch hier gibt der Comic keine Antwort, aber Ángel de la Calle neigt, zumindest im Gespräch, zur Erschöpfungsthese …

Kultur, linke Politik, Avantgarde, Revolution, Glamour, Autonomie, Witz und Geist, Verirrung und Sinn für Gerechtigkeit, schlimme Realitäten, Schönheit, Sex und Gewalt, Krieg und Terror, Anstand und Ranküne – man kann die Begriffe nur so hochtürmen, die Komplexionen und Polyvalenzen aufreihen, sich in subtilen historischen und psychologischen Exegesen ergehen. Man kann aber auch wie de la Calle das probate, konzentrierte Medium finden: den Comic vulgo graphic novel.


George Grosz

Bilder, Bilder und Bilder …

Ohne grundsätzlich zu werden: Comics kombinieren Bilder und Texte, arbeiten mit dem Layout der einzelnen Seiten, der einzelnen Kästchen, mit Details und Panoramen mit Dialogen und Kommentaren, mit Rahmen und ohne Rahmen. Comics steht für den „Bedeutungsaufbau“ eine noch höhere (statistische gesehen) oder andere (im Vergleich zur Prosa oder zu Gemälden etc.) Variabilität bei der Inszenierung von komplexen Geschichten zur Verfügung. Die erzähle Geschichte – das Leben einer faszinierenden Frau – mag relativ einfach sein, die Kontexte, Bezüge, Unter- und Hintergründe, die Haltung zum Leben und zur Kunst sind es nicht.

De la Calle nützt diese Möglichkeiten voll aus. Das muss er auch, denn die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich ja durch eine ungeheure Ereignisdichte aus. Fast alles davon affizierte das Leben Tina Modottis und die zweite Hälfte steuerte sozusagen die Möglichkeiten dazu bei, diese erste Hälfte zu graphic novel zu verdichten. Ein kleines Beispiel: Wir sehen Modotti in Moskau vor der Lubjanka stehen, winzig, angesichts des düsteren Gemäuers. Wir sehen drei Köpfe – Jagoda, Jeschow und Beria, die jeweils Direktoren des KGB waren und zu den großen Scheusalen des Jahrhunderts gehören und wir blicken auf eine Seite, die keinen Rahmen hat, aus der unbegrenzt, sozusagen, das Blut (auch wenn „Modotti“ ein s/w-Comic ist, stellen sich die Farben, besonders die des Blutes assoziativ her) in großen Strömen heruntertropft und als Bildhintergrund dient. Eine Seite weiter wird der Mord an Mella zum Thema. So erzählt man mit Bildern, so entsteht Bedeutung, die man nicht erklären muss.

Picassos Guernica

Überhaupt Bilder: „Modotti“ erzählt auch in Bildern über Bilder, vermittels Bilder. Zitate allenthalben, in Berlin Georg Grosz, im Spanischen Bürgerkrieg Picasso, bei Idyllen Manet & Monet (ironisch) etc. – man könnte fast jede Seite hernehmen und die Verweise entschlüsseln (na ja, entschlüsseln muss man nicht, de la Calle verlässt sich klugerweise auf das jeweilige starke kommunikative Potential der Verweise, die möglichst jeder kennt). Das Verfahren allerdings hat wenig mit der postmodernen Zitat-Kultur zu tun, mit Intermedialität oder sonst dergleichen. De la Calle Umgang mit fremden Bildmaterial dient der Verdichtung, der Verdeutlichung, der Vergegenwärtigung der jeweiligen psychologischen, gesellschaftlichen oder historischen Verhältnisse der erzählten Situation. Berlin, in der Weimarer Republik und die Grozs’schen Gestalten, da muss man keinen Geschichtsvorlesung mehr halten.

Zudem verweist das Verfahren auch auf die Wirkmacht der Bilder, auf Prägungen, auf Wertungen und auf eine bestimmt Sicht der Welt. Georg Grosz zum Beispiel hat keine „objektive“ Sicht, sondern einen Standpunkt, den de la Calle mit übernimmt.

High & Low

Ein Letztes: So wie es Methode hat, dass de la Calle für seine Bildersprache auf das kommunikative Potential von Hochkultur (Picasso) und Populärer Kultur (Marvel/DC-Comics) zurückgreift und auch keine interne Hierarchie behauptet, so ist es nur logisch, dass er kriminalliterarische Narrative benutzt: Die beiden ungeklärten Tode als erzählerische Drehpunkte, die Atmosphären des noir, die Queste nach den Lebensmotiven von Tina Modotti, die Verweise auf Jerome Charyn etc. und vor allem auf Taibo, dessen große Romane („Vier Hände“ etc. (hier und hier bei cultmag) oft in der Modotti-Zeit spielen und ihrerseits Polit-Thriller und andere Subgenres des Kriminalliteratur vermischen, so wie man auch „Modotti“ als Polit-Thriller in Comicform lesen könnte …

Wenn Untertitel je sinnvoll waren: „Eine Frau des 20. Jahrhunderts“ ist es. Tina Modotti war eine der großen Figuren des Jahrhunderts; Ángel de la Calles „Modotti“ gehört zu den großen Werken der „neunten Kunst“ und damit zu den wichtigen Kunstwerken unserer Zeit, denn das 20. geht im 21. Jahrhundert noch munter weiter.

Thomas Wörtche

Ángel de la Calle: Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts. (Modotti. Una mujer de siglo XX, 2007) Comic. Deutsch von Timo Berger. Berlin: Rotbuch Verlag 2011. 271 Seiten. 16,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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