Magier des Lichts
Mexiko ist ein Kulturraum mit vielen Facetten. Und ein gewaltgesättigter Verbrechensraum … Außerdem ist Mexiko eine Projektionsfläche für populäre Mythen aller Arten. Der bedeutendste Fotograf dieser Vielfalt war Manuel Alvarez Bravo. Durch sein Fotowerk führt Thomas Wörtche.
Der Mexikaner Manuel Alvarez Bravo gehört zu den ganz großen Fotografen des 20. Jahrhunderts, schon fast im Wortsinn, denn er ist 100 Jahre alt geworden (1902–2002). Er war kein Fotoreporter, kein expliziter Chronist, sondern ein Bild-Künstler, ein Arrangeur und notfalls ein Arrangeur des Schnappschusses. Sein Umgang mit Licht hat ihm die Bezeichnung „Magier des Lichtes“ eingebracht – von John Banville, dessen eigenes Werk sich bekanntlich ebenfalls um Wahrnehmung und Perzeption von Welt dreht.
Alvarez Bravos Fotos, die in dem angemessen aufwendigen Band Photopoetry in glänzender Reproduktion repräsentativ vertreten sind, zeigen ihn und seine Arbeit in den ganzen komplexen Beziehungs- und Kraftfeldern des Jahrhunderts. Wir vergessen gerne, dass Mexiko nicht nur ein Land voller romantischer und manchmal atavistischer Projektionen und Realitäten ist (Machismo, Tequila und Mariachis, Revolution und Subcomandante Marcos, Grenzelend und grandiose Natur), sondern auch ein Land mit offener Tür für Exilierte und mit ausgeprägtem Feeling für intellektuelle und künstlerische Avantgarde. Besonders in der Zeit nach dem Bürgerkrieg tummelte sich, neben Trotzki, so ziemlich alles in Mexiko City, was in der Schnittmenge von Avantgarde-Film, Malerei, Literatur und linker Politik verschiedener Coleur Rang und Namen hatte. Die schönen Porträtfotos von Alvarez Bravo zeigen sie uns alle: Diego Rivera, André Breton, Trotzki (gar in netten Gruppenfotos), Frida Kahlo, Juan Rulfo, Sergei Eisenstein und andere mehr. Der Umgang mit den Surrealisten und überhaupt der zeitgeistig aktuelle Surrealismus beeinflusst deutlich Alvarez Bravos Abbildungen und Arrangement von Körpern, seine Akte und Teil-Akte. Sie erscheinen als Ausschnitt, Torsi, gespiegelt, reduziert, als ornamentale Formen und in ironisch-voyeuristischer Inszenierung und Perspektive – Stilmittel, die er bis in die 1990er Jahre beibehielt. Ohne Schaden übrigens, weil es Alvarez Bravo gelang, jeweils die Substanz aus den aktuellen Trends zu filtern und zu eigenen, zeitloseren Lösungen zu kommen.
Geometrie und Verbrechen
Auf der andere Seite stehen strenge, geometrische Etüden zur Natur und unbelebten Gegenständen – abstrakte Stillleben manchmal, nur durch Linien und das Licht definierte geometrische Körper und Flächen, sachliche Vektoren, semiotische Rätsel und inmitten der Kühle ironische Pointen.
Eine weitere, ebenso durchkomponierte, wenn auch spontaner scheinende Facette seines Werkes sind Bilder aus dem „normalen“ Leben, eher aus dem ländlichen denn aus dem städtischen Mexiko (Städte-Fotos hat Alvarez Bravo anscheinend lieber in Chicago gemacht, in London oder Paris, wo er des Öfteren lebte und arbeitete). Eindrückliche Porträts von Menschen, Alltagsszenen (wenig narrativer, eher kontemplativer Natur), Tableaus und dann letztlich doch ganz entschieden politische Kommentare. Denn bei allem lässt uns auch Alvarez Bravo, der nicht umsonst sehr viel von der revolutionären Fotografin Tina Modotti gelernt hat, nicht vergessen, dass Mexiko ein von extremer Gewalt, von Krieg und von Verbrechen geprägtes Land der schärfsten sozialen Kämpfe war (und ist): Sein quasi post-mortem-Porträt (auch hier findet sich nichts Anekdotisches) „Streikender Arbeiter, ermordet“ ist von einer gnadenlosen Präzision, wie sie nur größte Empathie und dezidierte Stellungnahme hervorbringen können.Photopoetry ist die liebevolle Ehrung für Manuel Alvarez Bravo, die ihm wahrlich zusteht.
Thomas Wörtche
Manuel Alvarez Bravo: Photopoetry. Mit einem Vorwort von Colette Alvarez Urbajtel und Texten von John Banville, Jean-Claude Lemagny und Carlos Fuentes. 374 Fotografien in Tritone. Deutsch von Rudolf Hermstein (Banville, Chronologie), Sophia Marzoff (Vorwort, Lemagny) und Luis Ruby (Fuentes, Bildtitel). Schirmer/Mosel 2008. 336 Seiten. 58,00 Euro.