Geschrieben am 4. November 2018 von für News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Frank Schorneck über Lucy Fricke und Frank Schulz

U1_978-3-498-02007-1.inddVäter und Mütter  – und was man mit ihnen verliert

Verlust oder auch die Angst davor sind das Triebmittel fast aller Bücher, besieht man es sich näher. Frank Schorneck bespricht für uns zwei davon: „Töchter“ von Lucy Fricke und  „Anmut und Feigheit“ von Frank Schulz.

I. Im Namen der Väter

Eine nicht mehr ganz so junge Frau streift durch Rom, ihr eigentliches Ziel ist ein kleines Städtchen in den Bergen, ganz genau: ein Grab in diesem Ort. Seit zehn Jahren hat sich Betty vorgenommen, dieses Grab zu besuchen, da wird es auf ein paar Tage nicht ankommen. Der Mann, an dem sie in ihren eigenen Augen „auf ungute Weise hing“, war ihr Vater. Allerdings nicht ihr leiblicher – doch dieses Verhältnis beleuchtet Lucy Frickes Roman „Töchter“ erst später, denn zunächst einmal bringt ein Anruf ihrer langjährigen Freundin Martha Bettys Pläne durcheinander. Der Anruf gibt den Startschuss für ein wunderbares literarisches Roadmovie: Marthas krebskranker Vater hat beschlossen, seinem Leben in der Schweiz ein Ende zu bereiten und bittet für diese Reise um Begleitung. Ein Fahrzeug für diese letzte Reise steht bereit: Der Golf, Baujahr 1996, wurde über ein Jahr nicht bewegt, ist vom letzten Blütenjahrgang verklebt. Den Motor zu starten, ist für Betty wie das Aufwecken eines Toten. Wie passend, wenn man das Ziel der Reise bedenkt.

Wer Lucy Frickes Bücher kennt, ist Martha und Betty schon einmal begegnet: In „Ich habe Freunde mitgebracht“ stehen beide vor wichtigen Wendepunkten in ihren Leben und finden sich gemeinsam in einem Fluchtauto wieder – zwei Frauen und zwei Männer um die Dreißig auf der Fahrt ans Meer.

Nun fahren ein sterbender alter Mann und zwei Frauen um die Vierzig Richtung Süden. Im Wagen der Geruch von Anspannung, Traurigkeit, Angst, Alter und zu viel Nähe. In der Schweiz gesteht der Mann, dass er vor seinem Tod eine frühere Liebe am Lago Maggiore besuchen wolle. Schnell stellt sich heraus, dass der vermeintliche Umweg das eigentliche Ziel des Vaters war. Der Roman nimmt zahlreiche solcher überraschender Wendungen, die Betty letztlich auch mit der eigenen Vergangenheit konfrontieren. Das Grab wird sie tatsächlich noch besuchen, allerdings verläuft dieser Besuch ganz anders, als sie es sich ausgematl hat. Die italienische Polizei und die Mafia spielen eine Rolle ebenso wie ein Geflecht aus Enttäuschung, Lüge und Rache.

Souverän hält Fricke in ihrem neuen Roman die erzählerischen Fäden in der Hand. Während sie in „Ich habe Freunde mitgebracht“ noch in personaler Erzählhaltung die Perspektiven ihrer vier Protagonisten eingenommen hat, legt sie diesmal den Fokus gänzlich auf Betty und macht sie zur Ich-Erzählerin der Geschehnisse. Betty ist selbst Autorin, was ihren souveränen Umgang mit Sprache und vor allem ihren sehr selbstironischen und pointierten Blick auf das eigene Verhalten glaubhaft erscheinen lässt. Es ist diese Erzählhaltung, die den Roman zu einem großen Lesespaß werden lässt. „Ich führe ein Leben, für das Generationen von Frauen vor uns gekämpft haben. Das kannst Du unmöglich verkorkst nennen. Ich bin das Maximum an Freiheit“, sagt Betty – doch ist sie alles andere als zufrieden mit diesem Leben. Mit dem Zynismus, mit dem sie alles Gesehene und Erlebte kommentiert, versucht sie, vor allem sich selbst über diese Tatsache hinwegzutäuschen.

Frickes Roman heißt zwar „Töchter“, doch eigentlich stehen die Väter fast auf jeder Seite im Mittelpunkt. Denn „Tochter“ kann man immer nur sein in Bezug auf seine Eltern – in diesem Fall konkret auf die Väter. Es sind Väter, die abwesend sind, die sich aus dem Staub gemacht und sich der Verantwortung auf die eine oder andere Art entzogen haben. Marthas Vater hat seine Tochter während seiner zweiten Ehe nahezu vollständig vergessen, um sich später als krebskranker und hilfebedürftiger Witwer wieder in ihrem Leben zurückzumelden. Betty kann gleich drei verkorkste Vater-Tochter-Beziehungen vorweisen: Da gibt es „den guten, auch genannt Der Posaunist, den bösen, auch genannt Das Schwein, und den leiblichen, genannt Der Jochen.“ Lucy Fricke beschreibt in ihren Protagonistinnen eine Generation von Töchtern, in deren Kindheit Väter kaum präsent waren. Das Phänomen, der „Neuen Väter“, die eine aktive Rolle spielen, ist noch ein recht junges.

Sterbehilfe, verpasste Gelegenheiten zur Aussprache, endgültige Abschiede – der Roman könnte schwermütig und (selbst-)mitleidig daherkommen, doch Fricke schafft es, mit großer Leichtigkeit und breitem Grinsen an den Untiefen des Themas vorbei zu navigieren. Insbesondere die lakonischen Dialoge der beiden Freundinnen sind Beispiele der literarischen Hochkomik. So sinnieren die Frauen, dass heutzutage eine ganze Generation aufgrund von flächendeckenden Tätowierungen bestens auf eine spätere Altersdemenz vorbereitet sei („Da können sie ihren Körper anschauen und sich erinnern, der Rest lagert in der Cloud“). Macken von Männern und Frauen werden gleichermaßen bloßgelegt, aber auch die Auswirkungen von airbnb auf großstädtisches Leben werden sehr pointiert aufs Korn genommen. Und die Schweiz wird mit einem einzigen Satz sehr treffend charakterisiert: „Da fährt man zum Sterben in die Schweiz und kriegt eine Vignette für ein Jahr.“

Lucy Fricke: Töchter. Rowohlt Verlag, Reinbeck 2018. 240 Seiten, 20 Euro.

frank schultz9783869711737II. Älterwerden ist nichts für Feiglinge

Zu Recht gilt er als Meister des Dialogs, der die Klaviatur von Dialekt und Soziolekt wie kaum ein anderer zu spielen versteht. Seine „Hagener Trilogie“ um den Alkoholiker und psychisch arg angeschlagenen Bodo Morten besitzt Kultstatus und sein Ausflug ins Krimi-Genre hat der Szene mit dem noppenbesockten Onno Viets einen ebenso ungeschickten wie liebenswerten Privatdetektiv beschert. Nicht zuletzt sein kreativer Umgang mit Sprache hat ihm neben vielen anderen Auszeichnungen den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor beschert.

Jetzt meldet sich Frank Schulz mit einem neuen Erzählband zurück. „Anmut und Feigheit“, so der Titel, wiegt Fans mit der ersten Geschichte „Szenen in Beige“ in Sicherheit. Vertraut ist der Tonfall, mit dem Schulz den Kommunalbeamten Korsch begleitet, der kürzlich seinen 60. Geburtstag hinter sich gebracht hat. Auch wenn die Deutsche Bahn ihm mittlerweile einen Seniorenrabatt zur BahnCard anbietet, legt Korsch Wert darauf, noch lange nicht zum alten Eisen zu gehören. Allenfalls als „Juniorsenior“ sieht er sich, doch gleichzeitig bezeichnet er seine dreiundzwanzig Jahre Jüngere Lebensgefährtin selbstironisch als „Betreuerin“. „Titanic“-Lesern dürfte diese Konstellation bekannt vorkommen: Die Kolumne „Szenen in Beige“ ging dieser Geschichte voraus. Sprachlicher Witz und Situationskomik heißen den Schulz-Fan willkommen, wenngleich unter der ironisch gebrochenen Oberfläche die tief liegende Angst vor der Vergänglichkeit spürbar ist. Die Zeichen sind eindeutig: Da ist der Warnschuss eines glimpflich überstandenen Schlaganfalls, da sind die Frotzeleien mit der Betreuerin über das real auf dem Tisch liegende Formular einer „Vorsorgevollmacht“…

Die zweite Erzählung ist mit rund 40 Seiten die längste des Bandes und schlägt einen gänzlich anderen Tonfall an. Frank Schulz legt hier den Schutzmantel der Fiktion ab und beschreibt in schmerzhafter Deutlichkeit sein Erleben des Todes seiner Mutter: Am Morgen ihres sechsundsiebzigsten Geburtstags muss die Mutter ins Krankenhaus – nur widerwillig, schließlich werden Gäste erwartet. Zunächst reagiert und funktioniert die Familie mit einer gewissen Abgeklärtheit, es ist nicht der erste Krankenhausaufenthalten der betagten Mutter. Als Schulz telefonisch erfährt, dass die Mutter im Krankenhaus gestürzt ist, fährt ihm noch die beruhigende Floskel „wie dramatisch konnte das schon sein?“ durch den Kopf – die Diagnose „Schädelbasisbruch“, die ihm vor Ort offenbart wird, trifft dann mit umso größerer Härte. Schulz protokolliert die letzten Tage zwischen Hoffnung und Verzweiflung sehr eindringlich und gewährt seinen Lesern unverstellte Einblicke in die Gedanken und Ängste, die ihn im Krankenhaus beschleichen. Auch im Dialog mit einer Ärztin kann er seine Liebe zu korrektem Sprachgebrauch nicht unterdrücken, doch setzt er seine linguistische Überlegenheit nicht ein, um Humor zu erzeugen, sondern die hohlen Floskeln medizinischen Personals zu entlarven. Die distanzlose autobiographische Erzählweise, die ungewohnte Nähe zum leidenden Autor sind auch für den Leser eine Herausforderung. Im Gespräch am Rande einer Lesung in Oberhausen gestand Schulz, dass er lange um die Aufnahme dieses Textes in das Buch gerungen hat – mit dem Lektorat und mit sich selbst. Es ist ein Glücksfall, dass seine Familie – im Text durchweg mit Initialen benannt aber ansonsten nicht verfremdet – die Zustimmung zur Veröffentlichung erteilt hat. „Rotkehlchen“ ist eine Liebeserklärung an die Mutter, die bei aller Trauer auch versöhnliche, beinahe tröstliche Töne anklingen lässt. Wenn Schulz Zwiesprache mit einem Rotkehlchen hält, das ihm wie ein Bote der Mutter erscheint, ist dieses Bild fern von jeglichem Kitsch und Esoterik. Schulz bezeichnet den Text selbst als „Fragment“, weil die Trauer sich nie abschließend in Worte fassen lässt, dieses Lebenskapitel nie wirklich „abgeschlossen“ ist. Genau so wirkt die Geschichte im Leser nach – gerade der unmittelbare, durch keinerlei erzählerische Distanz gemilderte, Schmerz hallt lange nach.

Doch keine Angst, Schulz wird in den folgenden Texten noch hinreichend seinem Ruf als großer Humorist gerecht. Ob er die Gespräche einer Hamburger Gartenparty genüsslich seziert oder einer Glückssucherin am Spielautomaten in einer Kneipe auf die Finger und in den Kopf schaut: Schulz ist unglaublich nah an seinen Charakteren, hat ein feines Gespür für Zwischentöne und Nuancen. Mit „Das Unheimchen“ wagt Schulz einen kurzen Abstecher ins Genre des gepflegten Grusels, nicht jedoch ohne Augenzwinkern.

Seinen zahlreichen Fans am besten gefallen werden jedoch sicherlich die Texte, in denen er sich erneut den Figuren seiner „Hagener Trilogie“ zuwendet, Episoden aus dem dörflichen Leben erzählt, die zwischen Sehnsucht und Wehmut changierend vor Komik strotzen. Hier ist Schulz spürbar in seinem Element, leichtfüßig nimmt er sich der pubertären Schwärmereien seines Erzählers an und unversehens findet sich der Leser mitten in einer haschischvernebelten WG-Wohnung  der siebziger Jahre wieder oder auch im dichten vLa_bella_naturaGeäst der altehrwürdigen Rosskastanie, die das Dorfleben über Jahrzehnte, fast Jahrhunderte stumm beobachtete. Mit Bodo Morten, Kolki, Satschesatsche, aber auch der unwiderstehlichen Karin Kolk fühlt man sich als Leser sofort wohl unter alten Bekannten. Allerdings – auch das sei gesagt ohne spoilern zu wollen: Von Bodo Morten, seinem literarischen Alter Ego, nimmt Schulz ebenfalls Abschied. Ein Schlaganfall rafft den unentwegt an seiner autobiografischen „Säufernovelle“ arbeitenden Bodo dahin – Ironie des Schicksal spielenden Autors, dass mit dem „Juniorsenior“ ein anderes Alter Ego Schulzens einen solchen nicht nur überlebt, sondern auch gut überstanden hat.

The Show must go on – auch wenn Frank Schulz wehmütig schildert, dass er wohl keine neue Trilogie mehr schreiben werde. Es ist keine Koketterie, wenn er meint, die Zeit reiche ihm hierfür nicht: Aus Schulz spricht ein Mann, dem die eigene Vergänglichkeit sehr bewusst geworden ist. Schon sein erster Erzählband „Mehr Liebe“ aus dem Jahr 2010 offenbarte eine düstere, zuweilen gar brutale Seite des Autors, doch was damals wie ein Ausprobieren anderer Tonfälle und Stilmittel wirkte, kommt in seinem neuen Erzählband nun wahrhaftiger, unmittelbarer, mutiger daher.

Frank Schulz: Anmut und Feigheit. Galiani-Berlin, 2018. 336 Seiten, 22 Euro.

 

Frank Schorneck ist Rezensent und Literaturveranstalter (u.a. „Macondo – Die Lust am Lesen“) sowie Vorleser. Mit seinen Kollegen von der www.whiskylesung.de widmet er sich dem Wechselspiel von Alkohol und Literatur.

 

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