Geschrieben am 2. April 2017 von für Litmag, News, Special ESSAY Special, Specials

Hier gehts rein ins Special ESSAY Special

[Surinam caiman (probably Paleosuchus palpebrosus) biting South American false coral snake (Anilius scytale)] [Maria Sybilla Meriaen Over de voortteeling en wonderbaerlyke veranderingen der Surinaemsche insecten] , Transfer engraving, hand-colored , 1719 , Merian, Maria Sibylla, 1647-1717 Sluyter, Peter, 1645-1722

 

HIER GEHTS REIN!
INS
Special ESSAY Special

von Brigitte Helbling

 
Oder sollte ich besser vom „Geist der Essayistik“ sprechen?

Essays, wie sie heute im deutschsprachigen Literaturraum hochgehalten werden (etwa in Reclams „Der Essay“ von 2012), sind in erster Linie kenntnisreiche Vorträge, mit Ausdauer erjagtes Wissen, das mit großzügiger Geste ausgeteilt wird. Selbst überraschende Einsichten führen hier hauptsächlich zu weiteren Ansichten. Der Suchvorgang als Gegenstand der Erzählung interessiert wenig. Diesen Essayisten geht es darum, Ergebnisse zu liefern.

Ich mag aber die Obsessionen, die nicht unter einem Faktenberg begraben werden, ich mag die Dringlichkeit in einem intellektuellen Belagerungszustand, in  Themenfeldern, die einen nicht loslassen wollen (ich erlebe das seit einiger Zeit mit dem Essay). Ist der Essay nicht gerade ein ideales Gefäß für das, was einen obsessiv verfolgt  (von einem verfolgt wird)?

Und gerade, weil er sich immer neu erfinden muss! In den USA tut er das seit einigen Jahren, vielleicht nicht zufällig, darüber hatte ich geschrieben, doch dann spazierte mir Robert Walser durch den Kopf: „Immer dieses Amerika, Amerika, dieses stumpfe, blindwütige Drängen nach Amerika!“ Also dachte ich (denn auch bei Walser handelt es sich um einen großartigen Essayisten), dass man ja noch einmal nachschauen kann, wie es so steht mit dem Essay im deutschsprachigen Raum.

Bevor ich aber zur vorliegenden Essay-Auswahl gefunden hatte, begegnete mir Michael Hamburgers „Essay über den Essay“ von 1965. Ob eine definitive Theorie des Essay überhaupt möglich (oder wünschenswert) ist, weiß ich nicht, doch Hamburgers Essay erzählt auf grade mal drei Seiten so ziemlich das meiste, was mich aktuell an der Form – „…aber der Essay ist keine Form, hat keine Form!“ ruft Hamburger dazwischen – begeistert. Deswegen wird er hier in seiner ganzen, herrlichen Kürze präsentiert. Mit Hamburger als Schutzpatron gelange ich zu sechs Exemplaren von deutschsprachiger Essayistik, die mir allerdings höchst außergewöhnlich und aufregend vorkommen: Peter Tscherkassky (Film-Essay), Anke Feuchtenberger (Comic-Essay), Stefanie Sargnagel (Essayistik im Geiste von Facebook), Claudia Reiche (lyrisches Essay), Lukas Bärfuss (Die Rede als Essay) und Jörg Albrecht (Radio-Essay).

So war ich nun schon fast zufrieden. Eins fehlte noch: Eine klare Stimme (von heute) zur Bedeutung des Essays, der Essayistik – gerade heute.

Hamburger hält 1965 ja doch eher eine Grabrede auf den Essay (über dessen Leichnam der „Geist der Essayistik“ aufsteigt), und er meint vor allem Texte. Heute dagegen, wo Wissen und Ansichten auf vielen Feldern einzuholen sind (die aber meist doch nur von Bauern oder Spekulanten begangen werden), scheint der Essay in seiner ketzerischen Lust, vor allem Fragen und Nichtwissen nachzugehen, weit mehr als nur Spielerei (und war es vielleicht immer schon)?

Demnach führt Essayistik schon auch mal zur Aufruhr. Und weil Sender und Empfänger nirgends so eng wie im Essay (außer vielleicht in der Lyrik) zusammenspannen (müssen), wird dieser Aufruhr auf beider Seiten stattfinden.

Am Ende dieses Essay-Special steht Marlene Streeruwitz’ „Ankleben Verboten“ mit seiner Aufforderung „Mach Aufruhr!“, den die Autorin für den Roman einfordert, der mir aber für die Essayistik ebenso gültig scheint, vielleicht noch mehr. Der Listentext erschien 2011. Das gefiel mir dann auch: Dass Streeruwitz hier einen der großen Essayisten im deutschen Sprachraum fortschreibt, Walter Benjamin.

Sechs Mal Außergewöhnlich: Neue deutschsprachige Essays

Meine sechs Essaybeispiele sollen für sich sprechen – ich werde sie hier lediglich kurz vorstellen. In den Beiträgen selbst sind weiterführende Links für interessierte Leser (Betrachter) angegeben. Von allen Urhebern (im Fall von Sargnagel: vom Verlag) habe ich die Einwilligung eingeholt, ihre Essayistik online zu stellen (oder zu verlinken). Alle sind sie mir großzügig entgegengekommen, ebenso Marlene Streeruwitz und Michael Hamburgers Erben (so macht das Sammeln Freude).

 

rede_lukas_baerfuss_finalLukas Bärfuss: AM ENDE DER SPRACHE (Dresdner Rede 2017) Auf der Website der Dresdner Reden kann „Am Ende der Sprache“ in der Vortragsversion angehört werden, im Textbild wird daraus etwas anderes – Zeilenfälle folgen keiner Sprechpause,  Worte setzen sich selbstbewusst in den Seitenraum. Bärfuss findet ‚am Ende der Sprache’ Gewalt, an einem anderen Ende aber auch das wortlose Sich-Erkennen von Liebenden. Dresden ist Objekt und Impulsgeber, in dieser Stadt und ihren umliegenden Regionen – erinnert, erlebt, erlesen – landen die Ausführungen immer wieder, um dann erneut hochzufahren, wütend oder leidenschaftlich zugewandt. Beeindruckend die Dramaturgie, noch beeindruckender die Gefühlslagen, die sie vorantreiben: Bei wenigen Essayisten liegen die Bereitschaft zum Zorn und zur Hingabe so dicht beieinander.

Wir stellen den Anfang vor und verlinken dann zum PDF (zum Lesen und Downloaden).

rde008-stefaniesargnagel-fitness-COVER_72dpiStefanie Sargnagel: FITNESS (2015). Essayistik geboren aus dem Geist von Facebook – so könnte man Sargnagels Buch „Fitness“ beschreiben, in dem neben (ausgewählten) Postings auch Notizen und Artikel (dazwischen Comics) zu einem neuen Ganzen zusammengefügt sind. Chronologisch strukturiert folgen die Kürzesteinträge den Befindlichkeiten und Beobachtungen der Figur „Stefanie Sargnagel“, eine Ich-Inszenierung für die sozialen Medien („mein Privatleben geht alle etwas an“). Das Ergebnis liest sich wie eine Kreuzung von Lichtenbergs „Sudelbüchern“ und Standup nach Lenny Bruce (in unserm Auszug aber doch mehr Lichtenberg).  Sargnagel beansprucht für sich die Denk- und Redefreiheit der Außenseiterin und scheint auch von „Shitstorms“ wenig beeindruckt: In „Fitness“ sind sie ihr lediglich eine Handvoll Andeutungen wert. – „Aber ist es Literatur?“ hört man bisweilen das Feuilleton seufzen. Eine seltsame Frage. Hier erlebt der Leser die Verfertigung einer berückend freien Textsorte quasi in Realzeit mit, als „ein Spiel, das seine eigenen Regeln schafft.“

(Wir stellen „Fitness“ in einem Auszug vor, mit freundlicher Erlaubnis der Herren Verleger Dahimène und Redelsteiner.)

Instructions 4Peter Tscherkassky: INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE (2010) „Instructions for a Light and Sound Machine“ sind 16 Minuten minutiös und vielfach (hand)bearbeitete „Found Footage“ aus ausrangierten 35mm-Filmrollen (samt Vor- und Nachspann, die nur für Kinovorführer bestimmt waren) eines Westerns. Der Titel meint „Instruktionen“ für die Justierung von Filmvorführgeräten. Deren Maschinenleben mit Filmrollen-Knattern und Licht-Stottern spielt in dieser flirrend-delirierende Genre-Verdichtung (nach Sergio Leone) maßgeblich mit. Ein „universeller Betrachter“ taucht gleich zu Beginn des Films auf und öffnet (buchstäblich) ein Fenster in ein Bild-Ton-Erleben, das aus einem Western alle Western schafft und staubige Projektionskabinen als Orte der Sehnsucht gleich mitlaufen lässt. Alchemie aus der Dunkelkammer; ohne Worte, eine fantastische Fahrt in einer sich rasant auflösenden Ära des Films.

(Die Youtube-Version, zu der wir verlinken, ist von Tscherkassky nicht autorisiert (aber leicht zähneknirschend geduldet) und gegenwärtig die einzige Möglichkeit, online Einblick in diesen Film-Essay zu erhalten.)

Anke-Feuchtenberger-Franzoesicher-Soldat-01Anke Feuchtenberger: WIE DER TOTE FRANZÖSISCHE SOLDAT IN MEIN BETT KAM (2014). Comic-Essayistik, „graphic essays“, setzt bei Anke Feuchtenberger mit der Zeichnung an. Wie Robert Walser (oder auch Stefanie Sargnagel), ist Feuchtenberger Spaziergängerin; in diesem Essay wechseln die Szenarien zwischen Ostpommern und Paris, und aus den Bildern wachsen allmählich Erzählmuster, Erzählpartikel, verschlungene Wege durch Gedankengänge, wie sie das Spazieren hervorruft, als eine Partitur des „Kopfkinos“ im Gehen. „Wie der tote französische Soldat in mein Bett kam“ endet mit einer überraschenden Grand-Guignol-Geste, die sorgfältige Bauweise dieses Comics erinnern mich an den Satz von Enrique Anderson Imbert: „Der Essay ist ein konzeptionelles Kunstwerk; seine Struktur folgt einer gewissen Logik, aber es handelt sich dabei um eine Logik, die singt.“

Bildschirmfoto 2017-04-01 um 22.29.21Jörg Albrecht: FICTION VICTIMS (BR Webspecial 2015) Ungereimtheiten schon zu Beginn des Radio/Webbeitrags des Bayrischen Rundfunks – da ist die Frauenstimme, die vom Außenleben als „Drag King“ berichtet, da sind die Quietscher im Soundtrack, der hüpfende, bärtige Mann im Videobild… Fiction Victims. Wer spricht? Wer ist gemeint? Später, an anderer Stelle, behauptet sich ein Kollektiv, ihre Kunstnamen tauchen an weiteren Orten wieder auf, im Rahmen eines (behaupteten?) „Gemeinschaftsprodukts“, das einem multimedialen Kaleidoskop gleicht – oder einem Straßen-Jongleur, so viele Bälle in der Luft!, mit Verve und Verkleidung vorgetragen. Den Essay als Hallodri definierte schon Adorno: „Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria.“ Fiction Victims, mit der „Ketzerei im Herzen“ (ebenfalls Adorno), breitet sich in allen Facetten einer Online-Veröffentlichung aus, labyrinthisch verwickelt, als sei ein Webbeitrag eine außerösterliche Gelegenheit zum Eiersuchen. Ich teile hier meine Verblüffung, als ich Albrechts Fiction Victims zum ersten Mal begegnete: „Ach, das kann man mit dem Essay also auch?“

Unser Beitrag führt zum Webspecial des Bayerischen Rundfunks und zur Foto-Essay-Version.

6KlownsClaudia Reiche: FUNNYSORRYANGRYANONYMOUS. Clowns (2016) „In einem Essay schaut man einem freien Geist beim Spielen zu,“ stellt Cynthia Ozick fest (In: „She: Portrait of the Essay as a Warm Body“). Der Satz könnte als Leitmotiv über Reiches ‚Variante eines Manifests’ stehen; Mit einer Verbeugung Richtung Vertov im Untertitel beginnt bereits das Spiel. Sein Instrumentarium ist die Klaviatur des lyrischen Essays, fragmenthafte Streifzüge durch Narren-Gebiete, in drei Tonlagen – Bild, Text, Fußnote – vorgetragen. Mannigfaltige Clown-Manifestationen versammeln sich nicht einfach so, sondern aus durchaus aktuellem Anlass, nämlich einem US-Präsidenten, der schon im Wahlkampf wiederholt als Clown („Clod“, Erdklumpen steckt im Ursprung des Wortes Clown) betitelt wurde. „Jede Zeit hat die Clowns, die sie verdient.“ Der behaupteten Einfalt, die in Trumps Fall ausgestellt wird, begegnet Reiche in ihrem Essay mit einer schnellfeuerartigen Auffächerung von clownesker Vielschichtigkeit, nicht alles schön; als sollte beiläufig darauf hingewiesen werden, dass auch dieses Etikett, „Clown“, erst mal verdient sein will.

 

 Captionbilder zu den einzelnen Beiträgen (fast alle von Maria Sibylla Merian)
stammen aus dem Open Content Program des Getty Institutes.

 
 

 

 

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