Wie Schabbach zum Nabel der Welt wurde
– Edgar Reitz erzählt von der Hölle im Hunsrück & der Sehnsucht nach einer „anderen Heimat“. Von Wolfram Schütte.
Es gehört zu den erfreulichen Zeichen & Wundern des heutigen Tages, dass Edgar Reitz, nachdem er in den vergangenen Jahrzehnten immer verzweifelter, demütigender darum hatte kämpfen müssen, dem öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen die finanziellen Mittel für sein monumentales, dreiteiliges & episodenreiches „Heimat“-Projekt (seit 1984 zusammen über 50 Stunden) abringen musste, nun einen vierten Teil realisieren konnte, der (zuerst) in unsere Kinos kommt. Und zwar als vierstündiges Epos in zwei Teilen, das nach seinem zusammen mit Gert Heidenreich geschriebenen Drehbuch die tief in die Mitte des 19. Jahrhunderts reichende Vorgeschichte der „Heimat“-Familie Simon aus dem fiktiven Hunsrückweiler Schabbach opulent vor uns ausbreitet. Und zwar in einem großen erzählerischem Fluss, ohne jene allegorischen Überdeutlichkeiten, die noch Bernardo Bertolucci für sein vergleichbar ehrgeiziges italienisches Memorial „Novecento“(1976) bemühen musste.
Reitz – der einmal selbst als Kameramann Alexander Kluges begann – hat den historischen Stoff wieder mit dem vorzüglichen Kameramann von „Heimat 1“ Gernot Roll, an verschiedenen Orten (nicht nur) des Hunsrücks in brillantem digitalem Schwarzweiß mit gelegentlichen farbigen Akzenten realisiert. Man staunt über die feinkonturierte Tiefenschärfe seiner „lebenden Bilder“ die sowohl an Dowshenkos „Erde“ als auch an die Personen-Porträts des Westerwälder Fotografen August Sander erinnern – dies wohl auch wegen der schweren, dunklen Tracht & der breitkrempigen Hüte der Männer.
Zu den Wundern der „Anderen Heimat“ gehört aber neben ihrer dramaturgischen Erzählbalance & deren zarten musikalischen Akzenten die menschenfreundliche Fähigkeit des im Hunsrück geborenen Regisseurs, die vielen Laien seines Ensembles so zu animieren, dass „Laienspiel“ so gut wie nie erkennbar wird & vor allem auch sein Hauptheld Jakob Simon durch Jan Dieter Schneiders Darstellung von unvergesslicher Präsenz ist. Wie es Reitz & Roll überhaupt gelungen ist, heute Personen & (bäuerliche) Gesichter zu finden, die man seit Eisensteins Stummfilmen oder Viscontis „La terra trema“ in dieser physiognomischen Gegenwärtigkeit auf der Leinwand nicht mehr gesehen hat.
Landschaft, Ortschaft, Räume treten vor unser Auge mit einer solchen physischen Selbstverständlichkeit – für die dieser Historischen Film viel baulich (re)konstruieren musste –, ohne dass sich je der Eindruck von Kulissen einstellte.
So großartig „Die andere Heimat“ auch en detail montiert ist (z.B. das in Aufstand übergehende Dorffest; die Abschiede der Emigranten; Leben & Sterben, Essen & Arbeiten), so hat Roll bei seiner optischen Dynamisierung des Raums für mein Empfinden doch ein bisschen zu oft in Kranfahrten geschwelgt. Dafür aber sowohl Panoramaeinstellungen als auch Nah-& Großaufnahmen generiert, die dieser „Chronik einer Sehnsucht“ im Großen einen tiefen epischen Atem einflößen & im Kleinen einen realistischen Detailismus offenbaren, der uns Heutige in diese umfassend imaginierte, unwiederbringlich vergangene bäuerliche Welt der Armut, des Hungers, der schweren Arbeit & der väterlichen Gewalt schmerzhaft hineinversetzen. Weder romantisierende Nostalgie noch gar BluBo tangieren diesen historisch-materialistischen Blick in eine finstere Zeit, Landschaft & Gesellschaft, bei deren kinematographischer Beschwörung, dank einer außerordentlichen epischen Anteilnahme des Regisseurs, jeder Beteiligte seine menschliche Würde & Eigenart gewinnt, besitzt & bewahrt.
So dicht Reitz/Roll/Heidenreich das armselige Leben im Hunsrück der Vierzigerjahre des 19.Jahrhunderts auch entfalten, so öffnet sich in ihrer intensiven, sinnlichen Beschwörung von Land & Leuten doch zugleich ein Fenster in die fernste Welt: durch die aktive Träumerei des aus der Art geschlagenen Jakob, der von seinem sympathetischen Onkel mit wissenschaftlichen Büchern versorgt wird & ein Tagebuch seiner linguistischen Durchdringung der Welt beginnt, in dem sich seine stetige Sehnsucht, der Hunsrücker Hölle zu entkommen, laufend reflektierend niederschlägt. Nach Brasilien zieht es ihn: ins irdische Paradies, welches das Hunsrücker Hungern & Darben nicht kennt & zu den Indianern & ihren fabelhaften Sprachen, die für unsere Farbe Grün vierzig unterschiedliche Wörter haben.
Reitz findet für den „verrückten“ Leser Jakob, der noch versteckt in einem Strohhaufen bei der Roggenernte in seinen Büchern schmökert, ein ebenso schönes wie triftiges Bild: aufblickend vom Buch, steht für einen Moment eine Indianerin vor ihm (&ein Greifvogel überlässt ihm eine Feder zum Indianerimitat). Der von seiner linguistischen Lektüre enthusiasmierte Jakob bezaubert mit seinem erlernten indianischem Kauderwelsch das Jettchen (Antonia Bill), die Tochter eines armen, aber politisch aufmüpfigen Steinschleifers, mit dem sich Jakob später gegen die repressive preußische Obrigkeit solidarisiert & deshalb mit dem aufrührerischen „Liberté“ in den Kerker geworfen wird, wo beide fast verrecken.
Die Figur des Jakob Simon – die Reitz seinem jüngeren Bruder nachgebildet hat, von dessen insgeheimer Kenner- & Leidenschaft er erst nach dessen Tod erfuhr – wird von Reitz/Heidenreich nahe an den Eichendorffschen „Taugenichts“ herangeführt, zumindest was Jakobs schamhaftes Verschweigen seiner Neigung zum Jettchen angeht, das er bei einem Dorffest an seinen „handfesteren“ Bruder Gustav verliert. Gustav, der beim Militär gedient hatte, nimmt dem vom gemeinsamen Tanz erhitzten Mädchen die Unschuld. Als sich die Folgen der kurzen sexuellen Begegnung zeigen, heiratet er – zwangsweise, wie es der dörfliche Sittenkodex verlangt – das von ihm geschwängerte Jettchen, das doch in den versponnenen Jakob verliebt ist, wie auch er in sie, ohne dass er den Mut gefunden hatte, ihr seine Neigung zu offenbaren.
Aber im Gegensatz zu dem romantischen Inbegriff des „Taugenichts“ taugt Jakob durchaus etwas: er als einziger holt die Fremde imaginativ & später die wissenschaftliche Moderne des technischen Fortschritts faktisch in die Hinterwelt Schabbachs, indem er, aufgrund seiner Lektüre, die von seinem Vater & Bruder zuerst fehlerhaft aufgebaute Dampfmaschine schließlich zum Arbeiten bringen kann.
Zeitweise nimmt der Film ganz & gar die Perspektive seiner Hauptfigur ein. Dann legt sich die Stimme der Sehnsucht nach „dem ganz Anderen“ (Adorno) als sprachlicher Kontrapunkt über die Hunsrückbilder & „Die andere Heimat„ wird gewissermaßen polyphon. Wie das historische Epos auch immer dann „magisch“ durchwirkt erscheint, wenn Reitz mit seinen Farbeinsprengseln „zaubert“ & den Schwarzweiß-Realismus demonstrativ damit aufsprengt. Diese leuchtenden lokalen Farbflecken (Blick durch einen vielfarbigen Halbedelstein, das glühende Hufeisen in der Simonschen Dorfschmiede, die schwarzrotgoldene Fahne der Burschenschaftler auf dem Rheinfloß) gleichen optisch besonders auffälligen Metaphern in der Prosa eines Schriftstellers. Paradoxerweise distanzieren & intensivieren sie gleichzeitig unsere Rezeption dieser einen überraschenden Sequenzen des Films.
„Elend“ ist aber nicht, wie das deutsche Wort ursprünglich annonciert, die Fremde, für die im Auftrag des brasilianischen Kaisers die Werber durch den Hunsrück ziehen, sondern die von Hunger & Unterdrückung gezeichnete Hunsrücker Heimat in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Im Winter ist es oft so kalt, dass man die zahlreichen Toten nicht unter, resp. in die gefrorene Erde bringt & den Landarzt, der mit seinem Pferdegespann zu den an Diphtherie erkrankten & meist sterbenden Kindern in den Hunsrückdörfern eilt, beschleicht der Verdacht, eher verbreite er die Epidemie, zu deren Bekämpfung er vergeblich Tag & Nacht unterwegs ist. Nachdem der Hunsrück an die Preußen gefallen war, verbot der König auch noch die geringsten Möglichkeiten der armen Bauern, in seinen Wäldern etwa Holz oder Pilze zu sammeln & drohte mit drakonischen Strafen. Kein Wunder, dass immer mehr Hunsrücker dieser Lebenshölle ins Brasilianische Paradies mit Sack & Pack entfliehen wollen.
Mit den Bildern von Emigranten, die sich zu langen Aussiedlertrecks zusammenschließen & in stummen Gesten von Haus, Hof, Verwandten & Freunden sich auf ewig verabschieden, beginnt & endet die „Andere Heimat“ wenn der Film auch der Emigration von Gustav, Jettchen und anderen Dörflern noch eine erzählerische Coda hinterherschickt. Aus ihr erfahren wir sowohl aus einem allen vorgelesenen Brief der Ausgewanderten, dass Jakob einen Sohn in der „Anderen Heimat“ haben wird (was allerdings nur er & Jettchen & wir Zeugen ihres körperlichen Valets auf dem Friedhof von Schabbach wissen), als auch dass der weltberühmte Alexander von Humboldt seinen kenntnisreichen Briefpartner Jakob Simon in Schabbach eines Tages aufsuchte. Der bei den alten Eltern gebliebene Jakob flieht vor dem großen Naturforscher, als dieser den wunderlichen Linguisten im Hunsrück besuchen will, mit dem er jahrelang brieflich korrespondiert hatte.
Indem Werner Herzog den weltberühmten preußischen Naturforscher verkörpert & Edgar Reitz ihn als am Straßenrand sitzender Bauer nach Schabbach weist, „signiert“ der Regisseur sein Werk & das Oeuvre seiner ganzen Neuen Deutschen Film-Generation mit einer bewegenden Geste gleich zweifach.
Mit dem sich wiederholenden Ritual des endgültigen Abschieds der Hunsrückflüchtigen, schafft sich der so realistisch erzählte Film einen zweiten Assoziationshof. „Brasilien“ das für die deutschen Emigranten das irdische Paradies im warmen, von Hunger freien Südamerika bedeutete, kann man metaphorisch auch als den religiösen Himmel, oder weniger metaphysisch auch als Land des Todes verstehen, auf das alle Tode & Abschiede zart verweisen, die in „Die andere Heimat“ gehäuft auftreten.
Immerhin stammt dieses grandios erzählte, vielfältig „instrumentierte“ filmische Epos von einem Achtzigjährigen. Edgar Reitz ist so alt, wie es Fontane war, als er seinen „Stechlin“ schrieb. Das war ein unverkennbar fragiles, transparent-filigranes Alterswerk.
Aber „Die andere Heimat“, diese unendlich in Abschieden (wie dem „Ewig…Ewig“ von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“) ausschwingende Vergegenwärtigung einer unerfüllten Sehnsucht nach jener „Heimat“, die Ernst Bloch im „Prinzip Hoffnung“ am Ende der menschlichen Geschichte lokalisierte, ist dagegen ein außerordentliches Werk der großen kompositorischen Fülle, des empfindungsstarken, formulierungsreifen künstlerischen Reichtums – als wäre es geradewegs aus der Mitte eines Lebens gegriffen worden. Man möchte sich – trotz aller Melancholie des Gelingens & des respektheischenden Alters – den Edgar-Reitz-aller-seiner-Heimaten nun als einen glücklichen Menschen vorstellen. Oder um Hölderlins „An die Parzen“ zu paraphrasieren: „Einmal / schuf ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht!“
Wolfram Schütte
Edgar Reitz: Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht. Alle Daten zum Film hier, zur Fanseite geht es hier. Die offizielle Webseite von Edgar Reitz finden Sie hier. Fotos: © Edgar Reitz Filmproduktion München/Concorde Film, Quelle