Geschrieben am 5. August 2019 von für Litmag, NATUR Special, Specials

Ein Eichendorff-Gedicht

Mondnacht– oder die Sehnsucht meiner Seele

Markus Pohlmeyer über das Gedicht von Joseph von Eichendorff

„Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blüten-Schimmer
Von ihm nun träumen müßt’.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.“[1]

Eichendorffs Gedichte sind nicht harmlos, und schon gar nicht irgendein romantischer Naturkitsch.[2]„Eine Natur, deren Phänomene wie Hohlräume durch die subjektive Phantasie des Lesers gefüllt werden können, scheint das exoterische Werk Eichendorffs zu bieten.“[3]Und „Mondnacht“ ist für mich in seinen nur drei Strophen eines der größten, tiefsten, schmerzlichsten Gedichte der deutschen Literatur. 

Wäre da nur die mittlere Strophe, es gäbe nur die Beschreibung einer schönen (Sommermond)Nacht. Die mythologische Wucht des Anfangs, die Heilige Hochzeit[4]von Himmel und Erde – nicht ohne gewisse Erotik diese Personifikation –, und das Bild einer sich durch die Bewegung des Fliegens entgrenzenden, befreienden Seele eröffnen dem Gedicht räumliche wie zeitliche Dimensionen, die weitüber die erinnerte Landschaft dieser Strophe hinausweisen. Und zwar zurück – obwohl gegenwärtig in einer nahen Vergangenheit: Es war …(gerne würde ich ergänzen einmal) –, zurück in eine archaische Tiefe jener Zeit vor der historischen Zeit (in illo tempore). 

„Die sprachliche Bewegung führt dabei in der ersten Strophe von oben nach unten, vom Himmel zur Erde, in der letzten Strophe wechselt die Perspektive, es ist, als ob die Seele aus der dunklen Welt auf zum Himmel flöge. In der zweiten Strophe begegnen sich die beiden gegenläufigen Bewegungen im Bild des Nachtwindes: Der Blick des impliziten Betrachters führt über die wogenden Felder, die Ähren, die rauschenden Bäume des Waldes hinauf zum Himmel einer sternklaren Nacht […].“[5]

Am Schluss also die schier unbegrenzt sich ins Waagrechte ausspannende, phantastische Bewegung des Seelenfluges. Seit wann hat die Seele Flügel? „Der Schutz, den vogelgestaltige Götter dem ägyptischen König zuteil werden lassen, drückt sich ganz natürlich in ausgebreiteten Flügeln aus.“[6]Flog durch die stillen Lande… Der Indikativ im Präteritum drückt aus, was geschah, was möglich war. Doch schon in der nächsten Verszeile dasselbe Wort im irrealen Konjunktiv. Härter, knapper, erschreckender kann kaum eine Desillusionierung sprachlich inszeniert werden: Als flöge sie, die Seele, nach Haus. Vielleicht mag dieser irreale Konjunktiv nur durch das vergleichende als bedingt sein. Vielleicht aber auch, dass die Seele nie ankommt, niemals ankommen kann. Ihr wie der Erde, bleibt nur das Träumen: als hätt’ der Himmel… Er hat nicht. (Oder verbirgt sich hinter diesen Bildebenen etwas gänzlich Anderes, das sich nur metaphorisch-allegorisch eben in diesen Bildern auszudrücken vermag? Das zwar erahnt, aber nicht einfach decodiert werden kann? Hohlräume, wie M. Mayer es ausdrückt, welche der Leser und die Leserin durch ihre je eigene, subjektive Phantasie ausfüllen müssten, wie es auch Eichendorff tut?[7]) Und was noch bleibt in diesen Imaginationsräumen, ist die erinnerte Realität der 2. Strophe, jenes ferne Damals. Ohne dies würde die Sehnsucht keinen Halt in der Natur haben, und ohne Natur gäbe es keine Sehnsucht. Und ohne das mythische Bild, ohne die Phantasie der Seele würde ich nur lesen: konkrete Felder, Ähren, Wälder. Sachlich, deskriptiv. Und wo ist überhaupt der Mond? Nur in der Überschrift? Überall? Wo ist das Ich, das hier spricht? Nicht zu Hause. Draußen. Aber ist dieses Draußen nicht das wirkliche Zuhause? 

Gibt es eine Transzendenz? Vielleicht erahnt, ersehnt, aber nicht mehr erreichbar. Aber der Anfang signalisiert: die Natur erschließt andere Wirklichkeitsebenen (die möglicherweise auch nur anthropomorphe Projektionen in einem hermeneutischen Zirkel sind), so dass jenes Konkrete in der poetischen Übersetzung und Gestaltung den Flug der Seele erst evoziert und imaginiert. Dieses Gedicht ist schon seine eigene Rezeption – und: es spiegelt sich in mir, dem  Lesenden, Hörenden, wider und wider, verändert sich. Felder, Ähren, Wälder, Mond und Nacht lassen mich sehen und hören – still und leise –, was ich im Lärmen des Tages, in meinem Dorf, in meiner Stadt nichtsehen und hören kann: dass ich woanders herkomme, dass ich woanders hingehöre. 

„Es ist Ludwig Tieck […], der in seinem Märchen Der blonde Eckbert (1797) das Wort ‚Waldeinsamkeit‘ prägte, ein Herzwort der Romantik (siehe auch Peter Münder in dieser CulturMag-Ausgabe). Geht aber in diesem und seinen anderen Märchen vom Wald stets Schauer und geheime Angst aus, so wird bei dem um 15 Jahre jüngeren Joseph von Eichendorff […] der Wald geradezu Heimat und Zuflucht für den Menschen, der sich in der Welt der Städte in doppeltem Sinne entwurzelt fühlt.“[8]

Und es gibt auch keine Rückkehr mehr zum Mythos, der nur noch anzitiert werden kann. Darum ist „Mondnacht“ für mich in seinen nur drei Strophen eines der größten, tiefsten, schmerzlichsten Meisterwerke der deutschen Literatur. Mythos, Natur, Seele – sie haben aber ein Zuhause gefunden – indiesem Gedicht, sie sind nämlich dieses Gedicht.

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. – Zu seinen vielfältigen Texten bei CulturMag hier.


[1]J. v. Eichendorff: Sämtliche Gedichte. Versepen, hg. v. H. Schultz, Frankfurt am Main 2006, 322 f. Erstdruck 1837: siehe dazu Kommentar, ebd., 1036; dort auch ein Verweis auf „die mythische Vermählung von Gaia und Uranos“. Metrische und rhythmische Analysen habe ich hier ausgelassen. Vertonung durch „Johannes Brahms: 1854“, siehe D. Fischer-Dieskau (Hg.): Texte deutscher Lieder. Ein Handbuch, 12. Aufl., München 2001, 291.

[2]Siehe dazu M. Mayer beispielsweise zu Eichendorffs „Abschied“: „Dabei darf die Schlichtheit der Semantik weder über die Vielbezüglichkeit der grammatischen Fügungen noch gar über die sehr subtile Regie der musikalischen Mittel hinwegtäuschen […].“ M. Mayer: Klassik und Romantik (Geschichte der deutschen Lyrik, Bd. 3), Stuttgart 2012, 62.

[3]Mayer: Klassik (s. Anm. 2), 62.

[4]Siehe dazu O. Keel: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, 25.

[5]W. Frühwald: Die Erneuerung des Mythos. Zu Eichendorffs Gedicht Mondnacht, in: W. Segebrecht (Hg.): Gedichte und Interpretationen, Bd. 3: Klassik und Romantik, Stuttgart 1991, 395-407, hier 397. Dieser Aufsatz ausführlicher zu den Vertonungen, zum ‚Mond‘, zu den mythischen Bildern und einer anderen Deutung der Konjunktive.

[6]Keel: Welt (s. Anm. 4), 170. Keel führt (ebd.) auch Beispiele aus den Psalmen an, in denen dieses Motiv rezipiert wurde. Ferner dazu M. Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik, 4. Aufl., Stuttgart 1988, 644: „Der altägypt. Bergriff ‚Ba‘ galt als Träger der unvergänglichen Kräfte; Grabmalereien zeigen die Ba-S[eele] in Vogelgestalt auf den beim Grab gepflanzten Bäumen. […]. Die griech., etrusk. und röm. Kunst stellen die S[eelen] meistens als kleinen, unbekleideten Menschen mit Flügeln dar (Eidolon-Typus).“

[7]Siehe Anm. 3.

[8]E. Kleßmann: Die deutsche Romantik, Köln 1979, 85 f.

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