Geschrieben am 31. Dezember 2020 von für Highlights, Highlights 2020

Georg Seeßlen: Rückblick auf 2020 aus der Zukunft

        WIE DAS SYSTEM DURCH DIE RELEVANZ SEINER TEILE GESCHAFFEN WURDE

                               Ein Rückblick auf das Jahr 2020 aus der nahen Zukunft    

                                                                      I

Das war schon seltsam, damals. Alles schien sich auf den Kopf zu stellen. Was gerade noch erstrebenswert und trostreich war, wurde jetzt gefährlich: Nähe, Zuneigung, Gemeinsamkeit. Oder auch Geschäftigkeit, Wachstum, Konkurrenzkampf. Eine mitteleuropäische Regierung verbreitete ein Video, in dem Auf-der-Couch-sitzen-und-nichts-tun zum neuen Heroismus erklärt wurde. In der Gesellschaft des Spektakels gab es nun nichts gefährlicheres und bösartigeres als eben dies: das Spektakel. Die „Linken“, die einst Kritik und Rebellion verkündet hatten, wurden zu den Verteidigern der Maßnahmen gegen die Pandemie, und die Rechten gingen auf die Straße, um ohne Schutz und Abstand für „Freiheit“ zu demonstrieren. Was gerade noch als allerspießigste Lebensform verachtet worden war, die Einfamilienwabe mit angeschlossener Mini.Natur von Balkon oder Garten, musste nun als Paradies erscheinen. Lockdowns waren verheerend für die Wirtschaft, hier und da aber auch ein Segen für Natur und Umwelt. Sogar Weihnachten, dieses Fest der Familienfestung! – es wurde zu einer der Gefahren, denen man sich sehenden Auges aussetzte, weil ein Verzicht oder ein Verbot noch dramatischere Folgen gehabt haben könnten als ein Anstieg der Infektionen und der Sterbefälle. Wer gerade noch unbedingt kritisch, alternativ und subversiv genannt werden wollte, diente sich nun als „systemrelevant“ dem Unterstützungssystem an. Und wer konnte, der floh aus den Städten, zum Rand und darüber hinaus, dorthin, wo man noch selber für seine Sicherheit sorgen konnte.  Mit der Urbanität war zugleich die Weltläufigkeit gefährlich geworden, und mit der erzwungenen Sesshaftigkeit triumphierte zugleich heimelige Provinzialität. Das viel missbrauchte „Wir alle“, das waren sehr unterschiedliche Arten, mit der Krise fertig werden zu können und zu müssen.

In der ersten Welle nahmen wir (die sehr verschiedenen „Wir-alle“s) die Pandemie als Naturkatastrophe hin. In der zweiten ahnten wir, welche Fehler, welche Vergehen, welche Dummheit, welches Verbrechen die Wiederkehr des würgenden Todes ausgelöst hatten. Und bei der dritten Welle war ein für alle mal klar, dass unsere Welt nicht mehr die werden würde, die sie einmal war. Aus einer Natur- war eine Menschen- und aus einer Menschen war eine System-Krise geworden. 

Ja, du hast recht, viele verklärten die Welt vor der Pandemie auch, schwärmten von guten alten Zeiten, die es nie gegeben hat, wollten nichts wissen davon, dass das Virus nur sichtbar gemacht hatte, was an Kräften der Zersetzung und Transformation ohnehin in den globalen Gesellschaften am Werk war. Vielleicht hätten wir das Virus gar nicht gebraucht, um dort hin zu kommen, wo wir jetzt sind…

Jedenfalls, um zu retten, was zu retten war, erfand man in den Krisen vom Beginn des Jahrhunderts das Wort „systemrelevant“. Was „systemrelevant“ war, wurde scheinbar aus den Kreisläufen der „kreativen Zerstörung“ herausgenommen, die man zum Motor des Wirtschaftslebens erklärt hatte. In der Finanzkrise, die der Pandemie voraus ging, bekamen gewisse Banken diesen Status, die „too big to fail“ waren. Und „systemrelevant“ wurde von einer politisch-ökonomischen Zuschreibung zu einem Rechtstitel. So hatte man oben in der kapitalistischen Hierarchie einen Bereich des Unberührbaren geschaffen, für den die üblichen Gesetze nicht galten. Weder die Gesetze des Marktes noch die Gesetze des Staates. Nur noch die Gesetze des Systems und seiner Erhaltung. In der Pandemie wurde der Begriff auf das andere Ende von Wirtschaft und Gesellschaft angewandt, nämlich auf die Arbeit. Zumeist betraf das die Arbeit, die in besseren Zeiten so gering geschätzt wurde, nämlich die in dem Bereich, in dem Menschen sich nicht um Geld und Macht, sondern um andere Menschen kümmern. Ärzt*innen und Pfleger*innen, Müllabfuhr und Feuerwehr, Kindergärtner*innen und Lehrer*innen usw. Und auch hier wurde „systemrelevant“, wenngleich mit weniger Getöse, verrechtlicht: Wer systemrelevant war, der oder die konnte mit ein klein wenig mehr Geld rechnen, musste aber im Gegenzug auf arbeitsrechtliche, tarifliche und bürgerrechtliche Vereinbarungen verzichten. Auf das systemrelevante Kapital folgte nun die systemrelevante Arbeit, also eine Form der Arbeit, die den Gesetzen des Marktes ebenso entzogen wurde wie den Gesetzen, die sich Staat und Gesellschaft gegeben hatten, und nur noch den Gesetzen des Systems und seiner Erhaltung folgten.

Wer „systemrelevant“ war, wurde gerettet. Und zugleich in eine neue Daseinsform transformiert, jenseits der Demokratie. Jede Krise entpuppte sich nun als neuer Filter. Beim nächsten mal wurden Teile des Bodens, dann wieder Teile der Medien als systemrelevant erkannt und damit zugleich der allgemeinen Gerichtsbarkeit und dem dann doch nicht so freien Markt entzogen. Und wie bei anderen verzweifelten Rettungsmaßnahmen, so begann auch hier ein verbissener und manchmal verzweifelter Kampf um den Status. Denn man wusste ja: Nur als Systemrelevanter hast du Anspruch aufs Überleben. Und alle, alle wollten nun systemrelevant werden, die Künstler und die Theater, die Stadtplaner und die Eisverkäufer, die Tatoo-Studios und die Quantenphysiker. Doch zwei furchtbare Fragen hatten sich aufgetan: Was fangen wir mit Menschen an, die nicht systemrelevant sind? Und was zum Teufel ist eigentlich dieses System, für das man relevant sein muss, um zu überleben? Wie dem auch sei: Wenn sich Kapital und Arbeit verändern, nicht wahr, denn verändert sich einfach alles. Auch das Verhältnis von Stadt und Land. 

Jedenfalls wurden auf der einen Seite klassische Räume der Öffentlichkeit geschlossen, dafür Räume der traditionellen Privatheit (weiter) für  Arbeit, Bildung, Kommunikation und Kultur geöffnet. Home Office und Home Schooling zum Beispiel erschienen zuerst als „Notlösungen“, wurden dann aber in verschiedenen Geschwindigkeit in das Leben der Menschen eingeschrieben (erst als Recht der Arbeitnehmer*innen, dann als Recht der Arbeitgeber*innen). Die Kommunikationsmedien wurden weiter digitalisiert, sogar mit Unterstützung der Regierung, und einstige kulturelle Spektakel, Theater, Konzert, Oper, Kino oder Diskurs, wurden unter dem Druck der Gefahren in den privaten Raum verlagert. Auch hier war klar, dass man nicht einfach zur „Normalität“ zurück kehren würde. Der Einkauf wurde nicht gerade ersetzt, aber doch stark verschoben in Richtung auf das Online Shopping. Bargeldzahlungen erschienen zunehmend problematisch, der Trend zum bargeldlosen Zahlen (und also zur direkten elektronischen Überwachung und Weiterverwendung aller Transaktionen) wurde verstärkt. Der öffentliche Nahverkehr erwies sich (auch hier gab es extreme Unterschiede zwischen Regionen und Nationen) als hygienisch wenig sicher; bemerkenswerterweise verzeichnete ausgerechnet der Gebrauchtwagenhandel in der Krise einen Zuwachs. Es hatte vielleicht eine Tiefenstruktur, was sich in der zweiten Welle der Pandemie öffnen ließ und was geschlossen bleiben musste, und einiges davon geht gewiss über die rationalen Vorsorge-Maßnahmen hinaus. Baumarkt ja, Filmtheater nein, das mag man als Botschaft und Symptom sehen, eine Konstruktion des Hineinwirkens in die isolierten Wohnwaben, und eine Unterdrückung des Hinaustreten in die Öffentlichkeit. Man könnte wohl sagen: Ein Sog von der öffentlichen in die private Sphäre ließe sich in der Pandemie ebenso diagnostizieren wie ein Sog vom Urbanen zum Provinziellen.

Doch diese Bewegung ist vermutlich nicht so sehr linear, sondern dialektisch. Der Privatraum füllt sich mit Aufgaben und Möglichkeiten des Öffentlichen, und die Provinz füllt sich mit Aufgaben und Möglichkeiten der Stadt. Natürlich vollziehen sich auch umgekehrte Energieflüsse. Die Stadt, die sich in der Krise gespenstisch entleeren musste, offenbarte noch deutlicher, was in den letzten Immobilienblasen mit ihr geschehen war, die radikale Verwandlung in Besitz als Kapital, und die Provinz zeigte, wie sie von einem vertriebenen städtischen Kleinbürgertum in Besitz genommen worden war.

Die Dialektik zwischen Stadt und Land ist ein Faktor zugleich von Stabilität und Dynamik in der Kultur- wie in der Wirtschaftsgeschichte des demokratischen Kapitalismus oder der kapitalistischen Demokratie. Waren die Städte zunächst die Orte, in denen eine bürgerliche Schicht den Fernhandel kontrollierte und sich zugleich von einem kontrollierten Lokalhandel ernähren ließ, und war das Land eine Region, die nach Regel, Sitte und Tradition mehr produzierte als nach Gesetzen eines „freien Marktes“ so war es im Interesse der entstehenden Nationalstaaten, den Widerspruch möglichst zu überwinden oder wenigstens zu moderieren. Das Instrument dafür war jener Binnenmarkt, den wir als Installation des „freien Marktes“ (einschließlich der „unsichtbaren Hand“, die alles zum einem selbstregulierenden System machte) kennen, und auf dem nun nicht mehr allein das „Ding“, das man durch lebendige Arbeit herstellte, sondern auch die Natur (in Form von Grund und Boden) und der Mensch (in Form von Arbeitskraft und Konsumvermögen) als Produkte gehandelt wurden. 

Der Markt verband Stadt und Land ökonomisch (je fortgeschrittener der demokratische Kapitalismus, um so mehr), und es blieb eine kulturelle Spaltung zurück, aus der sich bei Bedarf immer wieder auch ideologische Spaltungen entwickelten. Doch blieb durchaus eine ökonomische Basis des Widerspruchs vorhanden. 

In jeder Krise verändert sich das Verhältnis von Stadt und Land; in jeder Krise wird der Widerspruch zwischen Metropole und Provinz neu instrumentalisiert. Der Widerspruch von Stadt und Land – nicht nur in einer territorialen Form, die durch Bewegung überwunden werden könnte, sondern auch in Form einer Lebensweise – produziert wiederum wieder Krisen.

So wie es in der kapitalistischen Produktion Segmente gibt, die davon profitieren, dass der Stadt/Land-Widerspruch zutage tritt, und andere von dem Versprechen profitieren, ihn zu überwinden, so gibt es Teile der ökonomischen Player, die sich mit der liberalen Urbanität verbinden, und andere, die sich mit dem provinzialistischen Populismus verbinden. (Es gibt keinen Nationalismus, Rassismus und Sexismus, der nicht auch an einen Anti-Urbanismus gebunden wäre.)

In der Krise wird die Stadt um ihre drei großen Vorteile gebracht: kulturelle (auch: kritische, subversive, avantgardistische) Kreativität, politische Öffentlichkeit, performative Diversity. Für die Entwicklung des Kapitalismus im gegenwärtigen Stadium sind diese Elemente vor allem Hemmnisse bei der „inneren Landnahme“.  Urbanität und Provinzialität (der Drang zur Öffentlichkeit und Demokratie/der Drang zu Autarkie und „Retromanie“) werden aus dem Zustand der „Lebensentwürfe“ ihrerseits in den Status von Waren verwandelt. Die Stadt ist das Agglomerat von Lebensraum als Kapital plus das Spektakel der Urbanität für Tourismus und Standortvorteil. 

Der Widerspruch zwischen Globalisierung, Privatisierung und Digitalisierung, den einst so innig verbundenen Motoren des „Neoliberalismus“, brechen in der Krise erneut auf, Progression und Regression (die Bewegung in die Welt hinein und die Bewegung in die Isolation eines smart home mit allen Antennen zum Internet der Dinge) sind nicht mehr in der vagen Form gewöhnlichen Alltags verbunden. In der Krise wird deutlich, dass sie sich nicht gemeinsam verwirklichen lassen. Nur eine der vielen Formen, an diesem neu aufgebrochenen Widerspruch den Verstand zu verlieren, ist der Versuch, den urbanen Raum mit dem Argument zurück zu erobern, die Krise sei gar nicht real sondern nur eine Verschwörung. Paradoxerweise aber ist die Verschwörungsphantasie selbst eines der Mittel, mit der sich die Provinz gegen die Stadt wehrt. 

Stadt und Provinz lösen ihren Widerspruch in der Krise nicht auf. Sie vermischen sich nur unheilvoll. Weißt du, wir kennen diesen Unterschied ja gar nicht mehr, unser Lebensraum ist weder Stadt noch Land. Aber wir haben das immer noch in uns. Das Städtische. Und das Provinzielle. Damals, im Jahr 2020 hat noch niemand daran gedacht, dass die Pandemie das letzte Kapitel der Verschmelzung eingeleitet hat, und das erste Kapitel der Agoraclaustren. Den Menschen, die nicht drinnen und nicht draußen leben können, die vor den Mitmenschen so viel Angst haben wie vor der Einsamkeit, die mit sich selbst genau so wenig anfangen können, wie mit anderen Menschen. 

Zombies? Fragst du. Nein, nein. Es ist ein Bewusstsein da. Es ist nur so furchtbar unglücklich.

                                                                          II

Mit dem doppelten Werkzeug der „Systemrelevanz“ hatte sich die Ökonomie ein Instrument geschaffen, was vorher dem Staat vorbehalten war: Den Ausnahmezustand. Wer über den Ausnahmezustand gebietet, der hat die Macht, hieß es einst. Der Bürgerkrieg und die zweite große Transformation, das hat sehr tiefe Wurzeln in der Geschichte, mein Kind. Eine davon ist der Widerspruch zwischen der Stadt und dem Land, Zentrum und Peripherie, Metropole und Provinz. In den frühen Städten, weißt du, verteidigten die freien Bürger und Bürgerinnen (die damals allerdings noch nicht ganz so frei waren) aufgrund eines ziemlich einfachen Tricks ihren Wohlstand, nämlich durch die strikte Trennung zwischen Fernhandel und Lokalhandel. Was den letzteren bedingt, so konnten diese Bürger den Produzenten, den Bauern, ihre Regeln und Gesetze vorschreiben. Das ging mit den Kaufleuten aus weiter Ferne natürlich nicht. Also war es wichtig, sich die Herrschaft über den Lokalhandel nicht durch das Gift aus dem Fernhandel schwächen zu lassen. Und umgekehrt sollten die Bauern nicht auf die Idee kommen, den Kaufleuten aus der Ferne etwas anzubieten und damit die Preise zu verderben. Der Wohlstand und die Freiheit der Bürger in den Städten basierte also nicht zuletzt darauf, dass sie das eigene Hinterland aus ihren eigenen Geschäften ausschlossen. Natürlich auch aus ihrer Kultur, und natürlich auch aus ihrer Politik. Das Land und die Stadt, das waren zwei verschiedene Welten. Wenn es etwas gab, das sie verband, dann waren es die Kirchen, die Könige oder Kaiser, und der Krieg. Und vieles von diesem Grundwiderspruch setzte sich unterschwellig fort, aller Ideologie und Nivellierung zum Trotz. 

Erst als die Territorialherren immer mehr gegen die Machtfülle der Städte unternahmen, verlangten sie einen weiteren Markt, und so entstand nach Fernhandel und Lokalhandel der Binnenmarkt, der ein Territorium und schließlich einen Staat zusammen halten sollte. Wurde der Markt für den Staat, oder der Staat für den Markt geschaffen, fragst du? Nimm es als eine besondere Dialektik. Der Staat funktioniert nicht ohne den Markt, und der Markt funktioniert nicht ohne den Staat, und die Beziehung zwischen Stadt und Land hat nie aufgehört, eine Marktbeziehung zu sein. Glaub’ bloß nichts anderes, mein Kind. Dann sitzt du schon wieder in der Falle.

Und, ja, richtig beobachtet, das hatte und das war: System. Die politische Beziehung der Märkte nennt man System. Der Gegensatz von Stadt und Land war damit natürlich noch lange nicht aufgehoben, aber eine neue Verbindung war geschaffen. Und als die Feudalherren die Landbevölkerung vertrieben und die Fabriken ihre Pforten öffneten, entstand endlich das System, in dem die Menschen bis zum Beginn der vierten Krise gelebt haben: die freie Marktwirtschaft. Sie hatte zwei miteinander verbundene Projekte. Das System sollte sich selbst regulieren, und all das, was vorher durch Sitte, Gesetz und Gesellschaft festgelegt war, sollte sich nun ebenfalls in die Marktform verwandeln. Das war vor allem die Natur in Form von Boden und Rohmaterial, und das war der Mensch selber, in Form seiner Arbeitskraft. Das System war geschaffen, indem alles, was auf Erden existiert, zum Teil des Marktes erklärt worden war. Genau, auch ich, auch du, und dein Hund namens Buu.

Ja, du hast ganz recht, natürlich veränderten sich die Städte dabei auch. Die „freien Bürger“ waren bald in der Minderheit, aber sie waren es, denen alles gehörte, die alles bestimmten, die unter sich blieben. Die Mehrheit dagegen war hungrig, elend und rechtlos. Nach und nach entwickelte man ein politisches System, das dem freien Markt angemessen war, und das nannte man Demokratie. Es war, so hatten es die Gründer im fernen Amerika beschrieben, das beste Mittel, die Besitzenden vor der Gier der Besitzlosen zu schützen. Aber es hatte auch seine eigene Dynamik. Immer wieder gab es Menschen, die mehr Demokratie verlangten, als der Markt gebrauchen konnte. Besonders in den Städten. Die waren deshalb beides zugleich, hoch attraktiv und schwer verdächtig. 

Aber dieses politische System war dynamisch und flexibel, und es war vor allem: städtisch. Wozu brauchte man Demokratie auf dem Land? Wer auf dem Land Demokratie wollte, der ging in die Stadt, und wem in der Stadt die Demokratie zu viel wurde, der ging aufs Land. Noch im 20. Jahrhundert machten städtische Menschen gern Ferien auf dem Land, was unter anderem hieß, Ferien vom Markt und Ferien von der Demokratie, oder Ferien vom System, sozusagen. Natürlich wurde das Land dadurch auf paradoxe Weise wiederum Teil des Systems. 

Das System „kapitalistische Demokratie“ oder „demokratischer Kapitalismus“ war in seiner Unruhe zwar perfekt, aber es war auch in sich widersprüchlich; der Fortschritt, denn das eine machte, fraß das andere wieder auf und umgekehrt. Und vor allem war der ursprünglich praktische Widerspruch zwischen Stadt und Land nun auch in einen ideologischen Widerspruch transformiert. Die Nation, die über die Einführung des Binnenmarktes entstanden war, schien zugleich die Hoffnung auf eine rigide Überwindung des Widerspruchs (deshalb war Nationalismus immer mit einer anti-städtischen Geste verbunden; Ordnung und Stabilität ließen sich nur erreichen, wenn man den Städten ihre wilde und „sündige“ Entwicklung verbot). Die liberale Seite versprach die Lösung, indem man immer mehr vom urbanen Fortschritt in die Provinzen trug, Bildung, Aufklärung, Infrastruktur, Freiheit und Konsum, und die konservative Seite versprach die Lösung, indem man immer mehr von der provinziellen Verharrung in die Städte trug, Sittsamkeit, Tradition, Gehorsam, Bodenständigkeit. Du verstehst, schon damals lebte das System dadurch, dass sich permanent Dinge in ihr eigenes Gegenteil verwandelten. Ideen, Bilder, Zeichen, Rituale, Mythen… Was als „Mentalität“ der Landbevölkerung ausgegeben wurde, war im Wesentlichen aus der Geschichte des geregelten Lokalmarktes zu verstehen, und was als „städtische Freiheit“ galt, entsprach der Orientierung am wahlweise diplomatischen oder aggressiven Fernhandel. Der Binnenmarkt, der beide Welten verbinden sollte, unter anderem indem er mit Hilfe staatlicher Macht auch Boden und Menschen zu Waren auf ihm machte, schuf ja keine gemeinsame Kultur, sondern nur ein gemeinsames Schlachtfeld der Kämpfe um Lohn, Preis und Profit.

Der Markt, mein Kind, verband die Menschen im Hass. Nicht in der Liebe. Im Verbrauchen, nicht im Erschaffen. 

Ja, ich weiß, das alles scheint sehr lange her. Aber aus alledem begannen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die großen Krisen. Eine zweite große Transformation fand statt. Und zwar auf drei Ebenen: Digitalisierung, Globalisierung, Privatisierung. Noch einmal also wurde der „Arbeitsmarkt“ umgewandelt, wo einst zu Zeiten der Mechanisierung die körperliche Arbeit „wegrationalisiert“ wurde, wurde nun soziale, organisatorische, bürokratische Arbeit wegrationalisiert. Aus den nationalen Märkten, die Lokalhandel und Fernhandel sozusagen neben sich geduldet hatten, wurde ein Weltmarktgeschehen, das international agierenden Konzernen ebenso gewaltige Macht verlieh, wie anderswo „Oligarchen“, die  sich an der Konkursmasse transformierender Staaten bereicherten und diese wiederum zu stützen hatten. Und die Staaten zogen sich aus den Ordnungs- und Fürsorgebereichen zurück, die sie bislang der „Selbstregulierung“ noch nicht übereignet hatten, Medizin, Bildung, Infrastruktur, Wissenschaft, sogar Gefängnisse, Polizei und Justiz wurden bis zu einem Grad „privatisiert“. Du verstehst, das war das Ende der Stadt als Lebensraum für freie Bürgerinnen und Bürger. Und Digitalisierung bedeutete ein Verschwinden der öffentlichen Räume, ihre Verwandlung in Markt-Räume, und selbst auf denen wurde vor allem der nächste Schritt der Digitalisierung verhandelt. Man ging nur noch hinaus, wenn es galt, den Innenraum weiter auszustatten. Man konnte überallhin, vorausgesetzt, es sah überall gleich aus und überall waren die gleichen Kräfte am Werk. Kulturelle und natürliche Differenz war nun auch nichts anderes mehr als eben dies: eine Ware auf einem Markt. Globalisierung war auch Provinzialisierung, was jeder weiß, der unter Touristenströmen aus aller Welt leidet. 

Ja, richtig, das System nach der zweiten großen Transformation nannte man „Neoliberalismus“. Obwohl das Wort in vielerlei Hinsicht irreführend ist. Und doch trifft es die Stimmung, denn viele Menschen empfanden so, dass die neue „Deregulierung“ der Märkte auch eine Befreiung der Subjekte war. Weniger Sicherheit, okay. Aber dafür neue Chancen. Natur und Mensch endgültig kapitalisiert, okay. Aber dafür wurde die Welt jenseits von Büro und Fabrik auch zum grenzenlosen Freizeitpark. Kriege und Terror beinahe überall, okay. Aber dafür kein Weltkrieg der Systeme. Kein Glück, aber Bequemlichkeit. 

Die grenzenlose Freiheit des Subjekts. Das Recht, allen anderen den Arsch zu zeigen. Ich-AGs. Man ist eine Ware, okay, aber man verkauft sich selbst. Oder? Die subjektive Freiheit wurde zum neuen Fetisch, dem Kern des Neoliberalismus als Lebensgefühl. Die Stadt wurde neu geboren als Marktplatz der subjektiven Freiheiten! Aber genau das widersprach dann auch wieder ihrer endgültigen Verwandlung in Besitz und Kapital. Als letztes Überbleibsel der freien Bürger*innen

Und die zweite große Transformation versprach, was in der ersten nur an der Oberfläche gelungen war, die Auflösung des Widerspruchs zwischen Stadt und Land. Sicher, zunächst wurde auch der einfach globalisiert (in einer Art Widerspruch der „entwickelten“ Gesellschaften zum globalen Süden etwa), privatisiert (wer es sich leisten kann, der lebt in Agglomerationen, in denen man sich das beste aus beiden Welten aneignen kann: ländliches leben ohne Kuhgestank und Hahnengeschrei, städtisches Leben ohne Kneipenlärm und öffentliche Versammlung) und digitalisiert (alle, ob in Hintertupfingen oder New York waren in den selben Netzen verbunden und wurden mit den selben Algorithmen ausgespäht). Die Städte jedenfalls wurden immer provinzieller und die Provinz immer städtischer. Wenn man schlecht gelaunt war, konnte man in der Zeit der Jahrtausendwende sagen: Im großen und ganzen ist es in der Stadt und auf dem Land gleich öde.

Aber eben doch nicht wirklich gleich. Und außerdem war der Widerspruch ins Innere der Menschen gesunken. Da kämpfte die innere Stadt gegen die innere Provinz. Oder die Sehnsucht nach Urbanität und die Sehnsucht nach Ländlichkeit. Wie man es nahm.

Und dann kamen sie, die neuen Faschisten, und versprachen wieder die wahre Reaktion. Zurück zum Volk, zurück zur Nation, zurück zur Heimat. Ein neuer Aufstand des Provinziellen, das es nicht mehr gab, gegen eine Urbanität, die es nicht mehr gab. Nur in diesem Aufstand selber schien der Widerspruch für einen Augenblick zu verschwinden. Und wurde dabei nur immer noch heftiger. Denn es hatte sich der vollkommen neue und eben doch uralte Widerspruch extremisiert im Widerspruch von Öffentlichkeit und Intimität. Nichts mehr war wirklich öffentlich, und nichts war mehr wirklich privat. Aber wem sage ich das, so seid ihr ja aufgewachsen. (Ich fürchte es wird Zeit, unsere Pillen zu nehmen und in den Bunker hinunter zu gehen.)

                                                                            III

Nach der vierten Welle und der Entwicklung des neuen Impfstoffes konnte man sich das Desaster, naja, nicht gerade in aller Ruhe, aber immerhin: besehen. Es gab drei Fraktionen, die sich untereinander erbittert bekämpften. Die eine Fraktion, das waren die so genannten Wirtschaftsliberalen, die sich gern auch Konservativ nannten, und die verlangten, das Erbe der Krise als kreative Zerstörung anzusehen, die Überlebenden seien die Starken und Gesunden (man bezog sich auf die Unternehmen ebenso wie auf die einzelnen Menschen, das heißt deren Wert als Arbeit), und die würden sehr rasch wieder Wachstum und Wohlstand generieren. Die anderen, das waren die Sozialen, von manchen auch „linksliberal“ genannt, die verlangten, die Gesellschaft solle nach der Krise gefälligst ein wenig Solidarität zeigen, und die Gewinner sollten etwas von ihrem Krisengewinn an die Verlierer abgeben. Man müsse es ja nicht übertreiben. Die dritten waren die Technos, oder auch Pragmatiker genannt, die wollten die Fortschritte, die es eben in der Krise auch gegeben hatten, anwenden, das Home Office und das Home Schooling, die verbesserten und ausgedünnten öffentlichen Bauten, die Leerung der Städte ausbauen, die Lieferdienste, die Kultur der Videokonferenzen ausbauen, das Konzept der ICH-AGs erneuern, unsinnige Transporte und Fernreisen unterlassen, kurzum weniger schmutzige Gesellschaft und dafür mehr sauberen Markt. Natürlich gab es auch noch die Faschos, und nicht zu knapp, die rassistische Selektion und nationale Abschottung verlangten und ohnehin alles Schwache und Lebensunerwerte auszumerzen bereit war, aber die waren nur für die Schmutzarbeit der Gewinner gut. Für sie musste die Stadt zu einem Schauspiel werden, das sich eigentlich nur noch von den höchsten Etagen der Bürotürme und bei Nacht genießen ließ. Der Rest war Polizeiarbeit.

Aber du verstehst, was geschah! Wie nach der ersten großen Transformation, der Verwandlung der äußeren Welt in den Markt, so brach nun nach der zweiten großen Transformation, der Ausweitung des Marktes in alle Bereiche von Seele und Kosmos, das Konstrukt wieder auseinander. Digitalisierung, Globalisierung und Privatisierung bildeten keine Einheit mehr, keine „große Erzählung“ des Neoliberalismus, sondern begannen damit, sich konträr oder gar alternativ zueinander zu verhalten. Und was konnte bleiben, um die steigenden Widersprüche zu kitten? Genau, du hast es erfasst. Die Systemrelevanz. 

Die Regierungen schufen ihre Ministerien für Systemrelevanz, die sehr rasch zu den wichtigsten und mächtigsten Einrichtungen der postcoronialen Gesellschaften wurden. Stadt und Land organisierten sich neu nach den Sphären, Zonen und Eigenschaften der Systemrelevanz. Jeder Mensch hatte eine Einschätzung auf der fünfteiligen Systemrelevanz-Skala vorzuweisen, jedes Unternehmen wurde nach der Systemrelevanz-Skala besteuert oder gefördert, jede kulturelle oder mediale Einrichtung wurde je nach Systemrelevanz subventioniert oder zensuriert. Du kannst dir vorstellen, wie rasch das unsere Lebensbedingungen veränderte. Noch mal.

Wir hatten es ja schon lange beobachtet: Das Verschwinden der öffentlichen Räume, die shrinking spaces, und jetzt auch in ihrer ökonomisierten Form: Die Event-Kultur war zusammengebrochen in der Krise, keine Super-Konzerte mehr, keine Blockbuster-Filme, keine megageilen Outdoor-Ereignisse. Nicht bloß wegen der Krise und in der Krise. Die politische Ökonomie der Kulturindustrie hatte sich noch einmal fundamental geändert. Sie war nicht mehr unbedingt städtisch. (Ich weiß, die Provinzialisierung der Kultur hatte schon eine längere Geschichte hinter sich. Sie war von den freien Bürgern über die neoliberalen Fundamentalisten der Subjektfreiheit – sie hatten sich in der militanten Sekte der „Coronaleugner“ mit allerlei Esoterikern und Faschisten verbunden – zu den Smart Homies gewandert, die von intelligenten und abgeschlossenen Wohnräumen mit lernenden Kühlschränken und bewaffneten Sicherheitssystemen besessen waren. Dein Vater war einer der besten Verkäufer post-coronaler Wohnkonzepte, die auf jede Pandemie, jeden Lockdown, jede Plünderungswelle vorbereitet waren. Deshalb geht es uns ja heute auch so gut. 

Aber ohne Konflikte ging es nicht ab, was schließlich als „Neue Normalität“ zum Gesetz wurde. Der Raum für öffentliche Ereignisse war einfach nicht mehr da, und er war auch nicht mehr erwünscht. Stattdessen die Allgegenwärtigkeit von Hobbyräumen und Wohnzimmern, die via Zoom, Skype oder Dischord in andere Hobbyräume und andere Wohnzimmer transportiert werden. Der Widerspruch zwischen Stadt und Land, den man in den vorherigen Phasen der Kapitalisierung nach und nach zu überwinden trachtete, indem man beide Meta-Waren, die Natur und den Menschen, gegenüber der anderen Meta-Ware, dem Kapital, weiter abwertete, brach nun geradezu eruptiv wieder auf, und zwar als ökonomischer oder, wenn man so will, als neuer Klassenwiderspruch. Immer mehr Menschen können sich die Stadt einfach nicht mehr leisten. Zuerst nicht als Wohnort, dann sogar als Besuchsort. Eine Vielzahl von Französinnen und Franzosen kommt niemals nach Paris, zuerst aus finanziellen Gründen, dann aber aus Trotz. Attraktive Städte verwandeln sich zugleich in internationale Touristen-Hotspots, in denen, was an öffentlichem Raum und urbaner Geschichte übrig blieb, in Sehenswürdigkeiten verwandelt werden (so wie Wohnraum in Kurzzeit-Logis der internationalen Netz-Touristik à la Air B&B). Die Stadt, verstehst du, war wieder da, wo sie im System angefangen hatte. Die freien Bürger waren in den Zentren unter sich, und darum herum gruppierten sich die verschiedensten Gürtel und Zonen, manche brav, manche gefährlich. Aber zur Hauptsache war die Stadt als ganzes zum Spektakel geworden. Das war nach der großen Pandemie-Krise das stärkste Begehren. In einer schwimmenden oder fliegenden Stadt an einer Stadt wie Venedig, Paris oder Berlin vorbeiziehen. Die Provinz mit sich zu nehmen und die Stadt als Kulisse bewundern. (Leider war das natürlich unter den Gesichtspunkten des Klimawandels weniger erfreulich. Die nomadische Provinz und die virtuelle Stadt verbrauchten so viel Energie und produzierten so viel schädliche Stoffe, dass der post-coronalen Dynamik die Katastrophe folgen musste.)

Wenn nach der ersten Transformation das Land zu einem „unwirklichen“, idealen und maskierten Traum-Ort für das Bürgertum geworden war, so sind nun die Städte die unwirklichen, idealen und maskierten Traum-Orte für ein Bürgertum, das sich durch die Immobilien-Märkte immer weiter an die Peripherien (jenseits der „Problemgürtel“ der banlieues) und schließlich in die Provinz gedrängt sieht. Wir hatten es auch hier, da siehst du es, wieder mit einer dieser Negationen zu tun. Die neue Besetzung der Stadt, die Protagonisten der Gentrifizierung, wollen die Stadt weniger wegen der Freiheit als wegen der Sicherung von Besitz genießen. Sie zerstören das urbane Leben von innen heraus. Der Bürger und die Bürgerin spalteten sich in einen Städter, der alles Städtische zu vernichten trachtet, und in einen Provinzler, der alles Ländliche in seiner Umwelt zu vernichten trachtet. Die Ursache dieser Verdrehung ist weniger kultureller Art, sie entspricht der abschließenden Verwandlung von Raum in Besitz. Die Stadt unterliegt der inneren Landnahme des Kapitals, insofern sie nicht mehr Lebensform sondern Kapitalanlage ist. (Zaghafte Versuche von Gegensteuerungen erhöhen nur die Gier.) Aber wir haben uns unseren Teil gesichert, mein Kind, wir sind im sichersten Teil der Stadt, wir haben die besten Netzverbindungen und Lieferservices, wir transferieren die Kerneinheit unserer Wohnung drei mal im Jahr auf eines der Global-Kreuzfahrtzeuge.

An die Kommunikation in virtuellen Räumen war man mittlerweile gewöhnt, und umgekehrt hatte man veritable Berührungsphobien entwickelt. Der Mangel an einer gemeinsam bewohnten materiellen, äußeren Wirklichkeit, hatte auch unsere innere Disposition zum Rückzug in die innere künstliche verstärkt. Lass dir von den Kulturpessimisten nichts einreden. Eine schöne Simulation ist einfach besser als eine hässliche Realität. Es kommt nur darauf an, systemrelevant zu bleiben, und dafür musst du wissen, worauf es ankommt: 

Ent-Urbanisierung und zugleich Ent-Naturisierung, Megacities und Endlos-Dörfer, die Netz-Abhängigkeit der fünf großen Lebensbereiche: Arbeit, Sexualität, Politik, Wissenschaft und Kunst (einschließlich ihrer popkulturellen Ableitungen), die fluide Verbindung von Virtualität und Simulation, das Leben in einem „smart home“, das zugleich Arbeitsplatz, Intimsphäre, Öffentlichkeit und Gefängnis ist, eine Suche nach neuer Wahrnehmung (Platons Höhlengleichnis in neuer Form), die Versuche von Urbanismus, Architektur und Design, auf die Veränderungen zu reagieren, die doppelte Spaltung der Gesellschaften (vertikal in Reiche, die immer reicher und Arme, die immer ärmer werden, horizontal in demokratische Zivilgesellschaften (oder was von ihnen blieb) und neue faschistische und rechtspopulistische Bewegungen, die Vermischung von Politik und Entertainment, Neoliberalismus als „zweite große Transformation“… All das ist keine Katastrophe. Es ist die Neue Normalität! 

Die Gewinner der Krisen hatten in ihnen nicht nur Reichtümer, sondern auch Macht angehäuft. Daher war es höchst unwahrscheinlich, dass sie in den Pausen zwischen den Krisen wieder etwas von ihren Privilegien abgeben würden. Jedenfalls nicht, wenn man wie die Regierungen dieser Jahre, jeden ernsthaften zusätzlichen Konflikt vermeiden will. Aber selbst die ökonomischen Wolken um die klassischen Institutionen mussten ein wenig gelichtet werden. Rund eine halbe Milliarde Euro, so wurde im November des Jahres 2020 bekannt, gibt die Bundesregierung Deutschland jährlich für Unternehmensberater in eigenen Diensten aus. (Wieso gehen wir eigentlich noch wählen, meinte jemand spöttisch, wenn dann doch nicht die Kasperl auf den Wahlplakaten, sondern „Berater“ über uns entscheiden; sie brauchen nicht unsere Zustimmung, sie brauchen nur unser Geld.)  „Nach SPIEGEL-Informationen fasste der Haushaltsausschuss in einer der nächtlichen Sitzungen vergangene Woche einen weitreichenden Beschluss, der dem zügellosen Einsatz von Unternehmensberatern in allen Ministerien ein Ende machen soll“. Und: „Vergangenes Jahr gab zudem die Aufklärung der Berater-Affäre im Verteidigungsressort tiefe Einblicke, wie abhängig das Haus von den externen Experten geworden ist. Ohne die Berater, berichtete die Hausspitze bei Vernehmungen vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestags dar, sei keins der großen Rüstungsprojekte mehr zu steuern.“[1] Da verstehst du, was ich meine: Die Berater sind systemrelevant. Und damit haben alle vier Schichten der Ökonomie, die Finanzinstitutionen, die Schmutzarbeit an Mensch und Raum (wir nennen es „wet work“), die Büro-, Verwaltungs- und Kulturarbeit in den Home Offices und schließlich die politisch-ökonomische Hybrid-Klasse der Lobbyisten, Berater und Vermittler, mit dem Instrument des Ausnahmezustands vom „freien Markt“ zur Erhaltung der Marktwirtschaft und ihrer Gesellschaft versehen. Die Stadt ist dabei zu einem leeren Zentrum geworden. Hier sind nur noch die Immobilienpreise interessant. Nicht weil man sie braucht, die Immobilien, sondern eben weil sie Wert sind in der Welt der produktiven Entwertung. 

                                                                            IV

Nach der Krise, die auf die Krise folgte, mussten die Staaten, so oder so, für die vielen Menschen sorgen, die in ihr Arbeit, sozialen Status, Existenz und Identität verloren hatten. Es wurde ein Verfahren eingesetzt, das Eingeweihte „Speenhamland 2“ nannten: Eine Vielzahl von Menschen wurden, da die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt sie nicht mehr ernährten, vom Staat mit Zuschüssen bedacht (was nebenbei auch zu einem gestiegenen Anteil an Arbeitsplätzen in der Bürokratie führte). Das Recht auf Lebensunterhalt, das aus den „Novemberhilfen“ des Jahres 2020 entstanden war, musste nicht nur den unverbesserlichen Vertretern des mittlerweile schon wieder historischen Neoliberalismus ein Dorn im Auge sein. Die massive Parallelorganisation der Arbeit, insofern sie auf die Systemrelevanz bezog, stellte das Konzept des freien, sich selbst regulierenden Marktes im Kern in Frage. Denn es war ein Heer von mehr oder weniger arbeitenden Menschen entstanden, die aus Mangel an Ehrgeiz und Wettbewerb an Wachstum so wenig wie an Schulden interessiert waren. Es war eine Form der „Gemütlichkeit“ eingekehrt, in der bescheidenes Glück oder unspektakulären Unglück das vorherrschende Empfinden war. Sogar die Konsumfreude pendelte sich auf ein unbefriedigendes Mittelmaß ein. 

A la longue konnten die Systeme Marktwirtschaft und Systemrelevanz nicht reibungslos nebeneinander funktionieren. Und der Status der Systemrelevanz bedeutete zu sehr den moral hazard: Die Systemrelevanten hatten bald weder ein Interesse noch eine Möglichkeit, das System wieder in Bewegung zu setzen. Die systemrelevanten Banken machten so weiter wie vorher, nur schlimmer, die Prekarisierung und Entwertung des „wet work“ wurde durch die Systemrelevanz der Arbeit vor Ort nur noch vorangetrieben, weil man die entsprechenden Menschen weiter entrechtet und entwürdigt hatte, die Bürokratisierung wurde durch das Home-Office vorangetrieben, und nebenbei mussten immer neue Kontroll- und Überwachungsinstrumente zwischen Arbeits- und Privatsphäre eingefügt werden, und die Aushöhlung der Demokratie durch un- und antidemokratische Machtinstitutionen ging immer weiter. „Systemrelevanz“ war das Ende der Stadt als Ort der freien Bürger*innen, der subjektiven Freiheiten und der Gesellschaft als Öffentlichkeit. Die Stadt verwandelte sich in Pyramiden und Zonen der Systemrelevanz. Aber auf Dauer wollte niemand das System der „Neuen Normalität“ bezahlen.

Die Politik der Systemrelevanz schuf die Instrumente, die dem freien Markt entzogen wurden, damit sie diesen davor bewahren sollten, sich und den kläglichen Rest der Welt in Chaos und Finale zu regulieren. (Man kann sich keinen „freien“ Markt vorstellen, der sich nicht am Ende selbst zerstört.) Freilich hatte das Leben unter dem Diktat der Systemrelevanz durchaus auch Züge einer politischen Diktatur angenommen. Natürlich wog ein unleugbarer Rückgang der Produktivität schwerer. Viel zu viele Menschen machten es sich gemütlich, und viel zu viele versanken in Melancholie oder brachen in hysterische Anfälle aus. Im Jahr 2034, zweihundert Jahre nach der ersten Abschaffung des Rechts auf Lebensunterhalt, wurde die öffentliche Unterstützung abgeschafft und der Arbeitsmarkt wieder eröffnet. Viele Menschen waren plötzlich wieder sich selbst überlassen, und besonders hart traf es diejenigen, die unter dem Schirm der Systemrelevanz ihre Würde gefunden hatten. Innerhalb weniger Monate brachte wieder jeder Bullshit-Job in der Finanz- und „Kreativ“-Wirtschaft das mehrfache von der Arbeit in einem Beruf des Care-Sektors. Eine neue Welle der Arbeits-Migration war die Folge, und damit auch wieder eine extreme Ungleichheit der sozialen Systeme. Es war einer der grausamsten Akte der Gesellschaftsreform nach der zweiten Transformation und vernichtete eine Unzahl von Existenzen, aber auch vom unübersehbaren Elend ließen sich die Moderatoren dieser neuen sozialen Umgestaltung nicht abhalten. An der Kaufkraft die „unten“ generiert wurde, veränderte sich nämlich quantitativ gar nicht so viel, nur die Verteilung war noch ungleicher als vor den letzten Krisen. Und nicht anders hatte es sich mit der Arbeit verhalten, wie du ja weißt. Zuerst wollte man, großzügig, nicht wahr, ein „Recht auf Homeoffice“ gewähren. Der Arbeitsminister des besagten Landes in Mitteleuropa versprach zunächst ein Recht auf 24 Tage Homeoffice im Jahr. Dann wurde, nach der üblichen Lobbyarbeit, dieses „Recht“ auf die „Arbeitgeber“ übertragen, die das Recht aufgrund triftiger Gründe ablehnen konnten. Schließlich wandelte man, es wurde kaum bemerkt, das Recht der Arbeitnehmer in eine Pflicht um. Nun musste ein Arbeitnehmer triftige Gründe dafür vorweisen, nicht im Homeoffice zu arbeiten. Ein Heer der Heimarbeiter entstand und wieder gab es, wie du weißt, eine Parallele zum Beginn des Systems. Das „Mobile-Arbeit-Gesetz“  war der Ursprung einer neuen Deklaration der Systemrelevanz. Denn erst damit gelang es, nach den Sonnenterrassen der Banken und Konzerne und nach dem Straßendreck und Menschendruck der Sozial- und Care-Berufe auch die digitalisierte Mittelschicht zum Gegenstand des ökonomischen Ausnahmezustands zu machen. Es wurde genau so viel Homeoffice verpflichtend, wie systemrelevant war. Die mittelständischen Wohneinheiten wurden zu multifunktionalen Smart Homes umgebaut. Der wahre Luxus begann dort, wo jemand es nicht nötig hatte, ein Haus, eine Wohnung zu dieser Einheit umzugestalten: Büro, Schule, Kita, Kantine, Sportstätte… „Wohnen“ wurde etwas ganz neues. Sonst könnte ich ja auch nicht dir den Sozialkurs geben, natürlich nach den Maßgaben des Ministeriums für Neue Normalität. 

Denn dies war die nächste große Krise, nach der dritten Pandemie, der fünften Finanzkrise und der andauernden Immobilienkrise: Die großen, chaotischen Aufstände, die nach der nächsten Deregulation ausbrachen und erst nach einigen wirklich drakonischen Einsätzen von Polizei und Justiz beendet wurden. Wir konnten keine demokratische Gesellschaft bleiben, und auch eine Rückkehr zur Marktgesellschaft war nicht möglich. Eine Verschwörung? Aber nein, das war keine Verschwörung. Das alles lag vielmehr in der Natur des Systems. Klar, einige profitierten mehr, andere litten mehr. Das aber hieß nicht einmal, dass die Leidenden mehr nach einem Wechsel des Systems verlangten als die Profitierenden. Es gab so viele Gründe, an das System „zu glauben“.

Der Systemmarkt brauchte eine Systemgesellschaft, die Normalgesellschaft, in der wir jetzt glücklich und zufrieden leben können. So steht es in den Unterrichtsanleitungen, und so ist es richtig. Wir mussten die Demokratie einschränken, um sie zu retten, und wir mussten den Markt einschränken, um ihn zu retten, und wir müssen nun die Relevanz einschränken, um das System zu retten. Hast du das alles gut verstanden? Fein, dann darfst du jetzt „Stadt und Land“ spielen.

Was meinst du? Aber ja, wir haben uns richtig entschieden. Da kannst du ganz beruhigt sein. Wir haben alles getan, was notwendig war. Das System? Das System ist jetzt perfekt. Oder?


[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-beschliesst-grosse-koalition-muss-berater-armee-reduzieren-a-1d90e6e3-8690-4556-a928-711914896707

Georg Seeßlen im August 2020 bei uns über die Systemrelevanz von Kultur.
Seine
Texte bei uns hier.