Schicksal und Kunst
Markus Pohlmeyer über „Das große Los“ und „7 Frauen“ –
„… et sursum deorsum fortuna versavit.“
(Seneca, epistulae morales 44: … und das Schicksal wendet [uns, alles?] auf und ab. Übers. MP)
I DAS GROSSE LOS
Die Geschichte von „Das Große Los“ (Joris Mertens)[1], einem wuchtigen Kunstwerk mit über 140 Seiten, lässt sich schnell erzählen – ich folge hier zuerst dem Buchrückentext: „François führt ein einsames aber geregeltes Leben, zwischen seiner Arbeit als Auslieferungsfahrer der Wäscherei Bianca und dem einen oder anderen Bierchen im Monico, seinem Lieblingslokal. Der einzige Lichtblick seiner gleichförmigen Tage ist der Besuch bei Maryvonne, die einen Kiosk betreibt, wo er Woche für Woche sein Glück im Lotto versucht. Wenn er irgendwann einmal das große Los zieht, dann wird er Maryvonne und ihrer Tochter ein besseres Leben bieten, so viel steht fest.“ Doch eines Tages Auslieferung von Wäsche in ein Außerhalb der Stadt. Verregneter Wald. Haus. In Rot getaucht, um einen Tisch, eine Gruppe ermordeter Männer. Revolver auf dem Boden … und eine Tasche voller Geld. Die François nimmt, um sie im Wald zu verstecken, beobachtet von zwei Kindern in gelben Regenmänteln. Zurück zum Lieferwagen. Abends im Fernsehen ein Fahndungsaufruf mit seinem Bild (S. 99).
Panik, Flucht weg von den Menschen, ein von Schrecken zerrissenes Gesicht. Die dunkle, regenasse, abendliche Stadt wirkt monströs, verlassen, gespenstisch, wenn François durch sie hindurch eilt, ein Getriebener, Isolierter, Vereinzelter. Mit dem Bus in den Wald. Wieder den Regenschirm vergessen (ein Leitmotiv). Beim Suchen und Ergreifen der Tasche versinkt François langsam und unaufhaltsam im überfluteten Gelände. Die Tasche öffnet sich: im grau-braunen Wasser schwimmen die Geldscheine. Geldscheine? Oder vielmehr nur Zeitungschnipsel? In seinem nassen, dunkel-weißen Grab, umflutet von Papier, bleibt sichtbar: François’ fast versunkener Kopf. Das nächste ganzseitige Bild: schwarze Bäume nach oben ragend. Gelb-rot-verwesend der herbstliche Boden dazwischen. Dann im Fernsehen François ‚ewige‘ Lottozahlen, endlich, aber zu spät; Postkarten von ersehnten Urlaubszielen, dazu eine Zeichnung von der kleinen Romy – mit Käfer, Schmetterling und Biene: und genau eben diese Zahlen in Blüten hineingemalt. Zum Heulen. Die Stadt (S. 36 f.) – auf dem Weg zu „Blade Runner“, etwas früher –, diese Stadt ein Ungeheueres, ein expressionistischer Moloch aus grauem Stein und alles verschlierendem Regen, alt und gleichzeitig eine ewige Baustelle, grell erhellt vom künstlichen Licht der Geschäfte und Autos.
Ein Noir-Film: nur in Buchform. Nicht bewegt, sondern angehalten. Der Regen steht, der Verkehr steht, die Menschen stehen. Kino, Bars, Sexclub-Reclam. François ohne Regenschirm über die Gleise der Straßenbahn, über nasses Pflaster, das die Lichter der Fassaden spiegelt (S. 73). Eine Welt, die man durch-blicken muss: vor oder hinter dem Schaufenster. Dies vielleicht ein wenig Sehnsucht nach dem Nie-Woanders und Schutz vor dem Draußen. Die Menschen kleben am Boden. Die ragenden Häuser zeigen erbarmungslos in die Höhe, aber schier unüberwindbar, vermauern sie den Blick, dirigieren ihn. So auf S. 76, wo am Ende einer angedeuteten Straßenflucht keine Weite kommt, sondern eine gotische Kathedrale, eine hellgraue Wand, die die Welt abschließt. Nur zwischen und neben den Türmen etwas Himmel. Der wie eine riesige Schwärze auch über dem leuchtenden Bahnhof liegt, wo in einem leeren Kaffee der fliehende François wartet: worauf?[2] Um sich dann doch für den Bus in den Wald zu entscheiden. Natur ist hier nicht nett, sondern genauso bedrohlich, letztlich tödlich. Anderes Licht als Schwarz und Grau nur künstlich. All das: ein von Menschen geschaffenes Gefängnis für alle.
Das Buch hat Kapitelüberschriften, eine davon: Fortuna; und die letzte: François. Aber auf den folgenden Seiten tritt der nun tote nicht mehr auf – wie auch? Das Bittere: er scheint keine Leerstelle zu hinterlassen. Die Menschen, der Regen, der Verkehr, das Geplapper; die Stadt macht weiter. Dann die ersehnten Lottozahlen: nur, Fortunas glückbringende Laune hat keinen Adressaten mehr. Der Rand einer Postkarte: Costa del Sol.
II FANNY
Wie Miniaturen, in ein bisweilen zartes, wärmeres Licht getaucht, fast hingehaucht der Band „7 Frauen“[3] – sensibel, provozierend, tragisch und doch auch nicht ohne Hoffnung. Stadt und Mann auf der einen Seite im Großen Los, hier Frau und Natur. Dies wirkt zwar sehr pauschal und plakativ formuliert; dennoch, beide Bände entwickeln Perspektiven des Menschseins in dramatischer Zuspitzung.

Still ist die Geschichte von Fanny. So still. Macht demütig. Auf der ersten Seite (67) kein Wort; ihre rotblonden Haar heben sich von den grauen, blassen Hintergründen ab. Dann Wechsel: Sie in einem Park, sie in einem Blauton; der Park hat nun die Farbe ihrer Haare: Herbst? Sie möchte sich später als Modell in einem Kurs malen lassen. Sie ist nackt; wieder Bilder um Bilder, ohne Text. Maler und Malerinnen gruppieren sich um ihre Schönheit. Sie wie ein aus der Welt gefallenes Kunstwerk – oder wie eines aus einer jenseitigen Welt. Zeit steht still. Und sie wolle auch kein Geld dafür, möchte nur einige Bilder für sich behalten. Später im Krankenhaus: Fannys Busen entfernt, ein großer Verband um ihre Brust. Sie wird sich das Gezeichnete anschauen, weil es zeigt, wie sie einmal war, aber auch, wie sie wieder werden kann, möglicherweise anders, und mit Hilfe von Rekonstruktionen, so der Arzt.
Es war für mich keine leichte Geschichte: denn ich habe schon viele Menschen in meiner Familie und im Freundeskreis an diese Krankheit verloren, die hier übrigens mit keinem Wort erwähnt wird. Ich sehe und lese Bilder, die zeigen, wie mit Bildern, mit Kunstwerken eine wichtige Erinnerung (memoria) aufgebaut wird, wenn auch melancholisch und sehr schmerzhaft, aufbewahrend und gleichzeig auf eine mögliche Hoffnung zeigend. Eine Schönheit, die, obwohl vergänglich, ewig ist. Fanny mit Verband, im Bad, vor einem Spiegel. Hier braucht es keiner Worte, sondern nur Tränen.
Am Ende sah ich sie ihre Bilder, die Bilder einer vergangenen Fanny betrachten. Sie schaut sich selbst im Kunstwerk an – in die Vergangenheit reisend: ja! Und in die Zukunft reisend? … dann schaut sie aus dem Fenster, Licht hüllt sie ein, fällt auf die Aktgemälde, auch wenn diese zum Teil im Schatten liegen. Keine leichte Geschichte über Verlust und Kunst und Schicksal. Eine Geschichte voll Mut und Widerstand und Trost.
Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Essays und Gedichte bei uns hier.
[1] Übers. v. A. Rothkamm, Bielefeld 2023/SPLITTER Verlag.
[2] Das große Los (s. Anm. 1), S. 110 f.
[3] Oliver Pont: 7 Frauen (Farben: L. Croix), übers. v. H. Sachse, Bielefeld 2017/SPLITTER Verlag („Fanny“ ab S. 65).