Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

Schatzkammer: Die Geschichte der Pressegrafik

Alf Mayer über das Standardwerk „Die Geschichte der Pressegrafik. 1819-1921“ von Alexander Roob

Welch ein Buch. Welch eine kolossale Leistung. Was all die Presseinstitute und Publizistik-Universitäten in ihrer gebündelten Geschichte bisher nicht vermochten, haben nun ein einzelner Forscher und der Verlag Taschen zu Wege gebracht: Unfassbar reich illustriert und zu einem wahrhaft demokratischen Preis von 60 Euro auf dem Markt, ist die „Die Geschichte der Pressegrafik. 1819-1921“ von Alexander Roob ein sofortiges Standardwerk. Es gehört bei Journalisten, Bilder- und Medienmachern, bei allen an unserem visuellen Zeitalter Interessierten auf den Tisch.

Gerade die Vorzüge der Pressegrafik – ihre Aktualität und Diversität – sind und waren es wohl, die bisher einer Überblicksdarstellung eher im Weg standen. Und natürlich vor allem das hierarchische Ordnungssystem der Kunstgeschichte, traditionell am platonischen Ewigkeitsideal ausgerichtet. So etwas wie die Pressegrafik ist da wie eine Eintagsfliege, der man bestenfalls, so Alexander Roob, „die unterste Schublade der Ephemera, der minderwertigen Eintagsobjekte, zuweist“ und sie dort vergisst. 

Alexander Roob war Kirchenmaler, zeichnete Comics und lehrte Grafik und Malerei an der Kunsthochschule Hamburg und der Kunstakademie Stuttgart, er befasst sich schon lange mit seinem Gegenstand. Das von ihm 2005 mitgegründete Melton Prior Institutit widmet sich der illustrationshistorischen Forschung. Er weiß: „Die Kulturwissenschaft hat die Pressegrafik thematisch filetiert und ungeachtet der frühen internationalen Vernetzung im Illustriertengewerbe und der daraus resultierenden Entwicklungszusammenhänge meist unter engen nationalen und regionalen Gesichtspunkten interpretiert. Auch dass die Fotografie- und Comic-Historiker früh einzelne Bereiche herausgelöst und separiert behandelt haben, hat mehr zur Verzerrung als zum Verständnis der Zusammenhänge beigetragen.“

Dabei war die Karikatur neben der Fotografie das fortschrittlichste und folgenreichste bildnerische Medium des 19. Jahrhunderts. „Caricare“ (ital.) heißt laden, und geladen hatte dieser Bereich der Illustration nicht nur politischen Sprengstoff, der sich bevorzugt gegen Staat und Kirche richtete. Auch die Entwicklung des kritischen Sozialrealismus in der Kunst fand, so Roob, unter dem breiten Dach der Karikatur ihren Ausgang. Darüber hinaus inspirierten die andauernden Konflikte mit der Zensur vor allem die Karikaturisten in Frankreich zu bildnerischen Attacken, in denen sich bereits die Avantgarden des 20. Jahrhunderts ankündigen. Diese Künstler unterminierten in ihren Cartoons die Prätentionen der Salonkunst und unternahmen in ihren Ausstellungen eine lustvolle Demontage des arrivierteren Kulturbetriebs.

Alexander Roob entwickelte daraus bereits 2013 die Ausstellung „Drawing Protest – Grafik der Auflehnung, 1525 – 1970“ und zeigte dabei, wie Protest im Verlauf der Jahrhunderte abgebildet wurde. Sein grundlegendes Buch nun konzentriert sich auf die Epoche, in der die Pressegrafik bestimmend war, sie dauerte ungefähr ein Jahrhundert lang, von den satirischen Kampagnen William Hones am Ende der 1810er-Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, als die Illustration durch die verfeinerten fotomechanischen Reproduktionsverfahren zunehmend aus dem Druckbild der Zeitungen verdrängt wurde. Ihr Golden Age dabei siedelt er 1873–1918 an.

Und immer erzählt Roob – das ist neben der unfassbar üppigen Bebilderung des Bandes dessen zweiter Vorzug – Zusammenhänge, Hintergründe, Geschichte und Perspektiven mit. Wieder und wieder macht er deutlich, dass es sich beim Genre der Presseillustration um eine genuin demokratische Kunstform handelt, die sich komplementär zur (akademischen und oft Speichel leckenden) Hochkunst entwickelt hat. Sie entstand mit den Anfängen des neuzeitlichen Journalismus in Europa, während der Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert und der Zeit der Aufklärung. Ihr Ort waren nicht die Musentempel oder die feudale Salons, sondern der öffentliche Raum – die Domäne der res publica. Bevor aber die Werke der Pressezeichner zugänglich, im Handverkauf verfügbar waren, mußten in langem Ringen Restriktionen durch Steuer und Zensur bekämpft und Distributionshindernisse überwunden werden. 

Alle Abbildungen: © Melton Prior Institute in Düsseldorf

Politisch war der Aufstieg der illustrierten Presse, so zeigt es Roob, eng mit den Agitationen der englischen Radikalen für Parlamentsreform und Pressefreiheit verbunden. Ihre Bildpamphlete inspirierten 1830 in Frankreich den republikanischen Karikaturenkampf gegen die korrupte Juli-Monarchie und wenig später in England die Gründung der ersten Massenillustrierten, des „Penny Magazine“ (Im Untertitel: „Society for the Diffusion of Useful Knowledge“). In den 1840er Jahren gab es die ersten großen Nachrichtenillustrierten, die sich auch international durchsetzten. Die erste Nachrichtenillustrierte in Großauflage war das im Mai 1842 gestartete Wochenmagazin „The Illustrated London News“.

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang blieb diese neue Form einer beschleunigten und im Bereich des Cartooning auch kritischen bildhaften Nachrichtenkunst das bildnerische Leitmedium, der Maßstab für modernité. Die grafischen Reporter wurden „special artists“ oder kurz „specials“ genannt. Zu ihren Aufgaben zählte nicht nur die grafische Berichterstattung vor Ort, sondern auch die journalistische Recherche, die, so Roob, „in manchen Fällen zu veritablen Forschungsarbeiten mit geo- und ethnografischen Schwerpunkten anwachsen konnte. Einige dieser frühen Bildjournalisten avancierten zu Medienstars, die es verstanden, sich abenteuerlich in Szene zu setzen. Sie waren nicht nur durch ihre Illustriertenbeiträge präsent, sondern auch mit Reisebüchern, Autobiografien und Vortragsveranstaltungen.“

Die Besonderheit der pressegrafischen Kunst, so arbeitet es das Buch heraus, lag weniger in den Spezialisierungen als vielmehr in der stilistischen Flexibilität und einem breiten Spektrum, das neben dem Bereich des Dokumentarischen auch das politische Cartooning, die grafische Humoreske sowie Genre-, Science-Fiction- und Fantasy-Illustration beinhalten konnte. Noch einmal Roob: „Eine Illustrationshistorie, die es gewohnt ist, Bildjournalismus und Karikatur als separate Genre zu behandeln, ignoriert nicht nur diese Überschneidungen im Werk einzelner Künstler, sondern verkennt auch den engen genealogischen Zusammenhang, der auf Pioniere der Sozialreportage, wie Pieter Bruegel, Jacques Callot und William Hogarth, zurückgeht, die mit ihren karikaturesken Arbeiten die klassische, formative Phase der Pressegrafik geprägt haben.“

Die grotesken Typologien dieser frühen Illustriertengrafik hatten nicht nur immensen Einfluss auf die epochalen Romane eines Honoré de Balzac und Charles Dickens, sondern auch auf die Entwicklung der sozial-realistischen Kunst, die in Frankreich unter der Flagge der „caricature“ reüssierte. 

Ein eigenes Buchkapitel ist dem zeichnerischen und malerischen Werk von Vincent van Gogh gewidmet. Dieser passionierte Sammler und Anwalt der zeitgenössischen Illustriertengrafik verkörpert ideal die spektakuläre Vielfalt von Individual-Stilen, die sich in der Pressegrafik ab den späten 1860er-Jahren Raum schufen. Karikatur und dokumentarische Pressegrafik begannen sich ab Mitte des 19. Jahrhundert auseinanderzuentwickeln; ein Phänomen, das sich in den Genrewechseln des jugendlichen Ausnahmetalents Gustave Doré auf exemplarische Weise zeigte. (Siehe auch in dieser Ausgabe nebenan die Besprechung seiner Monografie – AM.)

Spannend finde ich, mit welchem Gespür Roob den Wirklichkeitsbruch und die Fragmentierung einer zusehends moderneren Welt in den hybriden Bildwelten der Illustrierten und der noch jungen Boulevardpresse verortet. In den illustrierten Sensationsmeldungen kündigen sich die Phantasmen des Surrealismus ebenso an wie die Weltkriege, Katastrophen und Weltuntergänge. 1902, mit dem Titel „Ende der Welt“, wird der Eiffelturm von einem Eisberg getroffen.

Detailliert und kundig verfolgt das Buch den Krimkrieg (1853–1856), in dem England und Frankreich gemeinsam gegen das expandierende russische Zarenreich vorgingen. Die führenden „special artists“ auf der Krim waren Henri Durand-Brager, der für die französische „L’Illustration“ arbeitete, und Constantin Guys, der die britische „Illustrated London News“ belieferte. Beide Pioniere des grafischen Kriegsjournalismus verfügten über eine militärische Ausbildung. Durand-Brager, zugleich ein brillanter Autor, bevorzugte die akribische, naturalistische Form der Reportage, Guys hingegen einen freien, synoptischen Zeichenstil. Aufgrund seiner beschleunigten, ambulanten Aufzeichnungsweise wurde er zur bildjournalistischen Leitfigur der impressionistischen Avantgarde, weiß Roob.

Welt in Scherben – in Prismen gebündelt

Fragmentierung und Inkohärenz lagen dem Druckbild der Zeitungen eh von Anfang an zugrunde. Das zufällige Zusammentreffen verschiedenster Nachrichten und ihr ebenso zufälliges Nebeneinander im Spaltensatz der Zeitungen und Magazine entsprach in der Illustriertengrafik eine Tendenz zu pluralen, patchworkartigen Bildformaten. In England war bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts mit dem „medley print“ eine disjunktive Form der grafischen Collage aufgetaucht, die in engem Zusammenhang mit dem boomenden Journalismus stand. Die heutige, zersplitterte Medienwelt gab es schon damals, wenn auch in weniger Scherben.

Deren eine ist, dass die Blütezeit der Pressegrafik mit der immer noch wenig verarbeiteten Phase des eurozentrischen Imperialismus zusammenfällt. Die rassistischen und sozialen Stereotype, die diese prekäre Epoche bestimmten (und heute noch Teil unserer Bildwelten sind), wurden vor allem von der Illustriertengrafik geprägt. Das hängt ihr bis heute den Ruch des Verfemten und des Anachronistischen an. Was soll uns das 19. Jahrhundert? Nationalismus, Imperialismus, Rassismus, kolonial geprägte Globalisierungsdynamik und Emanzipationskämpfe – das lernen wir gerade – sind aber immer noch relevante Themen, ihr Hintergrund für das Verständnis der aktuellen politischen Entwicklungen bedeutsam. Alexander Roob: „Viele der Kriegsschauplätze, von denen die frühen Bildjournalisten berichteten, sind die weltpolitischen Konfliktherde von heute, und auch die sozialen Konflikte, die sie schilderten, haben an historischer Ferne eingebüßt. Selbst das emanzipatorische Leitmotiv des Zensurkampfs scheint aktueller denn je.“

Alf Mayer

Alexander Roob: History of Press Graphics. 1819–1921. Dreisprachige Ausgabe Deutsch-Englisch-Französich. Verlag Taschen, Köln 2023. Hardcover, Format 24,6 x 37,2 cm, 4,89 kg, 604 Seiten, 60 Euro. – Verlagsinformationen: taschen.com.

Abb: Pegasus verlässt die preußischen Staaten, weil er Gefahr läuft, aufgefressen zu werden Lithograph, Düsseldorfer Monatshefte, 1848 Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek

Paul Iribe, 1917 „Ich bin da, Herr Hauptmann, Sie fallen nicht. – Ja, Kamerad“
From: La Baïonnette, Paris, 5 July 1917

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