Geschrieben am 1. September 2023 von für Crimemag, CrimeMag September 2023

Verdachtsmomente: Schweizer Fichen und Dossiers

Einblick in einen Überwachungsstaat

Eine Blütenlese aus den Akten der Schweizer Staatssicherheit

Dieses im April 2022 erschienene Buch liegt schon eine Weile auf meinem Besprechungsstapel, endlich kann ich diesem hochinteressanten Zeitdokument ein wenig Gerechtigkeit tun. Das vom Historiker Daniel Hagmann herausgegebene, vom Basler Gestaltungsbüro Berell Gschwind preisverdächtig ansprechend gestaltete Lesebuch „Verdachtsmomente. Fichen und Dossiers aus dem Archiv des Staatsschutzes“ hat eine angenehme Haptik, klare Schriften, klare Gestaltung, bestes Papier – und das ist auch gut so, denn der Inhalt ist haarsträubend. Ein Lehrstück.

Der Band erlaubt erstmals einen umfassenden Einblick in Originalakten des Schweizer Staatsschutzes. 52 Fichen (Karteikarten) und sieben Falldossiers der 1950er- und 1960er-Jahre aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt führen in eine Welt aus Bespitzelung, Spionage und penibler Bürokratie. Ausführliche Kommentare des Herausgebers und ergänzende Beiträge von Alt-Ständerätin Anita Fetz, dem ehemaligen Polizeikommandanten Robert Heuss und der Historikerin Brigitte Studer machen verständlich, wie der Schweizer Staatsschutz und sein Schnüffelstaat funktioniert haben. 

„Der Kalte Krieg war auch in der Schweiz eine Ära des Verdachts“, summiert Herausgeber Hagmann, der als Student wegen einer einzigen Glosse über eine Sitzung des Studentenrats ebenfalls „fichiert“ worden war. Es gab eine antikommunistische Verdachtsmentalität, die Staatsorgane befürchteten eine kommunistische Unterwanderung der Schweiz. Und da genügte das Abonnement einer linken Zeitung für eine „Fichierung“.

In der Fiche zu Bruno Balscheit zum Beispiel, seit 1937 Gemeindepfarrer in Läufelfingen und seit 1947 sozialdemokratischer Landrat, steht: „Bericht der Bundesanwaltschaft vom 26.3.1952 betr. Tätigkeit des B. der von bürgerlicher Seite als Kryptokommunist bezeichnet wird. Pfarrer Balscheit hielt u.a. einen Vortrag ‚Christentum und Kommunismus’ an einem sog. Männerabend der Kirchgemeinde Frenkendorf-Füllinsdorf. Juni 52.“

Der Schriftsteller Max Frisch war nur einer von vielen, die in der Nachkriegszeit amtlich belauert, observiert und registriert wurden. Das ganze ungeheuerliche Unternehmen flog 1989/90 im Nachzug der sogenannten Affäre Kopp auf und mutierte zur Fichen-Affäre, nachdem in der Hauptregistratur der Bundespolizei in Bern zirka 900.000 Karteikarten entdeckt worden waren. Zwei Drittel dieser Fichen betrafen Ausländer, ein Sechstel erfasste Organisationen und Ereignisse, der Rest fokussierte sich auf Einheimische. Ironischer Twist der Weltgeschichte: Zur gleichen Zeit wurde auch öffentlich, wie in der alten DDR das Spitzelsystem funktioniert hatte.

Fast eine Million Schweizerinnen und Schweizer wurden während des Kalten Krieges vom Staatsschutz observiert. Auf individuell angelegten Karteikarten oder „Fichen“  produzierte die Bundesanwaltschaft ihre eigene Verdachtschronik. Der grotesk banale Charakter der Akten verstärkte nur den Skandal. Max Frisch notierte in seiner letzten, posthum zustande gekommenen Veröffentlichung: „Ich bekenne, dass ich dieser Regierung kein Vertrauen mehr schenke . . . Was muss ausserhalb des Bundeshauses geschehen, damit die Schweiz, wie sie der Bürgerblock mit seiner Dominanz in der Bundesversammlung und also auch im Bundesrat zustande gebracht hat, im neuen Europa nicht dasteht als Dorftrottel?“ Als Max Frisch im Sommer 1990 seine Staatsschutz-Akte erhielt, macht er ihr per Collage den Prozess, es wurde sein letztes Werk. (Siehe auch „Die Akte F.“ in NZZ Geschichte, Nr. 3, und das bei Suhrkamp erschienene Typoscript „Ignornaz als Staatsform?“, Berlin 2015).

Daniel Hagmann hatte für sein Buch, das Produkt jahrelanger Recherche und Beschäftigung, Zugang zum Staatsarchiv Basel-Stadt und dort sehr viel Unterstützung. Alleine die Unterlagen des basel-städtischen Staatsschutzes vor 1989, gesammelt in 41 Jahren, umfassen über eine halbe Million Fichen auf Mikrofilm, dazu kommen rund 130 Laufmeter Akten. Fichen in Papierform existieren im Basler Staatsarchiv noch einige Zehntausend. Insgesamt sind knapp 3400 Personendossiers aus der Zeit zwischen 1938 und 1989 erhalten geblieben. 

Viele dieser Unterlagen, findet Daniel Hagmann, „bieten hervorragenden Stoff für Politthriller oder Spionagegeschichten“, wäre er Schriftsteller hätte ihn das sehr verführt. Sein Interesse – und das des Buches – aber sei es, die Akten selbst sprechen zu lassen. Die Logik der polizeilichen Weltsicht vermittle sich so ungleich besser als durch Nacherzählungen und Analysen. Hagmann: „Die Macht der ‚Verdachtsmomente’ entlarvt sich durch ihre eigene Sprache.“

So ist ein Lesebuch der ganz besonderen Art entstanden. Eine Anthologie. Auf Deutsch: eine Blütenlese, aber mit Fußnoten. Auch Banales und Bruchstückhaftes kommt vor, die ganze staubige Sprachmischung aus Verwaltungsroutine, polizeilicher Berichtslogik und zeitgenössischer Wertehaltung. Zur Blütenlese des impressionistischen Werks, so Hagmann, gehören deshalb Orchideen ebenso wie Gänseblümchen. „Ich hoffe“, meint der Herausgeber, „dass die Sprache der Akten etwas übermittelt vom Angstschweiß und vom Ärger der Verfolgten, vom Klappern der Schreibmaschinen und dem Quietschen der Registratur-Schubladen, von der distanzierten Routine der Sachbearbeiter.“

Die Illustration war schwierig, schließlich wurde eine ganz besondere Form gefunden: Durch das ganze Buch ziehen sich Zeichnungen im Kugelschreiberstil, sozusagen bildnerische Notizen. Sie wollen, anders als die Akten, nichts beweisen, nur ‚Verdachtsmomente’ und Stimmungsbilder sein. So ist ein ganz besonderes, zeitloses Werk daraus geworden: Aufbewahren für alle Zeiten.

Alf Mayer

Daniel Hagmann (Hg.): Verdachtsmomente . Fichen und Dossiers aus dem Archiv des Staatsschutzes. Christoph Merian Verlag, Basel 2022. 380 Seiten, 73 farbige Abbildungen und Illustrationen, broschiert, 32 Euro.

Siehe in diesem Zusammenhang auch meine Besprechung von „Österreichs Geheime Dienste“ im CulturMag 12_2022.

P.S. Konstanz, Mitte der 1970er Jahre: Ein paar StudentInnen der Uni Konstanz hatten – wohl kontingentgebunden – Zimmer resp. Wohnungen in der Zwillingsstadt von Konstanz, dem schweizerischen Kreuzlingen, ergattert, die damals günstiger waren als auf der deutschen Seiten (tempi passati). Und so konnte man, zur großen Erheiterung, bisweilen unauffällige Herren in Gemüsebeeten, Gärten und Sträuchern kauern und lauern sehen, die Ferngläser auf bestimmte Wohnungen gerichtet, ob da nicht Menschen hausten, die nicht registriert waren. Weniger erheiternd waren die „Überraschungsbesuche“ der Schweizer Behörden, die vor allem an der Anzahl der Zahnbürsten im Bad interessiert waren – denn eine Zahnbürste zuviel galt als sicherer Beweis illegitimen Aufenthalts, was wiederum auf schlimme Libertinage hindeutete. Echos davon finden sich in Rolf Lyssys großartigem Film Die Schweizermacher von 1978. Was haben wir gelacht … (TW)

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