
Hochrisiko-Roman, aktuell, virtuos
„Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ – das ist nun wirklich ein sehr ungewöhnlicher Titel, den sich da die österreichischen Schriftsteller und Dramatikerin Anita Augustin ausgedacht hat. Und er ist auch eine Verpflichtung für ein ebenso ungewöhnliches Buch. Der Roman erzählt von der Apothekerin Cornelia Karl, deren zwölfjährige Tochter Elli verschwunden ist. Cornelia Karl findet heraus, dass Elli möglicherweise einem Pädophilen zum Opfer gefallen ist. Offizielle und private Ermittlungen bringen keine Ergebnisse, also beschließt sie, da anzusetzen, wo Menschen, die pädophil veranlagt sind – ob sie nun pädokriminell geworden sind oder nicht – Heilung und Beistand suchen: bei einem auf solche Fälle spezialisierten Psychotherapeuten. Cornelia Karl beginnt eine Affäre mit Dr. Leopold Frank, eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Jahrelang wartet sie auf die passenden Informationen, die der eitle und geschwätzige Frank herausrückt, um endlich den lange gesuchten Pädophilen, Ellis „Sugardaddy“, zu identifizieren. Der heißt Victor, arbeitet als Filmkomparse, spezialisiert auf Sterbe-Rollen, und leidet an seiner Veranlagung. Er möchte „normal“ werden und sucht eine Lebenspartnerin, bei und mit der er seine Disposition überwinden kann. Cornelia inszeniert ein Treffen, alles läuft glatt, bis Victor seiner großen Hoffnung nichtsahnend Zackenbarschfilets servieren möchte … So auf die pure Handlung heruntergebrochen könnte es sich bei dem Buch um einen originellen Psychothriller handeln.
Diese Option aber blockiert Anita Augustin mit einem Schlussteil, der halluzinatorisch, surreal und grotesk gestaltet ist, und eine realistisch-abbildende Lektüre unmöglich macht. Der Roman ist weit riskanter. Zentral sind, neben Cornelias Recherchen, die „Gentlemen“, die pädophilen Menschen, die bei Dr. Frank in Behandlung sind. Fünf Männer, die unter ihrer Disposition leiden, bei manchen von ihnen bleibt unklar, ob sie schon pädokriminell geworden sind. Augustin schildert ihre Schicksale durch die Perspektive von Victors Tagebuch – auch das bis in die schräge Grammatik hinein, keine Textpassagen, die irgendwie einen „Wahrheitsgehalt“ garantieren könnten. Klar allerdings ist, dass diese gesellschaftlich eher als „Monster“ verstandenen Männer Menschen sind, die ihre Dämonen bekämpfen wollen, oder müssen, um nicht (wieder) im Knast zu landen. Augustin setzt sich dabei natürlich dem Verdacht aus, Kinderschänden zu verharmlosen, zu relativieren, gar zu legitimieren, nach dem Prinzip „Monster sind auch Menschen“. Ja, Monster sind auch Menschen, aber wer ein Monster ist, ist nicht immer von vornherein ausgemacht. Und Augustins Roman ist kein Aufruf zur Toleranz gegenüber kriminellen Pädophilen, die sexualisierte Gewalt ausüben, auch wenn sie sich auf „Liebe“ berufen oder ihr Treiben kulturhistorisch absichern, wie dies Victor mit seinem Ophelia-Fixierung versucht, auf den er sich immer wieder beruft.
Es ist schon ein erstaunlicher und mutiger Drahtseilakt, den die Autorin da begeht. Zumal das Buch gespickt ist mit messerscharfen, grimmig-komischen Beobachtungen und Kommentaren über unsere Gesellschaft, über die unterschiedlichen Lebenschancen, über Konstruktionen von „normal“ und „deviant“, über frivole Toleranz und geschäftstüchtige Therapie, über fluid gewordene Geschlechterrollen.
Als Roman kann so etwas funktionieren, wenn man, wie Anita Augustin es großartig tut, die Vis Comica einsetzt. Die Kraft des Komischen, das in fast jeder Zeile des Romans steckt. Komik löst Dogmen auf, zersetzt Ideologien und feste Einstellungen, ohne eine Gegenbildlichkeit aufbauen zu müssen. Cornelia Karl sieht das Komische im Grausamen, das Absurde und Groteske ihrer Situation, während Dr. Franks Ironie nur gleichgültige Distanz produziert und Victors Weltsicht in bitterem, fast schon zynischem Fatalismus steckenbleibt.
„Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ ist ein Hochrisiko-Roman, aktuell, virtuos und wegen seines Außenseiter-Themas keinesfalls auf das Problemfeld „Pädophilie“ begrenzt.
Thomas Wörtche
Anita Augustin: Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier. Leykam Verlag, Graz-Wien-Berlin 2023. 316 Seiten, 24,50 Euro.