Geschrieben am 1. Oktober 2023 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2023

TW zu „Prophet“ von Sin Blaché/ Helen Macdonald

Ein wundersam wucherndes Hybrid

„Prophet“ heißt das literarische Debut des kalifornisch-irischen Autorinnentandems Sin Blaché und Helen Macdonald. „Prophet“ wird eine Substanz genannt, die Menschen befällt und deren nostalgischen Kindheitserinnerungen in materielle Objekte verwandelt. So taucht zum Beispiel irgendwo im ländlichen England aus dem Nichts ein originales American Diner aus den 1950er Jahren auf, inklusive roten Sitzbänken und Music-Box. Allerdings fallen auch im Umfeld solcher Ereignisse tote Menschen an. Grund genug, für die amerikanischen und englischen Geheimdienste, ihre besten Leute auf dieses ganz und gar unerklärliche Phänomen anzusetzen. Die Amis schicken einen eiskalten Special Ops Mann, Colonel Adam Rubenstein, die Brits einen exzentrischen Ex-MI6-Agenten namens Sunil Rao. Beide haben schon in Usbekistan und Afghanistan unappetitliche Jobs für ihre Dienste erledigt und sind sich in einer komplizierten homoerotischen Beziehung inniglich zugetan.

„Prophet“ allerdings ist ein ganz eigenes Kaliber. Die Substanz, oder was auch immer sonst das Phänomen sein könnte, das am Ende die Menschheit bedrohen wird, scheint einem privaten Labor entwichen zu sein, zusammengebraut von eine nicht näher beschrieben außerstaatlichen „Elite“, die die Menschen mit falschen, nostalgischen Erinnerungen an ein „besseres Früher“ manipulieren will. Das läuft aus dem Ruder, denn Prophet wird immer aggressiver, immer tödlicher. Es scheint, dass nur Rubinstein und Rao, die beide ebenfalls über nicht näher definierte „übersinnliche“ Fähigkeiten verfügen, das Ungeheuer stoppen können. 

„Prophet“, der Roman, ist ein wundersam wucherndes Hybrid aus Science Fiction, Polit-Thriller, Horror-Roman mit jeder Menge metaphysischer Spekulation. Das Buch wimmelt von brillanten, oft bizarr-komischen, wenn auch brutalen Ideen, wenn ein zum Beispiel ein Mensch und sein Lieblingshund zu einer untrennbaren organischen Masse werden oder wenn Spielzeuge anfangen, Menschen zu verschlingen. Aber das sind nur ein paar der vielen, grimmigen Scherze, die sich „Prophet“ erlaubt.

Natürlich kennen die Autorinnen ihre Quellen – Philip K. Dicks Romane über drogeninduzierte Verwischungen der Realitätsebenen, Stephen King sowieso, oder die Body-Horror-Filme von David Cronenberg, und natürlich vieles mehr. Im Grunde ist „Prophet“ ein riesiger Meta-Romane aus dem endlosen Speicher (westlicher) fantastischer Literatur seit der Antike. Gleichzeitig ist er aber auch ein aktueller Roman, weil er über die politische Macht einer Illusion von besserer Vergangenheit handelt, die es so nie gab – ein Standard aller rechtspopulistischen und trumpistischen Strömungen der Gegenwart. Sie schlagen hier in den puren Horror um. Was sonst?

Ein wenig gebremst wird die Freude an diesem intrigenreichen, spannenden, und teilweise witzigen und vor allem immer wieder überraschenden Buch durch die oft überbordende Thematisierung des Verhältnisses von Rao und Rubinstein und anderen diskursiven, sehr metaphysisch-spirituellen Passagen, die schlicht langweilig bis schwurbelig sind. 

Kein Manko hingegen ist der Verzicht des Tandems, die Substanz Prophet und deren Verhalten, Intention und Realitätstatus zu erklären oder sonst wie zu rationalisieren. So wie „Nostalgie als Waffe“ auf dem Weg zur Weltherrschaft schlecht zu rationalisieren ist, auch wenn sie realpolitisch zu funktionieren scheint.

Thomas Wörtche

Sin Blaché/ Helen Macdonald: Prophet (Prophet, 2023). Deutsch von Thomas Gunkel. Hanser Verlag, München 2023. 525 Seiten, 25 Euro.

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