Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

TW zu Max Annas „Der Hochsitz“

Die ganze Welt in einer Nussschale

Die Provinz ist giftig. Max Annas‘ neuer Roman, „Der Hochsitz“, auch wenn er ein historischer Kriminalroman ist, der im Jahr 1978 spielt, belegt diesen Befund. In dem Buch kommen unter anderem vor: Ein Bankraub, Drogenschmuggel, Terroristinnen, zwei Morde, Wahnsinn und ein ominöser Amerikaner, der Bauern für ihre Höfe irrwitzige Kaufsummen anbietet. Und das alles in einem kleinen Dorf in der Eifel, an der luxemburgischen Grenze. Es gibt zwar Polizei und den Zoll, aber die blicken nicht durch, und insofern sind „Ermittlungen“ hier kein zentrales Thema bei Max Annas. Stattdessen wird die Geschichte – oder die Geschichten des Romans – hauptsächlich aus der Perspektive zweier Teenies erzählt: Sanne und Ulrike, 11 Jahre alt, immer mit ihren Fahrrädern unterwegs und oft auf einem Hochsitz anzutreffen.

Vom Hochsitz aus sehen sie viel, auch wenn sie nicht alles verstehen, was sie da so sehen.  Ihre Welt ist klein – sie mopsen Hanutas, um an Fußballerbildchen zu kommen, sie klauen RAF-Fahndungsplakate und schneiden Terroristen-Fotos aus, die sie neben den Fußballern einkleben. Sanne beobachtet einen Mord und beide entgehen am Ende selbst haarscharf dem Schicksal, ermordet zu werden, wenn nicht die zwei Frauen von der RAF … aber mehr wird nicht verraten. Dabei liegt die ganze Welt in einer Nussschale vor den beiden Mädchen. Die skandalöse 78er Fußball-WM im diktatorischen Argentinien, die Nazi-Vergangenheit der Gegend, repräsentiert von dem geldstreuenden Ami – eine schöne Referenz an Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ -, die Jagd auf die RAF, das Einsickern der Organisierten Kriminalität in die letzten Winkel der westdeutschen Provinzen.  Die anscheinend kontingenten Wahrnehmungen der Mädchen reichen nicht aus, die Handlungsstränge (oder besser: -fragmente) des Romans zu synthetisieren, auch nicht die eingelegten Passagen von anderen Erzählerinnen und Erzählern, und schon gar nicht das Showdown, das die Fraktalisierung des Erzählens auf die Spitze treibt. 

Insofern ist Annas´ Roman auf keinen Fall als „Regio-Krimi“ zu verorten, ein Genre, das gerne ein Residual des Realismus des 19. Jahrhunderts ist, und dessen mechanistisches Fall-Aufklärungs-Schema Annas nonchalant ignoriert. 

„Der Hochsitz“ reflektiert bundesrepublikanische Geschichte mit Mitteln von heute. Eine Geschichte, die damit nicht monolithisch und festgeschrieben auftritt, sondern immer wieder neuen Interpretationsansätzen unterliegen muss, um überhaupt einen „Erkenntniswert“ zu haben. Nach zwei historischen Kriminalromanen über die DDR, nimmt „Der Hochsitz“ solchermaßen das andere Deutschland mit seiner Art von Elend ins Visier.

Und natürlich erfreut Annas dabei auch noch mit seinem Sinn für sprachliche Feinheiten: Wann haben Sie das letzte Mal von „eingefleischten Junggesellen“ gelesen? Oder den begeisterten Quieker, „Du Ferkel“, wenn es um den außerehelichen Sex des Bürgermeisters mit seiner Sekretärin geht? Solche alltagshistorischen Juwelen baggert „Der Hochsitz“ am laufenden Band aus, sie machen den Roman auf allen Ebenen stimmig. Ein starkes Stück Literatur.

Max Annas: Der Hochsitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 202. 271 Seiten, 22 Euro.

8/2021 Thomas Wörtche

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