Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023, News

TW: Mathias Enards Scharfschützenbuch

Mathias Enards Roman „Der perfekte Schuss“ ist ein verstörendes Buch. Herauszufinden warum, versucht Thomas Wörtche

In kriegerischen Zeiten ist „Krieg“ als Thema von Kunst und Literatur nicht besonders überraschend. Krieg hat Konjunktur.  Und im Fall von Mathias Enards Roman „Der perfekte Schuss“ den Effekt, dass wir endlich diesen sperrigen, widerborstigen und gleichzeitig luziden Roman aus dem Jahr 2003 endlich in deutscher Übersetzung lesen dürfen. 

„Der perfekte Schuss“ ist ein Roman über einen namenlosen Scharfschützen in einem namenlosen Krieg. Angesiedelt in einem namenlosen Land, in einer unbestimmten Zeit. Die beschriebene Vegetation weist auf den Mittelmeerraum hin, die Mischung aus Häuserkampf und Operationen im Bergland auf den Jugoslawien-Krieg, der Akzent auf den Job des Snipers, des Scharfschützen, auf die Belagerung von Sarajewo (1992 – 1996). Deswegen kann man den Roman auch aktualisiert lesen, wenn man will: der „Universal Soldier“ ist natürlich auch in der Ukraine unterwegs, in Syrien und wo auch immer gerade gekämpft wird.

Aber um einen vordergründig politischen Kommentar ging es Enard auch damals schon nicht. Wer die Kriegsparteien sind, wer die Guten, wer die Bösen spielt in diesem Konzept keine Rolle, noch nicht einmal, wer die Opfer sind. Feinde, Zivilistinnen und Zivilisten, Kinder, zufällig des Wegs kommende Menschen, selbst Tiere, die ins Fadenkreuz des Schützen geraten. „Wichtig ist die eigene Person“, sagt der ich-erzählende Sniper, der anscheinend omnipotente Herr über Leben und Tod. Dieser Schütze ist noch jung, Anfang zwanzig, und wie wir wissen, gehören junge Männer mit Schusswaffen zu den gefährlichsten Sortierungen der Menschheit. Viel mehr wissen wir nicht über ihn. Als Scharfschütze ist er überaus kompetent, daraus leitet sich seine Autorität unter den Kameraden ab, aus diesem Status bezieht er seine sozialen Standards: Er hat kein Problem damit, seine demente Mutter zu schlagen, ein bisschen foltern ist okay, zu arg foltern und vergewaltigen eher nicht. Er onaniert viel. Sein Sex-Interest ist die fünfzehnjährige Waise Myrna (neben seinem Freund, dann Feind Zak, die einzige Person, die einen Namen trägt), die er als Haushälterin für seine Mutter einstellt, und die er stalkt und peeped, deren Tante er zu ermorden droht, wenn sie ihm nicht zu Willen ist, und deren eher indolente und ängstliche Zurückweisung er nicht erträgt, auch wenn er vermutlich zu lieben gar nicht fähig ist.  Und wenn ihn ob all des Grauens, das ihn Enard mit eisiger Präzision und ohne mildtätige Schnitte erzählen lässt, dann doch einmal die Nerven durchgehen oder der Alp quält, reißt er sich schnell wieder zusammen: „Man muss sich daran gewöhnen, lernen, sich zu beherrschen und seine Schwächen zu verbergen.“  Mit solchen Typen lässt sich Krieg führen, sie sind der Motor dessen, was man dann gerne als „Eigendynamik des Krieges“ bezeichnet, die von allen beteiligten Parteien nicht mehr kontrolliert werden kann, die aber dennoch als strategisches Kalkül instrumentalisiert werden kann (und wie wir nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wissen, intentional freigesetzt wird). 

Enard wagt nun, aus dem belly of the beast zu erzählen. So etwas kann schief gehen, es kann in Gewalt-Pornographie enden (mit dem albernen Argument, man müsse zeigen, wie schlimm Gewalt ist), es kann zur Romantisierung eines bestimmten „Krieger“-Typs führen, der nun mal aus Pflichtgefühl oder sonstigen „höheren Werten“ sein blutiges Handwerk betreiben muss, aber innerlich darunter leidet. 

Es kann aber auch ein allgemeinere Fasziniertheit von Gewalt dahinter stecken, die dem einerseits ethisch tabuisierten, andererseits kulturell und fiktional weidlich genossenen Phänomen „Gewalt“ auf die Schliche kommen will. Andere Werke Enards wie „Zone“ oder „Das Jahresbankett der Totengräber“ weisen in diese Richtung, wobei gerade bei letzterem Roman aus dem Jahr 2020 unter der grandiosen Hommage an Rabelais genau diese Thematik verborgen ist: Wir haben einerseits einen kulturhistorischen und kulturell eingeübten Umgang mit Gewalt von Homer bis Fitzek, ein vermutlich globales Kontinuum von Gewaltnarrativen auf den unterschiedlichsten Ebenen und von unterschiedlichster Qualität – symbolisch, allegorisch, parabelhaft, abbildend, mit den diversesten Intentionen und Konkretisationen in allen Graduationen der Ästhetisierung, Stilisierung und Funktionalisierung – und wir haben das reale Grauen der Schlachtfelder und des Tötens überhaupt (Konzepte von „virtual reality“, die „Wirklichkeit“ für ein Konstrukt unter möglichen anderen halten, können das gerne mittels eines Bauchschusses überprüfen), das 1:1 abbilden zu wollen, kategorialer Unfug wäre. Dieses Paradox – oder vielleicht gar nicht so paradoxe Verhältnis – generiert Enards Roman. Er versucht zu verstehen, was übrig bleibt, wenn man die diversen kulturellen Überformungen abzieht. Und Enard versteht, dass das nicht gelingen kann. 

„Der perfekte Schuss“ ist ja kein Einzelstück, sondern steht in literarischen Traditionslinien, nolens volens. Alf Mayer hat eine vor Material berstende „Kulturgeschichte des Scharfschützen“ vorgelegt, die natürlich Schnittstellen mit dem Kriegsroman en general hat, Jean-Patrick Manchettes „La position du tireur couché“ etwa ist ein Bindeglied zum roman noir, Patrícia Melos „O Matador“ ein wichtiges Beispiel für die Stimme aus dem belly of the beast, eine literarische Reihe, die man wiederum bis zu Dostojewski zurückziehen könnte.  Wir sehen bei Enard die Echoes dieser Tradition, mal verdeckt, mal offen, mittels eines Ophelia-Zitats etwa.

Aber Enard vermeidet das Risiko von Heroisierung oder Perhorreszierung durch seine Methode, einerseits die Figur des Scharfschützen zu universalisieren und sie damit als eine de facto vorhandene Spielart von Homo sapiens zu sezieren, ohne sie vordergründiger Moralisierung auszusetzen- deswegen die Unschärfe von Ort und Zeit. Er wertet nicht, er versucht im fiktiven Raum zu beschreiben, was beschreibbar ist. Die Dynamik des Krieges produziert Menschen wie den Sniper, ob sie dies allerdings könnte, wenn die Disposition dazu nicht anthropologisch angelegt wäre, ist eine Frage, die am Ende der Lektüre bleibt. Nachdem der Schütze ein letztes Gemetzel angerichtet hat, hat sich Myrna umgebracht. „Ich ging hinaus und schloss die Tür hinter mir“, lautet der letzte Satz des Buchs. Das ist kein diskursives Ende, sondern ein literarisches. Wie auch „Der perfekte Schuss“ bei allen Kontexten, kein Diskurs-Roman „über“ irgendetwas ist, sondern ein Stück Literatur, das sich mit einer menschlichen Disposition befasst. Enards Sätze sitzen Wort für Wort, nichts ist unbedeutend oder überflüssig, eine Qualität, die die großartige Leistung der Übersetzerin Sabine Müller sichtbar macht. Der Roman wird dadurch nicht behaglicher, sondern gerade seine Literarizität verhindert seine schöngeistige Lesbarkeit. „Der perfekte Schuss“ ist verstörend. Und so soll es sein.

PS: Man muss nicht den Hofreiter geben, wenn man milde lächelnd feststellt, wie glatt, aber durchaus lässlich martialische Details durch´s Lektorat gerutscht sind: Wenn Bomben fallen, aber Granaten gemeint sind, Panzer mit zwei Rädern in der Luft hängen oder eine Pistole innerhalb zwanzig Zeilen zum Revolver mutiert. Um´s aktuell zu wenden: Nein, wir leben wahrlich in keiner bellizistischen Gesellschaft. 

Mathias Enard: Der perfekte Schuss (La perfection du tir, 2003). Deutsch von Sabine Müller. Hanser Berlin, Berlin 2023. 189 Seiten, 24 Euro.

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