
Melange aus Me-Too-Narrativen
„Alles schweigt“, so heißt der neue, mächtig gehypte Roman von Jordan Harper. Man schweigt über das, was jedermann weiß, wie der Originaltitel „Everybody knows“ lautet. Man schweigt in Hollywood und Los Angeles über die Machenschaften sehr mächtiger, sehr reicher und sehr hemmungslos-gieriger Männer, die sich sehr junge, oft minderjährige Frauen und Männer zuführen lassen, um ihren perversesten sexuellen Trieben zu frönen. Ein Kordon aus Top-Anwälten, skrupelloser Security, korrupter Polizei, geschmierter Medien und „Spezialisten“, alle zusammen im Insider-Jargon „Das Ungeheuer“ genannt, schützt die Herren und ihre willigen Helferinnen. Wer spurt, genießt umfassenden Schutz, wer aus dem Ruder läuft und damit wirtschaftliche oder finstere politische Interessen des Ungeheuers stört, wird fallengelassen, final.
Mae Pruett ist so eine Spezialistin, eine topische Figur spätestens seit Ray Donovan (2013-2020) den wir aus der gleichnamigen Serie kennen. Sie räumt unappetitliche Überreste der Täter weg, sie vertuscht Untaten und Abstürze, erpresst Opfer, ruiniert Karrieren, demontiert Ruf und Ehre von Menschen auf Anweisung des Ungeheuers. Ihr Job macht ihr Spaß, aber für sie kommt der Saulus-Paulus-Moment, als ein Kollege von ihr ermordet wird. Der wollte nämlich auf eigene Faust, ohne Lizenz des Ungeheuers, viel Kohle machen und hatte sich Mae als Komplizin auserkoren. Was Mae erstmal gut fand. Aus doppelt unmoralischen Gründen startet sie jedoch dann einen letztlich moralischen Feldzug. Dabei funktionalisiert sie eine 14jährige „Tänzerin“, die von einem abscheulichen Produzenten von „Kindershows“ geschwängert wurde – und die jetzt, weil der Strolch dadurch angreifbar ist, weggeräumt werden soll. Bald türmen sich die Leichen, und auch Mae und ihr Sidekick, der Ex-Polizist Chris, stehen vor der Alternative, sich vom Ungeheuer noch einmal kaufen zu lassen oder den ungleichen Kampf aufzunehmen. Die Gegenseite, so müssen sie bitter lernen, schreckt selbst vor apokalyptischen Aktionen nicht zurück.
Jordan Harper inszeniert seine Geschichte, die eine sehr zeitgeistige Melange aus James Ellroys „L.A. Confidential“ und sämtlichen Me-Too-Narrativen der letzten Jahre ist, vor dem Hintergrund eines immer radikaler und aggressiver werdenden Klassismus, bei dem die Armen immer ärmer werden – die in Los Angeles extrem wuchernden Zeltstädte der Obdachlosen spielen einen zentrale Rolle -, und die Reichen keine legalen, gar moralischen Grenzen akzeptieren.
Harpers Konstruktion des „Ungeheuers“ sieht zwar systemisch aus, ist aber letztlich eine Machtpyramide mit einem supermegareichen Oberschurken namens Kyser (!) an der Spitze. An den, so lautet die Botschaft, kommen auch die tapfersten Kämpfer nicht heran, und müssen sich mit dem Abräumen von Unholden der zweiten Reihe begnügen. Das „Böse an sich“ lässt sich nicht besiegen, es ist in einem ultrabösen Individuum personifiziert.
Diese Holmes/Moriarty-Struktur bindet „Alles schweigt“ überraschenderweise an eben diesen alten, klassischen Algorithmus von „Genre“. Das Konzept von Superschurke und Superschurkenstruktur, das in seiner Krakenartigkeit paradoxerweise klar zutage tritt, ist, so gesehen, auch ein verschwörungstheoretisches Konzept. Und ein tausendmal repetiertes geschichtsphilosophisches Konzept, demzufolge gegen „die da oben“ kein Kraut gewachsen ist. Auch wenn Jordan Harper im letzten Absatz noch so etwas wie Hoffnung aufblitzen lässt.
Jordan Harper: Alles schweigt (Everybody Knows, 2023). Deutsch von Conny Lösch. Ullstein Verlag, Berlin 2023. Hardcover, 376 Seiten, 22,99 Euro.
© 10/2023 Thomas Wörtche