Lehranstalt des Empfindens
Alf Mayer ist angerührt von der isländischen Fernsehserie „Trapped“.
Bei aller Bilderflut ist weithin verloren gegangen und mehr als selten geworden, was einen früher über Jahre und Jahrzehnte immer mal wieder an einen bestimmten Film denken ließ, was sich derart in der Erinnerung einzunisten vermochte, dass es Teil wurde von einem selbst – eine Filmszene, ein Filmmoment quasi als „Wort“ oder Begriff des eigenen Gefühlshaushalts. Ein höchst individueller Vorgang, gewiss, aber ausgelöst durch die Begegnung mit etwas ungeheuer Universellem. In unserer rasanten Medienbilderwelt ist so etwas zum raren Goldkorn geworden. Die isländische Fernsehserie „Trapped“ (im Original „Ófærð“) enthält solche Nuggets. Damit ist sie ein Exotikum.
„Land mit Zeit und Raum genug“
Im Zeitalter der Fernsehserien – die man, wenn sie denn wirklich gut sind, mit der Übersetzung des Navajo-Worts für ihr Territorium charakterisieren könnte: „Land mit Zeit und Raum genug“ – hat die Leinwand als Lehranstalt des Empfindens wieder ihre Chance. Man nehme das nicht pädagogisch, sondern als Erlebnisraum. (In Wirklichkeit haben wir alle uns hier schon längst ganz viel Zynismus und Oberflächlichkeit angewöhnt, die Erwartungen liegen auf Fastfood-Verpflegungsniveau.)
„Trapped“ hingegen führt uns geradezu exemplarisch vor, dass die größte Wirkungsmacht des Dramas eben das Mitleid ist. Gotthold Ephraim Lessings „Hamburgische Dramaturgie“ (1767-69) lässt grüßen. Der „phobos“ des Aristoteles, auch der „Schrecken“ oder die „Furcht“ genannt, ist in Wahrheit eine mitfühlende Angst; dass, was auf der Bühne geschieht, auch einem selbst widerfahren kann. Das aber funktioniert nur, wenn die Helden der Dramen „von gleichem Schrot und Korne“ (Lessing) sind wie der Zuschauer: „Wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen.“
Damals eine revolutionäre Vorstellung, heute eine dramaturgische Fallhöhe, ein Balanceakt bei der Herstellung von Identifikation. Sprich, der Figuren einer Serie. Eine zweite, in Schnee und Kälte spielende TV-Serie macht vor, wie so etwas bei allen Schauwerten, bravourösen Schau-Spielern, visuellen und erzählerischen Schocks letztlich nur Oberfläche bleibt, keine Seele hat und damit auch keinen Sinn. Außer dem, die Zeit totzuschlagen und die Empfindungen ein wenig zu kitzeln. Die Rede ist von „Fortitude“. Serien-Popkorn, unterm Strich, sorry to say.
Das 511 Minuten lange „Trapped“ (in der deutschen Fassung gekürzt und mit dem bekloppten Zusatz „Gefangen in Island“ versehen) ist zwar auch eine internationale Koproduktion, aber eben kein Reißbrettkonstrukt und Backzutatenwerk wie „Fortitude“. Mit 1 Billionen ISK (6.430.454 Euro) war „Trapped“ die bis dahin teuerste TV-Serie Islands, noch teurer und wertvoller aber war dabei, dass ihre zwei bzw. drei Schöpfer vier Jahre ihres Leben in das Projekt steckten und dabei – wie zum Beispiel auch Alberto Rodríguez Librero für „La Isla Miníma“ (CrimeMag-Kritik hier) oder wie Edgar Reitz bei seiner ersten „Heimat“ – ganz nah an den Orten ihrer Kindheit und der lebensgesättigten eigenen Anschauung blieben. Ihr Kunstgriff ist es, ganz klein und dicht und lokal zu erzählen und eben genau damit etwas zu erschaffen, in dem sich – tatsächlich – ein globales Publikum wiederzufinden vermag.
Verächtlich fragt der Kapitän der wegen eines Mordfalls im Hafen festgehaltenen Fähre die Dorfpolizisten: „Wisst ihr überhaupt, was bei euch los ist?“ Nun, sie und wir erfahren es. „Ein kleiner Ort ist die ideale Bühne, um globale Fragen zu diskutieren“, sagt Regisseur Baltasar Kormákur. Und Lessing ergänzt: „Wenn wir mit isländischen Provinzlern Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Isländern.“
Definitiv Anti-Glamour
Mitgefühl – manchmal eines, bei dem sich die Zehennägel vor Fremdschämen biegen möchten – hat man vor allem mit den beiden ermittelnden ungleichen Polizisten. Mit dem bärenhaften und ungelenken Polizeichef Andri (Ólafur Darri Ólafsson) und seiner hässlichen kleinen Kollegin Hinrika (Ilmur Kristjánsdóttir). Tatsächlich brauchte es für beide Überzeugungsarbeit bei den internationalen Koproduzenten, diese Rollen so besetzen zu können. Definitiv sind sie Anti-Glamour, das Gegenteil all der Schönlings-Castings in deutschen Fernsehspielen, wo ein Gottfried John einst mit seinen Segelfliegerohren und dem prominenten Adamsapfel die große Ausnahme war.
Wie diese beiden Provinzfiguren sich mit Würde und Tiefe aufladen im Lauf der Serie, das ist ein geradezu herzhüpfendes Erlebnis. Ganz große Klasse.
Verneigen muss man sich auch durchgängig vor dem Timing der Szenen. Wie etwas stehen bleiben, wie etwas nachhängen, wie etwas ungesagt bleiben und als nichtsagbar im szenischen Raum zwischen den Personen spürbar werden kann. Wie aus Figuren Menschen werden. Schicksale.
Entwickelt wurde die Serie von Sigurjón Kjartansson und Baltasar Kormákur. Der ist ein international erfolgreicher Regisseur (Jar City, The Deep, Everest, Contraband, 2 Guns). Sigurjón schrieb die isländischen Serien „The Press“ (Pressa) und „The Court“ (Réttur), war einst ein Mitglied der Hardrock-Band „HAM“ und hatte zusammen mit Jon Gnarr, der dann Bürgermeister von Reykjavik wurde, eine Komiker-Karriere. Ganz klar hat Sigurjón ein besonders ausgeprägtes Gefühl für Timing. Müsse man aber doch haben, sagt er, als Musiker. „Ich denke, ohne ein Gefühl für Musik in sich zu haben, kann man kein guter Autor sein.“ Erfahrungen als Drehbuchautor besaß er nicht, als er mit dem Schreiben begann, aber er verfügte über etwas viel Besseres: nämlich seine Erfahrungen als Komödiant. Bis 2005 hatte er bereits an die 1000 Sketche geschrieben, mit denen er auch vor Publikum auftrat – eine Schule in Timing und Wirkung, wie sie kein Drehbuchseminar bieten kann.
Der (heute von der Comedy zu Tode gerittene) Sketch hatte seinen Ursprung um 1900 in den USA. Die kurzen Bühnenstücke wurden in minimaler Dekoration aufgeführt. In Deutschland waren es vor allem Karl Valentin und Liesl Karlstadt, die ihn populär machten. Ein guter Sketch ist das Äquivalent von dem, woran im alten Hollywoodsystem oft mehrere Autoren schrieben. Miteinander, nebeneinander, nacheinander, gegeneinander – für eine einzige Szene. All die Arbeit und all das Feilen sah man ihr dann im fertigen Film gar nicht mehr an. Aber „sie saß“. Und hatte etwas, das lange nachschwang und nachhallte, keineswegs immer mit lauten Tönen. Es waren die Filmmomente, für die wir ins Kino gehen (gegangen sind) und für die heute das Erzählen in den besten Fernsehserien wieder Luft und Licht hat.
Von „Trapped“ ist eine zweite Staffel in Arbeit, sie soll Ende 2018 sendefähig sein. Die erste Staffel wurde mit zehn Folgen zu je 52 Minuten produziert. Beim ZDF wurde das umgeschnitten in fünf Folgen von jeweils 90 Minuten. Also fehlt hier etwas – ohnehin ist es ein Erlebnis, das isländische Original zu hören. Untertitel Englisch.
Alf Mayer
PS. Zum Nachlesen über Filmmomente empfehle ich die Memoiren von William Goldman: „Adventures in the Skin Trade“ (1983).
Trapped, Island 2015, Regie: Baltasar Kormákur; Buch: Sigurjón Kjartansson, Clive Bradley; produziert von RVK Studios, zusammen mit ZDF, SVT, RUV, YLE, DR1, DRK & France Télévisions. Kamera: Bergsteinn Bjorgulfsson; Schnitt: Elisabet Ronaldsdottir, Sigvaldi J. Karason; Musik: Johann Johannsson. Mit: Ólafur Darri Ólafsson, Ilmur Kristjánsdóttir, Ingvar Sigurosson, Nina Dögg Filipusdottir, Bjarne Henriksen u.v.a.
Auf DVD und Blu-ray bei Studiocanal.