Geschrieben am 1. März 2021 von für Crimemag, CrimeMag März 2021

Thomas Wörtche über Dorothy L. Sayers und Julian Barnes

Als Schwergewicht wird auch gerne Dorothy L. Sayers gehandelt, völlig zurecht, was die Qualität ihrer Prosa betrifft, die weit über der ihrer zeitgenössischen Kolleg*innen rangiert. Im Zuge der back-to-the-roots-Welle, die, aus welchen Gründen auch immer versucht, längst Überkommenes quasi als normativ neu zu positionieren, konnte man die Uhr danach stellen, dass auch sie wieder zum x-ten Male neu aufgelegt wird. Okay, diesmal also Diskrete Zeugen (dt. von Otto Bayer, Wunderlich) aus dem Jahr 1926. Es gibt aber gute Gründe – basierend u.a. auf ihrer berühmten Rede „Aristotle on Crime Fiction“ – ihr Gesamtwerk (wie so viele andere Texte des Golden Age) als verzweifeltes Rückzugsgefecht gegen die Moderne zu verstehen – politisch, sozial und ästhetisch.

Das ist komplexer, als ich es hier ausführen kann, aber auch bei Diskrete Zeugen wird sehr deutlich, wie sehr sie, ganz im Sinne des britischen Establishments, „von oben“ erzählt. Der Plot ist so unplausibel wie meistens bei diesen Häkeldingern, Menschen kommen aus seltsamen Gründen zu Tode, und die „Aufklärung“ folgt den Setzungen der Autorin, die nur deshalb so gesetzt sind, damit sie eben dieser Aufklärung dienen. In diesem Fall gerät der Herzog von Denver, der ältere Bruder von Lord Peter Wimsey, dem Serienhelden von Sayers, unter Mordverdacht, den er mit einem Wort hätte ausräumen können, wenn es da nicht einen reichlich snobistischen Codex des englischen Adels gäbe, so Sayers, der dies verbietet. Naja, der englische Adel und putzige Codices, an der Stelle empfehle ich immer wieder gerne, mal wieder „Black Adder“ anzuschauen. Nicht nur an dieser Stelle ist Sayers beinhart – und deswegen sind solche Romane auch nicht so harmlos, wie eine bewusstlose Rezeption das gerne hätte -, ihr Gesellschaftsbild ist normativ.

Die Lords mögen zwar exzentrisch, gar leicht vertrottelt sein, aber sie sind nunmal hegemoniale Gestalten gegenüber all den biederen und braven Landbewohnern, den treuen Dienern, dem dummen Pöbel, der gar noch, horribile dictu, kommunistisch angehaucht sein mag. Der Herzog wird vor ein Gericht gezerrt (schon peinlich für den Mann), das nur aus Adeligen besteht und zeigt dort Haltung, d.h. er sagt gar nichts. Dass ihm am Ende der Strang drohen könnte, nun ja, das muss ein Gentleman ab können.  Aber da ist ja noch Lord Peter Wimsey, der immerhin der Moderne gegenüber soweit aufgeschlossen ist, dass er sich schnell mal ein Flugzeugtrip (1926!) über den Atlantik leisten kann, um dort die Femme fatale zu finden, die so recht an dem ganzen Schlammassel moralisch schuldig ist. Die ist natürlich keine Engländerin, sondern eine Edelkurtisane aus Wien, die in Amerika ihre idealen Jagdgründe gefunden hat, nachdem sie schon in Paris, dem Ursprung allen Übels, das moralisch nicht so ganz standfeste Opfer in den Abgrund aus Verschwendungs- und Spielsucht gezogen hatte. Aber weil dieses Opfer dann letzten Endes doch ein englischer Offizier ist, weiß er, was ein Gentleman zu tun hat. Das erinnert schon ein bisschen an das von P.D. James kolportierte Statement, dass Kriminalromane of class nur in den höheren Schichten spielen dürften, weil die im Gegensatz zu den unteren Schichten moralische Optionen hätten.

Immerhin, neun Jahre nach diesem Roman, nämlich in der oben zitierten Rede über Aristoteles, gehalten 1935 in Oxford, konzediert sie als idealen Tätertyp einen „anständigen Mann mit einem Webfehler“.  Den Mord nach dem industriellen Schlachten des 1. Weltkriegs als betrübliche und beklagenswerte Macke im Grunde anständiger Menschen zu betrachten, passiert ja nicht zufällig oder versehentlich, er ist auf Geschichtsrevision aus, die eine aus den Fugen geratene Welt wieder zurechtrücken möchte. Mit Mordgeschichten. Bemerkenswert ist dabei auch der Kontrast, den Sayers dabei zwischen London und Paris, zwischen England und Frankreich konstruiert. Als ob es den Great War nicht oder nur beiläufig gegeben hätte (die Herren waren „im Krieg“ oder hatten sich „im Krieg“ kennengelernt) und hätte der nicht die gesamte Weltordnung umgepflügt, so sortiert der Roman seine Konstellationen nach Kriterien des 19. Jahrhunderts: Hier das (spät)viktorianische England, dort das frivole Frankreich der Belle Époque, durchaus als moralische Antagonisten. Auch das ist natürlich ein sehr artifizielles Konstrukt.

Warum, das zeigt passenderweise Julian Barnes´ neues Buch, Der Mann im roten Rock (dt. von Gertraude Krüger, KiWi). Der Titel bezieht sich auf John Singer Sargents Gemälde „Dr. Pozzi at Home“ von 1881, und jener Dr. Pozzi war Samuel Jean Pozzi, der führende Gynäkologe seiner Zeit, ein virtuoser Operateur, Kunstsammler von Rang, Gesellschaftslöwe und Celebrity, Philanthrop mit „fortschrittlicher“ Gesinnung, Ehebrecher, mieser Vater und ein „vernünftiger Mensch“. Am Ende wurde er von einem frustrierten Patienten erschossen. In Barnes´ unfasslich gelehrtem und vor Intelligenz und Eleganz sprühendem Buch – irgendwo zwischen Biographie und Kulturgeschichte – ist er einer von drei Protagonisten. Ein zweiter ist Graf Robert de Montesquiou-Fezensac, ein homosexueller Dandy und Lebemann, der sein Leben darunter litt, dass man ihn mit Des Esseintes, der Hauptfigur von Joris Karl Huysmans opus magnum der Dekadenz, „Gegen den Strich“ identifizierte, auch weil eine Menge Ausgaben (auch meine) von „À rebours“ sein Porträt von Giovanni Boldoni zierten, und er zudem noch für die Vorlage für Marcel Prousts Baron Charlus gehalten wurde.  Der dritte im Bunde ist Prinz Edmund de Polignac, ein reicher Müßiggänger, Ästhet und nicht so großartiger Komponist von gutmütiger und eher indolenter Wesensart. Diese drei Pariser Herren begleitet Barnes auf eine „shopping tour“ nach London im Juni 1885, eine „intellektuelle und dekorative Einkaufstour“ (de Polignac) und entwirft dabei ein Panorama der Epoche. Es geht um Ästhetik, Kunst, Journalismus, Medizin, Sexualität, Duelle, Dandytum, die Beziehung zwischen den Geschlechtern, Ausschweifungen aller Art, Antisemitismus (Dreyfus und alle Implikationen), Mord und Blutvergießen und schließlich um den heraufziehenden Krieg. Wie begegnen so   ziemlich allen Berühmtheiten der Zeit, von der „göttlichen Bernhardt“, über Proust, Maupassant, Flaubert, den Klatschmäulern de Goncourt, Oscar Wilde, Henry James, dem perfiden Jean Lorrain, Huysmanns, Flaubert, Nadar, Whistler und und und, mal zentral, manchmal peripher, mit leichter Hand hingetupft. Der Antagonismus zwischen sittenstrengen, durch und durch verheuchelten Viktorianern und leichtlebigen, aber streng rationalistischen Franzosen verdampft und zerstäubt in dieser interkulturellen Gemengelage, die dann so interkulturell gar nicht mehr war, sondern als eine Art gesamteuropäischer urbaner intellektueller und kultureller Community erscheint, was natürlich Barnes´, der den Brexit entschieden verabscheut, Absicht ist. Der Mann im roten Rock ist, neben vielem anderen, ein flamboyantes Plädoyer für Europa – und, so gesehen, die Gegenposition ex post zu Dorothy Sayers, siehe oben. Und wenn man will, ein historisches Mosaiksteinchen, das den Weg nachzeichnet – vom Symbolismus über die Décadence zum Surrealismus, der dann wiederum eine Quelle für eine  französische Variante des Kriminalromans wird – ganz au contraire zu den nationalchauvinistischen Entwürfen von Conan Doyle und John Buchan bis eben zum „Golden Age“. Und falls sich jemand für Verästelungen interessiert:  Auch der gerade gefeierte Friedrich Dürrenmatt gehört letztendlich via Friedrich Glauser und Georges Simenon in diesen Zusammenhang.

Thomas Wörtche

Dorothy L. Sayers: Diskrete Zeugen (Clouds of Witness, 1926; auch bekannt als: Lord Peters schwerster Fall). Deutsch von Otto Bayer. Wunderlich, Hamburg 2020. aus dem Jahr 1926. Hardcover, 368 Seiten, 15 Euro. – Die Autorin in Neuausgaben hier.

 Julian Barnes: Der Mann im roten Rock (The Man in the Red Coat, 2019). Deutsch von Gertraude Krüger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 304 Seiten, 24 Euro.

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