Geschrieben am 1. März 2023 von für Crimemag, CrimeMag März 2023

Thomas Wörtche: Plädoyer für Pulp

(Eine aus dem Ruder gelaufene Glosse)

Stiften wir mal wieder ein bisschen Verwirrung: Die aktuelle Kriminalliteratur – wir reden hier nicht von industriell-standardformatierten Krimis – bewegt sich anscheinend in Richtung „Literatur“.  Das ist völlig okay, denn schließlich soll Kriminalliteratur als selbstverständliche Komponente dessen wahrgenommen werden, was wir als „zeitgenössische Literatur“ bezeichnen. Betrachtet man Bücher wie Riku Ondas neuer Roman „Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen“ oder bedenkt man die Selbstverständlichkeit, mit der Antoine Volodines gerade (wieder)entdecktes Avantgarde-Werk „Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher“, das recht eigentlich ein Meta-Meta-Meta-Roman über – unter vielem anderen – Fragmenten des Néo Polars ist, auf der „Krimi-Bestenliste“ von Deutschlandfunk Kultur auftaucht, dann verwischen sich die Konturen dessen, was „Genre“ ist – oder die Konturen dessen, was man gemeinhin als „Literatur“ bezeichnet. 

Aber bei aller Begeisterung über ästhetische Regsamkeit sollen wir doch bitte nicht vergessen, wo Kriminalliteratur herkommt, wo sie ihren Ruf und Reputation als „Populäre Kultur“ recht eigentlich erworben hat: Vom Trash, von der Pulp Fiction, vom Lesestoff für möglichst viele Menschen, ohne Schwellenangst vor Hoher Kultur zu erzeugen.  Das gilt heute natürlich nicht mehr, das „Populäre“ siedelt eher in den oben erwähnten Standardformaten, denen man Schmutz und Gosse wegpoliert und die man als Breichen mit viel Gleitcreme zum schlozigen Konsum aufgepimpt hat. 

Schmutz & Schund & Politics

Nichtsdestotrotz rentiert es sich, auf die rohen, manchmal geschmacklosen, manchmal wilden und irren, schrillen und kratzbürstigen Urahnen hinzuweisen. Denn deren literarische DNA ist ja nicht plötzlich verschwunden, um´s mal vulgärgenetisch zu formulieren, sondern bleibt glücklicherweise erhalten. Da kommt gerade ein bisher und mirakulöserweise noch nicht übersetzter Klassiker des Noir von 1946 gerade recht – „Die große Uhr“ von Kenneth Fearing. Das Buch, mehrfach verfilmt, beginnt wie ein unfreiwillig komischer Versuch, einen ambitionierten, seriösen Roman zu schreiben, dreht dann aber auf: Ein irrwitzig-genialer Plot, bei dem ein Unschuldiger gegen sich selbst ermitteln, bzw. die Ermittlungen von sich gegen sich selbst sabotieren muss, plus Mediensatire – in einer Atmosphäre noir-typischer moralischer Indolenz comme il faut. Kenneth Fearing, als „linker“ Lyriker eine Größe in seiner Zeit, kommt, und das merkt man jeder Zeile, der ganzen Tonalität an, aus dem Pulp-Business. Unübersehbar, auch wenn die übergestülpte Metaphorik der großen, alle gleichmachenden Zeit, des mechanisierten Chronos noch eine zweite, eher philosophische, gar kapitalismuskritische Ebene andeutet – eine Mischung aus Pulp und „großer“ Theorie also, wobei das Buch ohne Theorie auch funktionieren würde, ohne Pulp-Anteile eher nicht.

Bei Joe R. Lansdales Roman „Moon Lake” ist das eine ohne andere nicht zu haben. Bei ihm kreuzen sich sämtliche Genres der Pulp-Kultur: Hardboiled, Horror, Gothic, Slasher, Country Noir, zusammengehalten und frisch belebt aber durch Komik, Überzeichnungen (hart an der Parodie), Geblödel und vor allem durch eine glasklare politische Positionierung: Rassismus, Homophobie und wildgewordener Neoliberalismus werden aus der Handlung heraus bis auf´s Blut gegeißelt. 

Eine Technik, die sich auch bei Percival Everetts „Die Bäume“ (diese Bäume sind natürlich die aus Billie Holidays Song „Strange Fruit“, also die, an denen in den Südstaaten ermordete schwarzen Menschen hingen) findet, mit einer Metaebene mehr: Everetts knallhart witzige Dialoge haben in etwa die gleiche Auffassung von Pulp Fiction, wie Tarantinos gleichnamiger Film. Sehr dezidiert antirassistisch ist dieser Kriminal-Roman mit Horrorelementen geradezu paradigmatisch, zudem als Genrehybrid literarisch avanciert: Eine Zombie-Story, bei der die realen Opfer weißer (Lynch-) Gewalt über die Täter und deren Nachfahren herfallen – womöglich noch radikaler als Chester Himes´ „Plan B“ (auch dort klar Pulp). Basierend auf dem Fall Emmett Till  – ein 14jähriger Schwarzer, der 1955 in Money Mississippi grausam von Roy Bryant und J.W. Milam ermordet wurde – operiert Everett mit Klarnamen; seine Pulp-Dialoge hauen den weißen Rednecks voll in die Fresse, von Ausgewogenheit keine Spur – die Sympathien sind auf Seiten der mordenden Wiedergänger. Und ein winselnder Donald Trump, der sich unter seinem Schreibtisch im Weißen Haus versteckt, lässt keinen Zweifel, wo die Gewaltgeschichte in den USA angekommen ist. Gebrochen wird die lakonische, hardboiled Pulp-Tonalität von einem 12seitigen Kapitel, dem längsten des Buches, das nur aus einer Liste der echten Namen von Opfern der Lynch-Morde besteht, ein Memorial, das gerade durch den Kontrast zur allgemeinen Diktion und dem Genre-Mix seine Brisanz bezieht.  

Zwei Uralt-Muster der Populären Kultur amalgamiert auch Tade Thompson in „Fern vom Licht des Himmels“ – die Space Opera mit Aliens, zwischen den Galaxien hin- und herflitzenden Raumschiffen und durchgeknallten Robots und dem klassischen Whodunit, um damit eine anti-kolonialistische Geschichte zu erzählen, vergnüglich und amüsant und – durch den Pulp-Anteil blockiert – ohne Didaxe. 

Und auch aus Deutschland gibt es einen solchen Versuch: „Turmgold“ von Peter Grandl, die Fortsetzung des Überraschungserfolgs „Turmschatten“ (Piper) Grandl packt seine böse Geschichte um fiese, miese, superböse (Neo-)Nazis, ihre AfD- und Finanzhintermänner in das sprachlich etwas ungelenke Gewand des „trivialen“ Kolportage- und Action-Romans. Das ist natürlich nicht innovativ, ergibt aber einen rasend spannenden Pageturner, der mit subtileren Mitteln nur alberne Gesinnungsliteratur wäre. 

Achtung, Falle

Insofern scheinen sich Pulp-Strukturen sehr gut zur literarischen Bearbeitung von zeitgenössischen Themen zu eignen. Gerade dann, wenn die Texte sich eben nicht von ihren „subliterarischen“ Wurzeln distanzieren, sondern sie produktiv einsetzen. Die rohen, schmutzigen Elemente des Pulp, die durchaus neuralgisch-unkorrekte Momente enthalten können, bewahren vor der Falle der „guten Sprache“, des „sauberen Plots“ einerseits, und hochgeblasener literarischen Ambitionitis. Mühsam als biedere Kriminalromane getarnte Sozialreportagen oder Betroffenheitsliteratur kann man glücklicherweise so nicht produzieren.

Aber Vorsicht, auch hier gilt die Einzelfallprüfung. Strukturanalogien sind nicht immer gleich Funktionsanalogien. Eine „ideologische Grundentscheidung“, also die Frage, wie man die Welt sieht, wie man zu ihr steht, und zu welchem Zwecke man schreibt, präformiert immer den Text.  Man kann mit den oben geschilderten Verfahren in der Tat auch Finsteres anrichten. Ein schlimmes Beispiel dafür ist der gerade erschienen Roman „Die Marmornen Träume“ von Jean-Christoph Grangé. Der hatte schon lange mit seinen Kolportage-Schmökern („Die purpurnen Flüsse“) über sinistre Sekten und bizarre Ritualmorde eine Menge blutig-moddrige Morbidezza verbreitet, erfolgreich auf dem Markt für literarische Konsumgüter, von albernen Verfilmungen (da konnte auch Jean Reno nichts dagegen tun) flankiert und ansonsten nicht weiter bemerkenswert, gelangweilt.

Das Problem eines solchen Konzepts ist das der Steigerung – es muss alles immer noch blutiger, noch bescheuerter, noch ekliger werden. Der olle Marquis de Sade war am Ende der „120 Tage“ bei schieren Auflistungen von Gräueltaten angekommen, die nicht weiter auserzählt werden brauchten. Nicht so Grangé. Auf der Suche nach Top-Gräuel musste er schon fast folgerichtig beim „Dritten Reich“ enden. „Die marmornen Träume“, die im Berlin des Jahres 1942 angesiedelt sind, tun so, als ob das Menschheitsverbrechen noch ein paar schaurige Garnituren mehr brauche, um so richtig gruslig rüberzukommen. Also erfindet Grangé einen Serienmörder, der fanatische Nazi-Frauen schlachtet, spielt mit dem „Euthanasieprogramm“ (bei ihm die Erfindung eines klassischen Mad Scientist´s, mon dieu), dem „Lebensborn“-Konzept und gar mit dem Holocaust herum. Als Hautfiguren agieren ein blutbesudelter, mörderischer SS-Mann (aber im tiefsten Grunde gut), eine drogen- und alkoholsüchtige Ärztin und ein Psychiater, der auch als Gigolo unterwegs ist. Und die finden heraus, dass die Herren Hitler und Co. willige Frauen bespringen, um den rassereinsten Nachwuchs wo gibt zu zeugen wg. Weltordnung. Oder so ähnlich.

Seit Ernst Lubitschs „To be or not to be“ wissen wir, dass man sich natürlich auch über Nazis lustig machen darf, wenn man es kann. Dazu allerdings benötigt man die nötigen künstlerische Verfahren – und genau die hat Grangé gerade nicht. Nicht, dass es keine Kunstgriffe beherrschte: Er erzählt seine Schauermär von Blut, Gekröse und Elend flott und durchaus routiniert gekonnt nach der Dramaturgie eines glatt konsumierbaren Slasher/Action/Serialkiller-Romans. Dass der Erzähler oder seine Figuren sich hin und wieder darin ergehen, das Nazi-Regime als abscheulich, wahnsinnig oder verwerflich zu bezeichnen und darin einen gewissen lakonischen Sarkasmus pflegen, also das Evidente damit „kritisch“ zu behandeln wähnen, rettet den Schund nicht. Man müsste, wenn man die Nerven dazu hätte, den Roman sorgfältig sezieren, um seine ganze Perfidie sichtbar zu machen. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht. Sondern nur darum, dass pulpig-trashige Wurzeln nicht unbedingt und generell immer von Nutzen sein können.

Aber dennoch – siehe oben. Deswegen verachtet mir also nicht den Trash, als Frischzellenkur für feine Literatur ist er immer noch ganz vorzüglich.

© 03/2023 Thomas Wörtche