Geschrieben am 1. August 2021 von für Crimemag, CrimeMag August 2021

Thomas Wörtche: Jonatham Lethems „Anatomie eines Spielers „

Zu ahnen, aber nicht zu fassen

Der aktuelle Roman von Jonatham Lethem heißt „Anatomie eines Spielers“. Was bedeuten kann, es geht um Gestalt und Struktur eines Menschen, eben eines Glücksspielers. Oder es geht um die Zergliederung seines Körpers. Oder, der Originaltitel, „A Gambler’s Anatomy“, gibt auch das her: Ein Spieler nimmt eine Anatomie vor – so im Sinn von „Die Anatomie des Dr. Tulp“.

Tatsächlich stecken alle drei Optionen im Text: Alexander Bruno, ein professioneller, telepathisch begabter Backgammon-Spieler, der gerade in Singapur eine Menge Geld verloren hat, versucht in Berlin einen reichen Immobilienhai auszunehmen. Während des Spiels, bei dem wir vieles über seine Gestalt und die Struktur seines Denkens lernen, wird ein Hirntumor virulent, den man, nachdem Bruno kollabiert war, in der Charité diagnostiziert. Seine telepathischen Fähigkeiten, für die ein blinder Fleck in seinem Gesichtsfeld  metaphorisch steht, sind erloschen. Ein ebenfalls superreicher Gönner, ein Schulkamerad aus Berkeley, ermöglicht ihm eine exzessiv teure Operation bei dem einzig weltweiten Spezialisten für solche Eingriffe. Der zergliedert nun, einlässlich und minutiös und wie aus dem Medizinlehrbuch geschildert (ein virtuos gelöster Höllenjob von Übersetzer Ulrich Blumenbach) die Anatomie von Brunos Kopf, in den der Operateur von vorne eindringt, während er sich mit Jimi-Hendrix Songs bedröhnen lässt:  

„Vier Stunden lang war Behringer seinem Patienten zu Leibe gerückt, hinein in die Nasennebenhöhlen und Oberkiefergräben, den Nasenrachenraum, die Augenhöhlen und dann in den Tumor selbst, Zugänge, die er in die Geschwulst geschnitten hatte. Seine Instrumente und Hilfsmittel, der bipolare Kauter und der Fazialisstimulator, die winzigen Kupferlöffel, Becherzangen und Scheren sowie die neurochirurgischen Hirnwatten, kamen ihm wie riesige Baumaschinen vor, Schürfraupen und Löffelbagger, gestrandet an geborstenen Schluchten aus Organ und Tumor.“

Bruno, nun mit einer Gesichtsmaske, überlebt, der Genesungsprozess macht Fortschritte. Sein Blick auf die amerikanische Gesellschaft der Prä-Trump-Ära, der Roman stammt aus dem Jahr 2016, liefert eine satirisch unterfütterte Anatomie der Bay Area und der Eliteschmiede Berkeley.  Bruno schließt sich einer Art „Attac“-Bewegung an, die allerdings auch von seinem superreichen Gönner finanziert wird, und endet schließlich, wieder telepathisch fit, als erfolgreicher Pokerprofi in Singapur:

„Faktisch war er ein Chirurg, der in Gesichtern nach dem grub, was dahinter lag, und durch ihre Augen sah. Der dort das Einzige erfuhr, was bei den meisten Männern wichtig war: welche Karten sie auf der Hand hatten.“

Man sieht: Die Handlung ist nicht besonders beeindruckend, die Grobstruktur von Fall – Heilung/Läuterung – Rückfall ist eine zynische oder pessimistische Heiligen-Legende.  Das Leitmotiv des maskierten und demaskierten Menschen ist allzu durchschaubar: Während der Backgammon-Partie in Berlin trifft Bruno eine junge Frau mit dem arg anstrengenden Namen Madchen Abplanalp, die er auf der Fähre nach Alt-Kladow kennengelernt hat, als maskierte Sexarbeiterin wieder. Als sie ihn in Berkeley besuchen kommt, trägt er seine postoperative Maske. Grotesk maskiert führt er als Hamburgerbrater die Minirevolution gegen seinen Gönner aus Jugendtagen an. Unmaskiert verschwindet er aus den USA, um als „Die Mumie“ in Singapur sein altes Leben wieder aufzunehmen.  Dicker aufgetragen geht’s kaum, das alte Goffman – Wir – spielen – alle – Theater – Ding revisited.

Undurchschaubar hingegen sind die Motivationen der Menschen. Warum der amerikanische Millionär, Brunos Schulkamerad, Unsummen in dessen Genesung steckt, bleibt, obwohl immer ein altes Trauma behauptet wird, unklar. Warum kommt Madchen aus Berlin in die USA, wo sie doch deutlich kein Interesse an einer Beziehung mit Bruno hat? Warum schwingt sich Bruno zum Westentaschensozialrevolutionär auf, obwohl er in diesem „Klassenkampf“ keine Karten hat? 

Aber okay, Literatur besteht schließlich aus Setzungen, das ist ihr Beruf. Manche davon nerven: Wenn irgendetwas Deutsches im Spiel ist, wird sofort irgendetwas mit „Nazi“ aufgerufen oder zumindest die RAF. Und weil Lethem nunmal Lethem ist, wimmelt es natürlich von popkulturellen Anspielungen auf alles, was nicht schnell genug auf die Bäume kommt, unverbindlich, kontingent. Und wenn es mal einen tieferen Sinn hätte, wie eine Referenz zu „The Big Lebowski“, wird sie umständlich und ausführlich erklärt. 

Irgendwie wirkt das ganze Buch uninteressiert, manchmal albern, latent pubertär sexualisiert, nicht provokativ, eher schmuddelig. Als „Spielerroman“ ist der Roman, denkt man etwa an die einschlägigen Texte von Tom Kakonis oder Luke Reinhardt oder Johannes Groschupf etc., nicht sehr substantiell und kann, weil er jargonisiert, auch Backgammon selbst für gutwillige Laien nicht interessant machen:

“Bruno blitzte hauptsächlich, machte Punkte, ohne groß Primes zu bauen, und gewann gegen den Reichen dreimal in Folge, nicht auf dem Brett, aber mit dem Dopplerwürfel. Er bot an, die Einsätze zu erhöhen, als seine eigene Position wenig erfolgversprechend aussah, und beaverte jedes Mal – drehte den Dopplerwürfel beim Annehmen noch eine Stufe höher, um die Kontrolle zu übernehmen –, wenn Köhler den Dopplerwürfel auch nur anfasste.“

Gut ist Lethem dann, wenn er sich für etwas wirklich zu interessieren erscheint: Für die blutigen Details der Operation etwa, für den bizarren Zombie-Burger-Laden oder dessen anarchistisches Gegenstück „Kropotkin’s Slide“. 

Aber letztendlich reicht das alles nicht. An die Brillanz von „Motherless Brooklyn“ kommt dieser Roman nicht ansatzweise heran. Vielleicht liegt das auch daran, dass er in einer Zeit entstanden ist, in der das Unheil Trump zu ahnen, aber noch nicht zu fassen war, die Identitäten aber schon ins vage gerutscht waren: „Wir sind alle unbekannte Tragiker in diesem Bus. Irgendwer, irgendwer, außer »Alexander Bruno« – der Name von jemandem, den es nicht mehr gab.“

© 7/2021 Thomas Wörtche

Jonathan Lethem: Anatomie eines Spielers (A Gambler’s Anatomy, 2016). Deutsch von Ulrich Blumenbach. Tropen Verlag, Stuttgart 2021. 402 Seiten, 25 Euro.