
True Crime, monströs und börsennotiert
(AM) Eines der großen Sachbücher dieses Herbstes, ist das bei hanserblau erscheinende „Imperium der Schmerzen“ ein wuchtiges und dazu blendend gut geschriebenes Buch, dessen Lektüre niemand gleichgültig lassen kann. Bräuchte es ein einziges Buch, die fatalen Auswüchse des Kapitalismus, eines enthemmten Marktes und verantwortungsloser Gier auf den Punkt zu bringen, wäre es dieses. Ausgehend von dem 2017 im „New Yorker“ erschienenen Artikel „The Family That Built an Empire of Pain“ entwickelt der US-amerikanische Investigativ-Journalist Patrick Radden Keefe eine schier unglaubliche, drei Generationen umspannende Familien- und Unternehmensgeschichte gegen die „Der Pate“ wie eine harmlose Gutenacht-Geschichte wirkt.
Die Milliardärsdynastie Sackler, Inhaberfamilie von Purdue Pharma, stürzte mit dem Opioid Oxycodon eine Nation in die Drogensucht – mit bis heute alleine in den USA rund einer halben Millionen Drogentoten – bereicherte sich mit mafiösen und skrupellosen Machenschaften, ignorierte jegliche Bedenken und Alarmzeichen, und spielte sich gleichzeitig bei Museen, Universitäten und Institutionen als großer Gönner auf. Als die Justiz endlich mit Ermittlungen und Verfahren begann, entzog sich die Dynastie mit Hilfe willfähriger Anwälte und Gerichte der juristischen wie finanziellen Verantwortung. Am Beispiel eines der größten verbrecherisch angehäuften Vermögen der Welt zeigt sich die Kultur der Straflosigkeit der Superreichen, ihre nackte Gier und Gleichgültigkeit gegenüber unermesslichem menschlichen Leid. Ein zutiefst schockierendes, wichtiges Buch.
Patrick Radden Keefe: Imperium der Schmerzen. Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioidkrise auslöste (Empire of Pain: The Secret History of the Sackler Dynasty, 2021). Aus dem amerikanischen Englisch von Benjamin Dittmann-Bieber, Gregor Runge und Kattrin Stier. Hanserblau, Berlin 2022. Hardcover, 640 Seiten, 36 Euro. Erscheinungsdatum: 24.10.2022. Verlagsinformationen hier.
Unser Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Verlages:
Kapitel 15 : Der Gott der Träume
Der Schlafmohn ist eine grazile, betörende Pflanze, mit einer kleinen Knospe am Ende eines langen Stiels. Er blüht prächtig, mal tiefrot, mal zartrosa, und mutet lieblich, gleichgültig, beinah eitel an. Schlafmohn kommt natürlich vor, und wenn der Wind geht, verstreut er seinen Samen aus seiner Samenkapsel, die löchrig ist wie ein Salzstreuer. Vor Tausenden von Jahren, zu Beginn der Menschheitsgeschichte, haben unsere Vorfahren herausgefunden, dass aus einer angeschnittenen Mohnsamenkapsel eine zähflüssige Milch austritt, die über medizinische Eigenschaften verfügt.(1) In Mesopotamien wurde Mohn geerntet, von den Sumerern. Der Milchsaft der Pflanze findet auf assyrischen Schrifttafeln des 7. Jh. v. Chr. Erwähnung.(2) Hippokrates empfahl, Mohnmilch mit Brennnesselsamen zu mischen. Das Mittel half seiner Ansicht nach gegen eine ganze Reihe von Beschwerden.(3) Die Einnahme wirkte schlaffördernd, beruhigte die Nerven und löste neben einem euphorischen Gefühl auch ein ausgeprägtes, allumfassendes Wohlbefinden aus. Am wichtigsten jedoch war, dass die Einnahme von Opium Schmerzen linderte.
Schlafmohn schien geradezu magische Eigenschaften zu haben, aber schon im Altertum wusste man, dass er gewisse Gefahren mit sich brachte.(4) Seine Wirkung war derart überwältigend, dass manche Menschen geradezu besessen von ihm waren, abhängig wurden oder nach der Einnahme nie wieder erwachten. Seine Wirkung konnte tödlich sein. Sie konnte einen so tiefen Zustand der Entspannung herbeiführen, dass der Atem aussetzte. Schlafmohn wurde als Medizin, aber auch als Gift eingesetzt, um zu morden oder sich das Leben zu nehmen. Bei den Römern symbolisierte der Mohn nicht nur den Schlaf, sondern auch den Tod.
Das Potenzial der zarten Pflanze war so groß, dass sie nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gesellschaften in Geiselhaft nahm. So entwickelte sich der Schlafmohn im 19. Jahrhundert zu einem Werkzeug imperialer Machtausübung. Der lukrative Handel mit Opium veranlasste die Briten dazu, gleich zwei blutige Kriege gegen China zu führen. In Teilen Europas kam der Freizeitkonsum der Droge in Mode und inspirierte die romantischen Dichter Samuel Taylor Coleridge und Percy Bysshe Shelley.(5) Ärzte und Apotheker verabreichten Opium gegen verschiedenste Krankheiten, von Fieber bis Durchfall.(6) Anfang des 19.Jahrhunderts gelang es einem preußischen Apothekergehilfen, in einer Reihe von Experimenten chemische Substanzen aus dem Saft des Opiums zu isolieren, als Wirkstoff erkannte er das erste aktive Alkaloid des Pflanzeninhaltsstoffs.(7) Er nannte den neuen Wirkstoff Morphium, nach Morpheus, dem griechischen Gott der Träume.

Martin Booth hat in seinem Buch Opium: A History mit Blick auf die Folgen der Verabreichung von opiumbasierten Wirkstoffen konstatiert, dass sich »die Geschichte wiederholt«.(8) Während des Amerikanischen Bürgerkriegs etwa fand Morphin verbreiteten Einsatz bei der Behandlung jener schweren Verletzungen, die sich die Soldaten auf dem Schlachtfeld zugezogen hatten, und brachte eine Generation von Veteranen hervor, die als Morphinisten aus dem Krieg zurückkehrten.(9) Einer Schätzung zufolge waren 1898 etwa eine Viertelmillion Amerikaner morphinsüchtig.(10) Ein Jahrzehnt später ernannte Präsident Theodore Roosevelt einen Opiumbeauftragten, Dr. Hamilton Wright, um dem Missbrauch der Substanz etwas entgegenzusetzen. Opium, warnte Wright, sei »die schädlichste Droge, die der Menschheit bekannt ist«.(11)
Deutschen Chemikern war es kurz zuvor gelungen, aus Morphin den neuen Wirkstoff Heroin zu synthetisieren. Der Pharmakonzern Bayer begann die Substanz als angebliche Wunderdroge und sichere Alternative zu Morphin breit zu vermarkten.(12) Die Entwicklung von Aspirin ging auf dieselbe Forschungsgruppe zurück. Bayer verkaufte das Medikament in kleinen Schachteln, auf deren Etikett ein Löwe abgebildet war, und behauptete, dass Heroin aufgrund seiner anderen Molekularstruktur nicht die gefährlichen suchterzeugenden Eigenschaften von Morphin besitze.(13) Das klang verlockend, schließlich waren die Vor- und Nachteile des Konsums von Opium im Lauf der Menschheitsgeschichte stets ineinander verschlungen gewesen wie die beiden Stränge einer Doppelhelix. Nun aber, so Bayer, sei es der Wissenschaft gelungen, sie voneinander zu entkoppeln, sodass der Mensch mit Heroin in den Genuss aller therapeutischen Vorteile des Schlafmohns komme, ohne dessen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.(14) Manch einer sprach sich sogar dafür aus, Morphinsucht mit Heroin zu behandeln.
Alle diese Behauptungen entbehrten jeglicher Grundlage. In Wirklichkeit war Heroin etwa sechsmal so stark wie Morphin und machte genauso abhängig. Innerhalb weniger Jahre fand man heraus, dass auch Heroin süchtig machte.(15) Menschen, die Heroin einnahmen, entwickelten oft ein starkes Verlangen danach. Da der Körper allmählich eine Toleranz gegenüber der Substanz aufbaut, benötigen Konsumenten mit der Zeit eine immer höhere Dosis, um einen Zustand emotionalen Gleichgewichts herzustellen. Dies gilt im Übrigen für alle Opioide. Je länger sich der Körper an die jeweilige Substanz gewöhnt, desto mehr muss man ihm zuführen, damit Schmerzen gelindert, euphorische Gefühle erzeugt oder einfach nur Entzugssymptome verhindert werden. Die Dynamik dieser Erfahrung wird von manchen Ärzten als Abfolge von »Höhen und Tiefen« beschrieben. In dem Moment, in dem die Droge in den Körper gelangt, stellt sich ein Gefühl unvergleichlicher Glückseligkeit ein, auf das Gefühle der Verzweiflung und ein überwältigendes, geradezu animalisches Verlangen folgen. Körperliche Abhängigkeit führt oft zu lähmenden Entzugserscheinungen. Ohne Opium, Morphium oder Heroin krümmt sich der Abhängige, schwitzt und würgt, krampft und zittert am ganzen Körper, ist hilflos wie ein Fisch an Land.
Um 1910 erkannten dieselben Ärzte und Chemiker, die Heroin als Heilmittel empfohlen hatten, ihren Fehler, und der medizinische Einsatz der Substanz ging wieder zurück.(16) Im Jahr 1913 stellte Bayer die Herstellung endgültig ein.(17) Nach wie vor gab es jedoch viele Menschen, die die Folgen des Heroinkonsums in Kauf nahmen, um in den Genuss dessen zu kommen, was er in ihnen auslöste. Heinrich Dreser, einer der Chemiker, denen die Erfindung des Heroins zugeschrieben wird, soll selbst süchtig geworden sein. Er starb 1924 an einem Schlaganfall.(18) Die Risiken mögen zwar außerordentlich sein, aber der Rausch ist überwältigend. Opioide können uns, wenn auch nur für wenige Minuten, von körperlichen und seelischen Schmerzen, von Gefühlen des Unbehagens, von unseren Ängsten und Sehnsüchten befreien. Ihr Konsum ist mit keiner anderen menschlichen Erfahrung vergleichbar. »Ich werde jung sterben«, sagte der Komiker Lenny Bruce einmal über seine eigene Sucht. »Aber es ist, als würde ich Gott küssen.«(19) (Er starb tatsächlich jung, nackt auf dem Boden seines Badezimmers, an einer Überdosis Morphin, mit vierzig Jahren.)(20)
***

Wenn Richard Sackler für irgendetwas eine Leidenschaft entwickelte, war er nicht mehr zu stoppen. Als feststand, dass Purdue OxyContin auf den Markt bringen würde, widmete er sich diesem Vorhaben mit geradezu fieberhaftem Einsatz. »Du wirst nicht glauben, was ich alles dafür tue, damit OxyContin ein großer Erfolg wird«, schrieb er an einen Freund. »Es fühlt sich so an, als hätte ich der Sache mein ganzes Leben verschrieben.«(21)
Richard gab alles und verlangte auch seinen Mitarbeitern einiges ab. »Du brauchst Urlaub – und ich auch. Von deinen E-Mails«, schrieb ihm Michael Friedman, sein Vize und Marketingchef.(22) Friedman gehörte zu den wenigen, die so mit Richard reden konnten. Er genoss eine gewisse Freiheit, weil ihn Richard persönlich ins Unternehmen geholt hatte. Vielleicht hatte er auch deshalb einen besonderen Einfluss auf Richard, weil dieser für das Marketing zuständig war und Richard gewagte Pläne für Marketing und Promotion des neuen Medikaments schmiedete. Pur- due würde, so der Plan, dem auslaufenden MS-Contin-Patent eine radikale Strategie entgegensetzen. Um dem etablierten schmerztherapeutischen Paradigma ein Ende zu setzen, sollte das stärkere Schmerzmittel OxyContin offensiv in Konkurrenz zum firmeneigenen Produkt MS Contin lanciert werden. Dies wäre, so Richard, »das erste Mal, dass wir uns dafür entscheiden, eines unserer eigenen Produkte überflüssig zu machen«.(23)
Doch Richard wollte nicht einfach nur MS Contin ersetzen. Was OxyContin betraf, ging seine Vision noch weiter. Morphin galt nach wie vor als drastischer Wirkstoff. Wenn ein Arzt einer Familie mitteilte, dass der Großmutter Morphin verabreicht werden solle, bedeutete dies in der Regel, dass die Großmutter im Sterben lag. »Uns ist oft zu Ohren gekommen, dass das medizinische Fachpersonal den Patienten verschweigt, dass MS Contin Morphin enthält, weil Morphin stigmatisiert ist«, erinnerte sich eine einstige Führungskraft von Purdue, die mit Richard und Friedman zusammengearbeitet hatte. »Angehörige, sogar Apotheker haben zu Patienten gesagt: ›Das darf man doch nicht nehmen, das ist Morphin!‹« In einem Unternehmensdokument von 1992 wird auf Marktforschungsergebnisse hingewiesen, denen zufolge orthopädische Chirurgen »Angst« davor hätten und von der Vorstellung »eingeschüchtert« seien, Morphin zu verabreichen, weil die Substanz signalisiere: »gefährlicher Wirkstoff/totkranke Patienten/Abhängigkeit«.(24) Gleichzeitig, heißt es in dem Dokument weiter, würden dieselben Chirurgen ein nachhaltig wirksames, morphinfreies Schmerzmittel begrüßen. Oxycodon, so die einstige Führungskraft von Purdue, sei damals mit »keinem Stigma« behaftet gewesen.(25)
Medikamente haben unterschiedliche »Persönlichkeiten«, pflegte Michael Friedman zu sagen. Als er und Richard darüber nachdachten, wie OxyContin am besten auf dem Markt zu positionieren sei, machten sie eine überraschende Entdeckung. Morphin galt zwar ohne Frage als Mittel der letzten Wahl. Schon der Name beschwor Todesassoziationen herauf. Aber bei Oxycodon sei das völlig anders, wie Friedman Richard in einer E-Mail mitteilte. Friedman zufolge hatte Purdue im Rahmen von Marktforschungsuntersuchungen festgestellt, dass viele Ärzte der Ansicht waren, Oxycodon sei »schwächer als Morphium«. Oxycodon war weniger bekannt, wurde weniger gut verstanden und verfügte damit über ein weniger bedrohliches und zugänglicheres Image.
Vom Marketingstandpunkt aus betrachtet, war das eine Chance. Purdue konnte OxyContin als sichere, weniger gefährliche Alternative zu Morphin vermarkten. Ein Jahrhundert zuvor hatte Bayer Heroin als eine Art Morphium-Ersatz vermarktet, der angeblich keine unangenehmen Nebenwirkungen hatte, obwohl Heroin in Wirklichkeit stärker als Morphium und genauso suchterzeugend war. Bei internen Gesprächen in der Purdue-Zentrale in Norwalk dachten Richard und seine Kollegen über eine ähnliche Marketingstrategie nach. Tatsächlich war Oxycodon nicht schwächer als Morphin, sondern sogar doppelt so stark. Die Marketingspezialisten von Purdue wussten nicht genau, warum die Ärzte dem Irrglauben anhingen, dass Oxycodon schwächer sei. Vielleicht lag es daran, dass die meisten Mediziner mit dem Wirkstoff bisher hauptsächlich durch die Medikamente Percocet und Percodan in Berührung gekommen waren, die jeweils eine geringe Dosis Oxycodon und Paracetamol beziehungsweise Aspirin enthielten. Was auch immer der Grund gewesen mag, Richard entwickelte zusammen mit seinen Mitarbeitern eine raffinierte Strategie, wie aus mehreren E-Mails hervorgeht.(26) Die amerikanische Ärzteschaft wusste nicht, was Oxycodon eigentlich war, und das Unternehmen wollte auch nichts daran ändern. Man wollte sich das Unwissen stattdessen zunutze machen.
OxyContin war, so wie MS Contin auch, ein geeignetes Medikament für Krebspatienten, die unter starken Schmerzen litten. Aber, so betonte Friedman gegenüber Richard, man müsse vorsichtig sein und dürfe OxyContin nicht zu explizit für die Behandlung von Krebspatienten vermarkten, da sich dies negativ auf das unproblematische Image des Medikaments auswirken könnte. »Auch, wenn wir uns wünschen würden, dass dieses Produkt vermehrt in der Therapie von Krebspatienten zum Einsatz kommt«, schrieb Friedman, »wäre es in diesem frühen Stadium äußerst heikel, die ›Persönlichkeit‹ des Medikaments auf eine Art und Weise zu manipulieren, die Ärzte glauben machen könnte, es sei stärker als Morphin oder genauso stark.« Dabei war OxyContin de facto stärker. Es war eine pharmakologische Tatsache, das Unternehmen aber wollte sie verschleiern. Schließlich war die Anzahl von Krebspatienten begrenzt. »Wir sind besser dran, wenn wir den Einsatzbereich von Oxy-Contin ausweiten«, schrieb Friedman. Der Jackpot lasse sich nur unter Einbezug »nicht-maligner Schmerzen« knacken. OxyContin solle kein »Nischenmedikament« für die Behandlung von Schmerzen von Krebskranken werden, wie das Protokoll eines frühen Meetings des Purdue-Teams bestätigt.(27) Nach Schätzungen des Unternehmens litten fünfzig Millionen Amerikaner unter chronischen Schmerzen.(28) Dies war der Markt, den man erreichen wollte. OxyContin sollte ein Medikament für alle werden.

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Es sollte sich als äußerst hilfreich erweisen, dass zu dem Zeitpunkt, als die Sacklers die Entwicklung von OxyContin in die Wege leiteten, innerhalb der Ärzteschaft bereits ein grundlegendes Umdenken darüber im Gange war, wie Schmerzen zu behandeln seien. Seit der Fachtagung, die Richard 1984 in Toronto mit organisiert hatte, hatte sich Purdue unermüdlich dafür eingesetzt, sich ebendiese Ärzteschaft heranzuziehen. Ein Star der neuen Bewegung war ein selbstbewusst auftretender junger Arzt mit gepflegtem kurzen Bart namens Russel Portenoy. Portenoy war in seinen Dreißigern und hatte als Professor für Neurologie und Neurowissenschaften an der Cornell University gelehrt, bevor er an das Beth Israel Medical Center in New York berufen wurde, um eine neue Abteilung für Schmerz- und Palliativmedizin aufzubauen.(29) Er war telegen und geistreich, ein überzeugender Redner und damit ein hervorragender Botschafter für ein neues Grundsatzprogramm in Sachen Schmerztherapie. In der medizinischen Praxis, so argumentierte er, seien Schmerzen viel zu lange nicht ernst genommen worden. Auf Konferenzen, in Artikeln und bei Auftritten in den Abendnachrichten wies er darauf hin, dass die Schulmedizin das Leiden von Millionen von Amerikanern ignoriert habe.(30) In seinem Büro hatte er an prominenter Stelle das Muster eines Magazincovers platziert, auf dem er »King of Pain« genannt wurde.
Portenoy hielt Opioide für ein »Geschenk der Natur«.(31) Sein Therapieansatz, sagte er einmal im Scherz, lasse sich so zusammenfassen: »Hier, Tabletten für sechs Monate, bis zum nächsten Mal.« Portenoy baute früh lang anhaltende Beziehungen zu Purdue Pharma und anderen Arzneimittelherstellern auf.(32) Zwei Jahre nach Richards Konferenz in Toronto verfasste Portenoy gemeinsam mit Dr. Kathleen Foley, einer weiteren Kollegin, die sich in vorderster Reihe für eine Neubewertung schmerztherapeutischer Ansätze starkmachte, einen einflussreichen Artikel über den längerfristigen Einsatz von Opioiden in der Schmerztherapie.(33) Portenoy erklärte später, es sei ihnen darum gegangen, »aufzuzeigen, dass eine dauerhafte Behandlung von Schmerzen mit Opioiden möglich ist, ohne dass es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommt, Missbrauch eingeschlossen«.(34) Der Artikel präsentierte überwiegend anekdotische Belege und nicht die Ergebnisse einer methodisch durchgeführten Studie. Dennoch waren es Artikel dieser Art, die sich für Purdue zunehmend als nützlich erweisen sollten.
Portenoy teilte Richards Ansicht, dass Opioide aufgrund der allgemeinen Bedenken über ihre suchterzeugenden Eigenschaften mit einem ungerechtfertigten Makel behaftet waren, der Generationen von Ärzten davon abgehalten hatte, die womöglich besten und effektivsten Wirkstoffe, die es für die Schmerztherapie gab, zu verabreichen.(35) Portenoy zufolge hatten amerikanische Ärzte den Nutzen von Opioiden unter- und ihre Risiken überschätzt. Natürlich entwickelten einige Patienten eine Abhängigkeit, räumte er ein. Aber wer eine Abhängigkeit entwickele, sei in der Regel kein Schmerzpatient im engeren Sinn, der Opioide einnahm, weil ein Arzt sie ihm verschrieben hatte. In solchen Fällen, so Portenoy, spielten meist »prädisponierende psychologische, soziale und physiologische Faktoren« eine entscheidende Rolle. Manche Menschen hätten schlicht eine suchtanfällige Persönlichkeit, sie könnten nicht anders. Wenn man einer solchen Person Morphin verabreiche, bestehe sehr wohl die Gefahr des Missbrauchs. Nur liege das eben an ihrer Prädisposition und nicht an den suchterzeugenden Eigenschaften des Arzneimittels. Portenoy sah in der Angst vor Opioiden eine Art Hysterie, die er als »Opiophobie« bezeichnete.(36)
Ermutigt durch Portenoy und seine Mitstreiter begann sich der medizinische Konsens in den späten 80er-Jahren zu ändern. In den ersten vier Jahren der 90er-Jahre stieg der Morphinkonsum in den Vereinigten Staaten um 75 Prozent.(37) Richard Sackler kannte Portenoy und Kathleen Foley, er verfolgte ihre Arbeit aufmerksam. Diese hoch qualifizierten Schmerzspezialisten agierten aus einem offenbar unabhängigen klinischen Umfeld heraus, das über einen exzellenten Ruf verfügte, und validierten damit die kommerzielle Forschungs- und Entwicklungsarbeit, die Richard und seine Kollegen bei Purdue Pharma betrieben. »Noch letzte Woche war unsere Überzeugung, dass hoch dosiertes Oxycodon eine befriedigende Alternative zu hoch dosiertem Morphin sein könnte, lediglich eine Vermutung«, teilte Richard seinen Kollegen im Jahr 1991 mit, damals befand sich das Unternehmen in der Frühphase der Entwicklung von OxyContin.(38) »Noch im Juli sagte Dr. Kathleen Foley zu mir: ›Die Vorstellung ist vielversprechend, aber ob hoch dosiertes Oxycodon zur Therapie von Schmerzen bei Krebspatienten eingesetzt werden kann, ist noch unbekannt, weil es noch nie jemand versucht hat.‹« Inzwischen, so Richard, habe Foley ihren Patienten hoch dosiertes Oxycodon in Flüssigform verabreicht, und »es hat hervorragend funktioniert«, noch dazu ohne »unerwartete Nebenwirkungen«. Richard fügte hinzu, dass Foley ihren Patienten außerordentlich hohe Dosen von bis zu 1000 Milligramm pro Tag verabreicht hatte. (Mit dieser Zahl konfrontiert, sollte Richards Cousine Kathe Sackler Jahrzehnte später sagen: »1000 Milligramm, unfassbar. Das ist eine ungeheure Dosis, mein Gott.«) Für Richard zählte damals einzig und allein das kommerzielle Versprechen. Nach Foleys Recherchen, bemerkte er staunend, stelle selbst eine derart gewaltige Dosis »in der Praxis keine Grenze« dar.
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Mortimer und Raymond hatten, so wie vor ihnen Arthur, Diskretion zu einer Art Fetisch erhoben, und selbst dann noch als ihre Popularität aufgrund ihres gemeinnützigen Engagements immer größer wurde, blieben sie jeglicher Form von Öffentlichkeit abgeneigt. Als Chef des Familienunternehmens hielt es Richard Sackler genauso. Daher war es überraschend, als Purdue Frederick im Sommer 1992 den ungewöhnlichen Schritt unternahm, für einen ausführlichen Artikel in der Lokalzeitung Hartford Courant Rede und Antwort zu stehen. »In Norwalk ansässiges Unternehmen findet Nische inmitten von Pharmariesen«, lautete die Überschrift.(39) Die Sacklers hatten ihre medizinischen Abschlüsse stets als Ausweis nicht nur persönlicher Leistung, sondern auch ihrer Eignung angeführt. In dem Artikel wurde zwar darauf hingewiesen, dass das Unternehmen »im Besitz von Ärzten« sei, doch abgesehen davon, dass die Sacklers laut Artikel »in der Leitung des Unternehmens nach wie vor eine aktive Rolle spielen«, erfuhr man nichts über die Familie. Dabei wäre dies für Richard eine günstige Gelegenheit gewesen, ins Rampenlicht zu treten, schließlich hatten sein Vater und sein Onkel ein gewisses Maß an Kontrolle an ihn abgegeben, und er wiederum hatte seine Cousine und mögliche Rivalin Kathe weitgehend ausmanövriert. Dennoch tauchte an keiner Stelle im Artikel sein Name auf. Stattdessen machten die Sacklers ihren Consigliere und Firmenanwalt Howard Udell zum Aushängeschild von Purdue.

Purdue habe sich »inmitten von Giganten durchgesetzt«, rühmte Udell das Unternehmen. Auf dem Foto ist er zusammen mit einer Reihe von rezeptfreien Produkten abgebildet. Purdue hatte seine Ursprünge als Hersteller von rezeptfreien Arzneien noch nicht gänzlich hinter sich gelassen. So wurde in dem Artikel etwa der Jahrzehnte zurückliegende Triumph erwähnt, dass die NASA Betadine verwendet hatte, und der Autor ließ es sich auch nicht nehmen, zu erwähnen, dass Purdue »kürzlich ein Mittel gegen Genitalwarzen auf den Markt gebracht hat«. Nicht zuletzt aufgrund von MS Contin nähere sich der Jahresumsatz der 400-Millionen-Dollar-Marke, so Udell, Purdue könne sich voll und ganz auf die Zukunft konzentrieren.
Der Artikel erschien zu einem für das Unternehmen entscheidenden Zeitpunkt. Purdue bemühte sich gerade um eine Zulassung für OxyContin durch die FDA. MS Contin hatte das Unternehmen einfach auf den Markt geworfen, ohne eine Zulassung zu beantragen. Ein riskantes Unterfangen, zu dem Howard Udell ermutigt hatte. Diesmal war alles an- ders. MS Contin mochte ein bahnbrechendes Produkt gewesen sein, aber OxyContin ging weit darüber hinaus. Das Unternehmen war auf die FDA angewiesen. Sie musste das Medikament nicht nur zum Verkauf freigeben, sondern hatte auch entscheidenden Einfluss darauf, in welcher Form es verkauft und vermarktet werden durfte. Wenn Richard und seine Mitarbeiter in der Führungsetage von Purdue das Präparat, wie geplant, nicht nur für die Behandlung von Schmerzen in der Krebstherapie, sondern von chronischen Schmerzen aller Art vermarkten wollten, musste die Behörde in jeglicher Hinsicht zufriedengestellt werden. Das Erstzulassungsverfahren der FDA war ein hoch komplizierter bürokratischer Spießrutenlauf, der mehrere Jahre in Anspruch nahm. Ein beschwerlicher Prozess, beschwerlicher als in anderen Ländern. Das moderne Zulassungsverfahren hatte sich in den 60er-Jahren, im Anschluss an die Kefauver-Anhörungen, herausgebildet. Es stellte komplexe Anforderungen an den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit eines neuen Medikaments.(40) In der Behörde arbeitete ein kleine Armee von Prüfern, die so weitreichende Regulierungsbefugnisse besaßen, dass sie über den Erfolg oder Misserfolg eines milliardenschweren Produkts entscheiden konnten.
Richard Sackler war ein ungeduldiger Mensch. Er hatte große Ambitionen, und er hatte es eilig. »Die Verhältnisse ändern sich immer schneller, und deshalb müssen wir auch, wenn wir wie gewünscht wachsen wollen, schneller neue Produkte entwickeln«, erklärte er seinen Angestellten. »Je schneller wir neue Produkte entwickeln, desto schneller kann unser Portfolio zugelassen werden.«(41) Schluss mit der alten Bequemlichkeit von einst, sagte Richard. Es war an der Zeit, sich als Wettbewerber ins Zeug zu legen. Aber es blieb dabei, für OxyContin benötigte Richard eine Zulassung, und vor allem brauchte er die Zustimmung eines Mannes namens Curtis Wright, der in der FDA für Schmerzmittel zuständig war und als medizinischer Gutachter sowie Leiter des Zulassungsverfahrens für OxyContin verantwortlich sein würde.
Wright hatte für den Abschluss seines Medizinstudiums in den Abendstunden gelernt, neben seiner Arbeit als Chemiker am National Institute of Mental Health, einer dem US-Gesundheitsministerium unterstellten Einrichtung zur Erforschung psychischer Störungen. Anschließend ging er zur Navy, wo er als Medizinischer Offizier diente. Er verließ die Navy, um als Postdoktorand im Rahmen eines Stipendiums die psychopharma- kologischen Eigenschaftn von Opioiden zu erforschen, bevor seine Frau ihm nahelegte, er solle sich einen richtigen Job suchen, andernfalls müssten sie noch aus ihrem Apartment ausziehen und in einem Stadtpark schlafen. Wright kam 1989 zur FDA. Vor OxyContin war er an den Zulassungsverfahren mehrerer anderer opioidhaltiger Schmerzmittel beteiligt gewesen. Er war der FDA-Mitarbeiter, den Purdue zufriedenstellen musste.(42) OxyContin sollte als »reguliertes Betäubungsmittel« unter dem ameri- kanischen Betäubungsmittelgesetz, dem Controlled Substances Act von 1970, auf den Markt kommen. Wie bei allen starken Opioiden stand auch im Fall von OxyContin ein mögliches Suchtpotenzial im Raum. Man würde davon ausgehen, dass Purdue die suchterzeugenden Eigenschaften seines neuen Medikaments in Tests untersucht hätte. Aber das Unternehmen sah davon ab. Stattdessen argumentierte Purdue, das patentierte Contin-System, mit dem die OxyContin-Tabletten versehen waren, beuge dem Suchtrisiko vor. Die Abhängigkeit von Opioiden, so Purdue, basiere auf dem sogenannten »Berg und Tal«-Prinzip, auf der Verabreichung einer bestimmten Dosis und den schließlich einsetzenden Entzugserscheinungen, auf einem euphorisierenden Rausch, nach dessen Abflauen erneut ein Gefühl des Verlangens einsetzt. Durch das Contin-System sei jedoch für eine kontinuierliche Wirkstofffreisetzung gesorgt, sodass die Droge nur sehr langsam, über einen Zeitraum von zwölf Stunden, in den Blutkreislauf gelange. Deshalb erlebten die Patienten nicht den gleichen rauschartigen Zustand, der bei sofortiger Wirkstofffreisetzung einsetzen würde, deshalb könnten sie auch nicht zwischen Rauscherleben und Entzugserscheinungen zerrissen werden.(43)

Der Argumentation von Purdue zufolge ging von OxyContin nicht nur keine nennenswerte Suchtgefahr aus. Die einzigartigen Eigenschaften des Medikaments machten es im Einsatz sogar sicherer als andere Opioide auf dem Markt. Die Chemiker von Bayer mochten sich geirrt haben, als sie Heroin synthetisierten und davon ausgingen, das grundlegende Paradox, das mit der Opiumtherapie einhergeht, aus der Welt geschafft zu haben. Diesmal jedoch, so argumentierte Purdue, war der Code tatsächlich geknackt und die medizinische Potenz des Schlafmohns ein für alle Mal von der mit ihr verbundenen Suchtgefahr entkoppelt worden. Das Problem existierte angeblich nicht mehr.
Nicht alle Mitarbeiter der Behörde waren überzeugt. Curtis Wright riet zur Vorsicht, es gehe womöglich zu weit, wenn Purdue behaupte, OxyContin sei sicherer als andere verfügbare Schmerzmittel. Er warnte das Unternehmen, »darauf zu achten, wettbewerbsorientierte Werbemaßnahmen einzuschränken«.(44) Zudem teilte er den Verantwortlichen von Purdue mit, dass einige seiner Kollegen in der Behörde »der festen Überzeugung« seien, dass Opioide »nicht zur Behandlung von nicht-malig- nen Schmerzen eingesetzt werden sollten«.(45)
Genau dies jedoch sah Purdue für OxyContin vor. In einem Memo aus dem Jahr 1994 von Michael Friedman an Richard, Raymond und Mortimer Sackler heißt es, die FDA werde die Markteinführung von OxyContin vermutlich nur für die Behandlung von Krebspatienten zulassen. »Wir gehen jedoch davon aus«, so Friedman, »dass die Ärzteschaft OxyContin als eine Art Percocet (ohne Paracetamol) mit kontinuierlicher Wirkstofffreisetzung wahrnehmen und die Verwendung des Medikaments ent- sprechend ausweiten wird.«(46)
»Die ursprünglich vorgesehene Indikation war die Behandlung von chronischen Tumorschmerzen«, so Larry Wilson, der Chemiker, der am firmeneigenen Forschungszentrum in Yonkers an der Entwicklung von OxyContin beteiligt gewesen war. Anfänglich, als Wilson und seine Kollegen das Medikament als Nachfolgepräparat von MS Contin entwickelten, sei »immer nur von Krebs die Rede gewesen«. Aber, so Wilson, »sobald ein Unternehmen die Zulassung für ein Medikament erhalten hat, können die Ärzte es nach Belieben verschreiben«.(47)
Damit OxyContin zugelassen werden konnte, musste die Behörde die klein gedruckte Packungsbeilage absegnen, die »Produktbibel«, wie Richard Sackler zu sagen pflegte.(48) Jedes Wort musste mit der FDAausgehandelt werden. Mehr als dreißig Mal wurde der Text überarbeitet. Die Experten von Purdue feilschten mit der Behörde um jedes Wort und je- den Satz. Das Ziel bestand Richard zufolge darin, die Verbraucher nicht nur über die Risiken, den Nutzen und die richtige Anwendung des Medikaments zu informieren, sondern auch »ein wirksames Verkaufsinstrument« zu schaffen.(49)
Nach und nach zog das Team von Richard den FDA-Mann Curtis Wright auf seine Seite. Anfangs, als er den ersten Entwurf der OxyContin-Packungsbeilage las, sagte er, er habe noch nie eine Packungsbeilage mit so viel Werbe- und Marketinginformationen gelesen, und forderte das Unternehmen auf, entsprechend zu streichen.(50) Aber es wurde nichts gestrichen.
Unter normalen Umständen werden die Interaktionen zwischen Mitarbeitern der FDA und den Unternehmen, deren Arzneimittel diese zu bewerten haben, aus Gründen der Transparenz und zum Schutz vor unzulässiger Einflussnahme und Korruption streng kontrolliert. Diese institutionelle Vorsichtsmaßnahme war infolge des Skandals um Henry Welch ergriffen worden, der sich in den 50er-Jahren von den Sacklers und Félix Martí-Ibáñez hatte korrumpieren lassen. Allerdings nahm Robert Reder, der bei Purdue eine Schlüsselrolle im Zulassungsverfahren für OxyContin spielte, 1992 an einer medizinischen Fachtagung in Washington teil und traf dort zufällig auf Curtis Wright. Die beiden kamen ins Gespräch über OxyContin, und in einem internen Memo über diese Begegnung teilte Reder mit, dass Wright »mit weiteren informellen Treffen dieser Art in naher Zukunft einverstanden ist«.(51) Richard brüstete sich damit, »wie weit wir gekommen sind beim Aufbau einer positiven Beziehung« mit Wright und der FDA.(52)
Hin und wieder bat Wright die Purdue-Mitarbeiter darum, man möge ihm bestimmte Materialien an sein heimisches Büro und nicht in die Behörde schicken. Einem vertraulichen Memo zufolge, das später von der Bundesstaatsanwaltschaft vorgelegt wurde, reiste eine kleine Delegation von Purdue-Mitarbeitern nach Maryland und mietete dort ein Zimmer in der Nähe von Wrights Büro.(53) Das Purdue-Team assistierte Wright mehrere Tage dabei, die zu ihrem eigenen Medikament angefertigten klinischen Studienberichte samt der darin enthaltenen Bewertungen über dessen Wirksamkeit und Sicherheit durchzusehen und die Ergebnisse seiner Bewertung schriftlich niederzulegen – ein höchst ungewöhnliches Vorgehen.
Wright schien seine Rolle als unparteiischer Vertreter einer Bundesbehörde aufgegeben zu haben und zu einem behördeninternen Fürsprecher von Purdue geworden zu sein. Der Text für die Packungsbeilage durchlief zahllose Entwürfe und Überarbeitungen, bis sich irgendwann eine neue Formulierung eingeschlichen hatte: »Es wird angenommen, dass die verzögerte Aufnahme, die von den OxyContin-Tabletten gewährleistet wird, die Missbrauchswahrscheinlichkeit verringert.«(54) Eine seltsame Formulierung. Es wird angenommen? Von wem? Dieser Satz schien einen Wunsch zum Ausdruck zu bringen, ohne wissenschaftlich fundiert zu sein. Als viele Jahre später die Frage aufkam, wer diesen Satz geschrieben und in die Packungsbeilage eingebracht hatte, wollte niemand die Verantwortung übernehmen. Curtis Wright behauptete, er sei es nicht gewesen, und legte damit nahe, dass Purdue dafür verantwortlich sei.(55) Robert Reder dagegen behauptete, der Satz gehe auf Wright zurück.(56) In einer Aussage unter Eid räumte Wright ein, dass er ihn geschrieben haben könnte.(57) Möglicherweise. Er könne sich aber, sagte er, nicht konkret daran erinnern. Dem Satz konnte kein Urheber zugeordnet werden.
Bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung löste die Formulierung in der FDA Skepsis aus. »Das ist doch B.S.« schrieb seine Kollegin Diane Schnitzler in einer E-Mail an Wright.(58)
»Aber das entspricht den Tatsachen, Diane«, antwortete Wright. »Ein wesentlicher Faktor für die Beurteilung der Missbrauchsgefahr ist, wie schnell die Substanz wirkt.«(59)
Die Aussage, es werde »angenommen«, dass der Überzug von OxyContin die Missbrauchsgefahr verringere, blieb also in der Packungsbeilage stehen, und am 28. Dezember 1995 erteilte die FDA eine Zulassung für OxyContin. »Das ist nicht einfach so ›passiert‹. Diese Zulassung ist geschickt koordiniert und planvoll herbeigeführt worden«, sagte Richard Sackler zu seinen Mitarbeitern. »Im Gegensatz zu anderen Zulassungsanträgen, die jahrelang in der FDA herumliegen, ist dieses Produkt innerhalb von elf Monaten und vierzehn Tagen zugelassen worden.«(60) Richard Sackler gab zu, eine gewisse Genugtuung darüber zu empfinden, dass die Qualität der Packungsbeilage »viel mit mir zu tun hat«.(61) Er lobte aber auch die »herausragende Teamarbeit« zwischen Purdue Pharma und der FDA.(62)
Curtis Wright hingegen hatte bereits seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, die Bundesbehörde zu verlassen. Nachdem das OxyContin-Zulassungsverfahren abgeschlossen war, trat er von seinem Posten zurück. Zunächst ging er zu einem kleinen Pharmaunternehmen in Pennsylvania namens Adolor. Aber dort blieb er nicht lange. Kaum ein Jahr später trat er eine Stelle bei Purdue Pharma in Norwalk an, die ihm bereits im ersten Jahr knapp 400 000 Dollar einbrachte.(63)
Als er später vor Gericht dazu befragt wurde, bestritt Wright, dass er sich im Vorfeld seiner Anstellung an Purdue gewandt hatte, und beharrte darauf, ein Headhunter sei auf ihn zugekommen, nachdem er die FDA verlassen hatte. Es sei nahliegend gewesen, dass ihn das Unternehmen einstellen wollte, argumentierte er, nicht weil er der Firma irgendeinen Gefallen getan hätte, sondern weil er »ein außerordentlich fairer und leistungsfähiger FDA-Prüfer« gewesen sei.(64)
In Wahrheit aber hatte Wright einen seiner ersten Anrufe als Mitarbeiter von Adolor an Purdue gerichtet.(65) Er wollte in Erfahrung bringen, wie man in Zukunft zusammenarbeiten könnte. Richard Sackler wiederum behauptete später in einer Aussage unter Eid, es sei Wright gewesen, der sich zuerst an das Unternehmen gewandt habe, um die Möglichkeit einer Anstellung zu eruieren, und dass dies zu einem Zeitpunkt geschehen sei, als er die FDA noch nicht verlassen hatte. »Er sprach mit einem Mitarbeiter von Purdue, nachdem er sich vorgenommen hatte, die FDA zu verlassen«, so Richard. Er habe damals jedoch das Gefühl gehabt, dass es für das Unternehmen von Nachteil sein könnte, Wright anzustellen. Er habe sich mit seinen Kollegen besprochen, die »darin übereinstimmten, dass wir keine Person einstellen sollten, die eines unserer Medikamente zugelassen hatte«. Wright sei stattdessen »für ein Jahr zu einem anderen Unternehmen« gegangen, so Richard.(66) Dieses eine Jahr genügte offenbar, um Richard Sacklers Sorge zu zerstreuen, dass eine Anstellung Wrights nach einem Interessenkonflikt aussehen könnte.
Anm. d. Red.: Für den Anmerkungsapparat konsultieren Sie bitte dann das am 24.10.2022 bei hanserblau erscheinende Buch.
Anm. 2: Einer der OxyContin-Patienten war Nico Walker, der, weil er anderen helfen wollte, sich als Sanitäter für den Irak-Krieg meldete, in elf Monaten bei etwa 250 Kampfeinsätzen dabei war, traumatisiert zurückkam, nicht mehr schlafen konnte, depressiv und oxy-süchtig wurde, um seine Sucht zu finanzieren in vier Monaten zehn Banken überfiel – Gesamtbeute: knapp 40.000 Dollar -, zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde und mit Hilfe von Außen den Roman „Cherry“ schrieb. Ein Interview von Alf Mayer mit Nico Walker hier: „Ich bin kein Kriegsheld“. Ein per E-Mail geführtes Interview mit dem in Kentucky im Gefängnis sitzenden Autor von „Cherry“, CulturMag Mai 2019.