
Viel mehr als Murakami
Wie kommt man eigentlich auf die Idee, einen Verlag für japanische Literatur zu gründen? Und was genau unterscheidet japanische Literatur von anderen Literaturen der Welt? Sonja Hartl hat sich mit der Verlegerin Katja Cassing unterhalten.
Die Leidenschaft für das Lesen steht am Anfang des cass verlags. „Sobald ich lesen konnte, habe ich alles gelesen, was mir in die Finger kam“, erzählt Katja Cassing am Telefon. Dass sie nun japanische Literatur verlegt, ist indes eher ein Zufall. „Nach dem Abitur stand für mich fest, dass ich eine Sprache studieren will. Am besten etwas Außereuropäisches. Also irgendetwas, was einen möglichst lange beschäftigt. Japanisch klang interessant, ist keine Tonsprache und schien, was die Schriftzeichen angeht, ein Fass ohne Boden. Das fand ich toll.“ Nach zwei Jahren Studium fuhr sie dann zum ersten Mal nach Japan und fühlte sich dank eines anspruchsvollen Sprachunterrichts bestens vorbereitet. „Ich dachte, das passt schon irgendwie. Aber dann kam der große Schock: In Japan angekommen, bin ich schon auf dem Postamt grandios gescheitert. Ich wollte eine Briefmarke kaufen und konnte mich auch verständlich machen. Aber ich habe den Menschen hinter dem Schalter nicht verstanden. Ich dachte: Was ist das denn, was spricht der denn für eine Sprache? Und dabei wollte er mir nur sagen, an welchem Automaten ich die Briefmarke ziehen kann.“

Katja Cassing blieb zweieinhalb Jahre in Japan, schloss anschließend ihr Hauptstudium in Trier ab und bekam ein Stipendium für einen weiteren Japanaufenthalt. „Beim zweiten Mal bin ich hängengeblieben.“ Zunächst wegen ihres ersten Ehemanns, dann fand sie ihren „Brotjob“: die Mitarbeit am Großen japanisch-deutschen-Wörterbuch. „Wenn mich damals jemand gefragt hätte, was ich wohl einmal machen werde, wäre ich im Traum nicht auf die Idee gekommen, dass es die Lexikographie sein würde.“
Im Jahr 2000 gründete sie dann den Verlag. „Ein Brotjob im Rücken ist natürlich sehr gut. Andererseits hat man natürlich längst nicht genug Zeit, ein Buch nach dem nächsten herauszubringen.“ Die ersten Jahre ging es deshalb gemächlich: Das erste Buch, Mord am See, erschien 2003, der zweite Titel, Der Hai von Shinjuku, 2005. „Alle zwei Jahre ein Titel. Jetzt sind es drei bis vier pro Jahr.“

Gegründet hat Katja Cassing den Verlag alleine, aber es war von Anfang an klar, dass ihr Mann sie unterstützen würde. „Unsere Aufgabenverteilung hat sich im Laufe der Zeit ergeben, wir ergänzen uns gut. Die Kommunikation ist zum Beispiel meine Sache, Klappentexte schreibt er. Aber Entscheidungen treffen wir natürlich zu zweit. Wir lesen auch beide.“ Bei dem Entdecken von Titeln kommt ihnen zugute, dass sie die Texte im Original lesen können. „Das ist ein enormer Vorteil. Die großen Verlage haben in der Regel niemanden im Lektorat, der Japanisch kann.“

Seit 2004 ist Katja Cassing wieder in Deutschland. Sobald sie nach Tokio reist, führt sie ihr erster Weg in ihre Lieblingsbuchhandlung, Junkudo in Ikebukuro. „Die hat 10 Etagen und ist einfach toll! Ich müsste da Tage verbringen, bis ich mich überall durchgearbeitet hätte.“ Dort sucht sie auch nach Büchern für ihren Verlag. Sie guckt auf Bestsellerlisten, recherchiert online, was sich gut verkauft, wer gerade einen Preis gewonnen hat, besprochen wird oder in andere Sprachen übersetzt wurde. Außerdem habe sie Kontakte zu japanischen Verlagen und Agenturen. „Und dann wird gelesen – das Original. Die Entscheidung steht und fällt mit dem japanischen Original. Wir haben noch keinen Titel eingekauft, den wir nur in Übersetzung kannten.“
Eine der größten Herausforderungen des Verlegens japanischer Literatur, betont Katja Cassing, ist die Übersetzungsarbeit. Zunächst einmal müsse man den richtigen Übersetzer finden. Aber es gebe nur wenige: „Wir haben eine Handvoll Übersetzer, die das hauptberuflich machen. Das ist wirklich betrüblich. Es wäre schön, wenn da was nachkäme.“ Deshalb kümmert sich die Verlegerin bisweilen selbst um den Nachwuchs: „Vorletztes Jahr habe ich in der Japanologie an der Uni Wien einen Workshop zum literarischen Übersetzen gegeben.“
Ansonsten, sagt Katja Cassing, unterscheide sich ihre Arbeit nicht von der anderer Verlage: „Verlegen ist ein hartes Geschäft. Gerade die unabhängigen Verlage haben es alle schwer. Man versucht, wichtige oder interessante Titel zu machen, aber man ist natürlich immer abhängig von der Gunst des Käufers. Und von der Gunst der Buchhändler, dass sie unsere Titel auch auslegen.“

Hier kommt noch eine weitere Herausforderung hinzu: „Viele Leute, glaube ich, denken bei japanischer Literatur zunächst an Kirschblüte und Exotik.“ Deshalb müsse man „dem hiesigen Publikum erst einmal vermitteln, dass japanische Literatur in erster Linie Literatur ist.“ Deshalb findet Katja Cassing auch die Frage schwierig, was denn das „Japanische“ an der japanischen Literatur sei, abgesehen davon, dass die Geschichte vielleicht in Japan spielt und die Sprache des Originals japanisch ist. Sie glaubt auch nicht, dass es „speziell japanische Kriminalliteratur“ gibt. „Ich habe mal überlegt, ob es zu den nichtjapanischen Krimis, die ich lese, japanische Pendants gibt. Und ich finde eigentlich zu allen ein Pendant. Beim englischen Rätselkrimi hätten wir zum Beispiel Keigo Higashino. Bei hard-boiled stuff Arimasa Osawa. Bei Krimis, in denen man sehr viel über die Gesellschaft erfährt, Miyuki Miyabe. Abgesehen davon, dass die Realien anders sind und die Originalsprache, wüsste ich nicht, was man da als typisch japanisch herausziehen sollte. Ich würde wahrscheinlich sagen: Nein, den japanischen Kriminalroman gibt es nicht. Aber ich lasse mich gerne belehren von Leuten, die sich mit Kriminalliteratur vielleicht besser auskennen als ich. Ich jedenfalls sehe nur wenig Unterschiede.“
An einen Trend „Kriminalliteratur aus Ost-Asien“ glaubt Katja Cassing daher auch eher nicht, wenn auch einige Titel durchaus frischen Wind auf den Markt brächten. „Viele Titel – wie beispielsweise Die Plotter oder auch der Krimi, den ich gerade für das nächste Frühjahr eingekauft habe, ebenfalls aus Korea – sind Bücher, die klassische Krimi-Elemente mit aktuellen Komponenten verknüpfen. Bei dem Krimi, der im Frühjahr 2020 kommt, geht es zum Beispiel um Serienmord und Demenz.“

Doch im cass verlag erscheinen nicht nur Krimis, und alle Bücher, die Katja Cassing verlegt, liegen ihr am Herzen. Deshalb reagiert sie auf die Frage, auf welche Bücher sie denn besonders stolz sei, zunächst mit dem verlegertypischen „alle“. Aber es gibt dann doch das eine Buch, auf das sie besonders stolz ist – den Erzählband Vom Versuch, einen Glücksgott loszuwerden von Ko Machida. „Machida gilt als unübersetzbar, weil er nicht nur diese abstrusen Geschichten – ein Affe wird gekocht, aber eher unfreiwillig – und Sätze hat, die teilweise seitenlang sind, sondern Wortspiele, Sprachspiele, Esprit und Humor, alles. Mit Schriftzeichen kann man naturgemäß in einer Weise spielen, die im Deutschen, weil wir keine Zeichen haben, nicht eins zu eins abzubilden ist. Aber wir haben Machida übersetzt, grandios übersetzt, würde ich sagen. Allerdings ist das Buch zu meinem Leidwesen untergegangen wie ein Stein.“

Und es gibt noch ein Buch, das Katja Cassing derzeit allen ans Herz legt: „Nächstes Jahr sind die Olympischen Spiele in Tokio, und ein Teil der Wettbewerbe wird auch in Fukushima stattfinden, was ich unglaublich finde. In Kein schönerer Ort von Manichi Yoshimura geht es zwar nicht um Fukushima, aber es klingt an. Kein schönerer Ort ist eine Dystopie, die an einem fiktiven, von einer Katastrophe heimgesuchten Ort spielt. Welcher Art von Katastrophe, wird nicht ausbuchstabiert. Es geht auch nicht um die unmittelbaren Schäden, die die Katastrophe verursacht hat, sondern vielmehr um das Zusammenleben der Gemeinschaft im Danach. Erzählt wird aus der Perspektive eines elfjährigen Mädchens, was ich schlicht für einen Geniestreich des Autors halte. Denn das Mädchen beschreibt, ohne einordnen zu können, was es sieht und beschreibt. Auflösen kann ich das hier natürlich nicht, aber so viel kann ich sagen: Es geht um Gleichschaltung. Um den Zwang, zusammenzuhalten und zusammenzustehen und zu behaupten, dass alles in Ordnung sei, obwohl nichts in Ordnung ist, und was das mit den Menschen macht. Ich finde das Buch auch deshalb so bemerkenswert, weil Japaner für Kritikfähigkeit oder überhaupt Protestkultur nicht gerade bekannt sind, ganz im Gegenteil. Aber der Autor bezieht am Schluss sehr klar Stellung. Und er bezieht sich nicht nur auf Japan, sondern spannt einen weitaus größeren Bogen.“
Dass japanische Literatur mehr als Haruki Murakami ist, macht Katja Cassing mit den Büchern ihres Verlags sehr deutlich.
Zum Schluss noch ein kleiner Leser*innenservice: Japanische Kriminalliteratur muss von vielen noch entdeckt werden. Katja Cassing hat Empfehlungen, wie man am besten vorgeht: „Wenn Sie ein bisschen Zeit haben, fangen Sie vorne an, bei Ranpo Edogawa, mit allem, was von ihm übersetzt wurde. Dann Seicho Matsumoto, Spiel mit dem Fahrplan. Matsumoto ist einer der bekanntesten japanischen Kriminalautoren, er hat sehr interessante Sachen geschrieben. Nun kommen wir schon in die 1990er Jahre, da würde ich Ihnen unbedingt Arimasa Osawas Hai von Shinjuku ans Herz legen. Kennt in Japan auch jedes Kind. Ist mehrfach verfilmt worden, sowohl fürs Fernsehen als auch fürs Kino. Dann Natsuo Kirino mit Die Umarmung des Todes. Oder Miyuki Miyabe. Beides Frauen, die stets auch gesellschaftliche Aspekte im Blick haben. Und natürlich unseren Iori Fujiwara mit Der Sonnenschirm des Terroristen. Dazu Higashino Keigo.“
Sonja Hartl
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