Geschrieben am 1. Juli 2019 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2019

Robert Rescue: Eine Kurzgeschichte (12)

Zugzwang

Lisa G. ist unterwegs im Wedding, genauer gesagt auf der Müllerstraße in Richtung Seestraße. Sie hat ihren Laptop mit dabei und achtet mit Argusaugen darauf. Von Mitteilnehmern aus ihren Lichtheilungskursen im Prenzlauer Berg hat die gebürtige Schwäbin gehört, das im Wedding alle Leute Kriminelle, Tagelöhner, Huren, Säufer und Backgammonspieler sind, die den ganzen Tag herumlungern und auf Opfer warten, um diese zu dissen. Auf dem Laptop befindet sich Lisas Magisterarbeit und während sie die Müllerstraße entlangläuft fällt ihr ein, dass sie von der Datei kein Backup hat. Außerdem ist der Rechner neu und hat viel Geld gekostet.

Warum sich Lisa gerade im Wedding aufhält, weiß ich nicht. Objektiv gesehen bzw. aus ihrer Verortung als schwäbische Prenzlbergerin heraus ist ihre Anwesenheit im Wedding schlichtweg unmöglich. Gehen wir davon aus, dass sie einen Mitstudenten treffen will, der eine miese Type ist, schon weil er hier wohnt, der aber hervorragende Kenntnisse in WORD hat und damit als einziger in Betracht kommt, um die kaputte Formatierung ihrer Magisterarbeit zu reparieren. Der Mitstudent, so ist sich Lisa sicher, wird im Laufe des Treffens versuchen, sie zu betatschen. Ob sie sich darauf einlässt, so hat sie vorab überlegt, wird von der Menge des konsumierten Alkohols abhängen sowie vom Zustand seiner Wohnung. Was auch immer passiert, Lisa will ihn morgen auf Facebook an den Pranger stellen.

Einige Meter von ihr entfernt nähert sich der junge Belgier Jean-Luc. Realistisch gesehen sollte er Achmed heißen und aus dem Libanon stammen, doch ich habe keine Lust auf diese Stereotypen, wer so heißt und von da her kommt ist automatisch kriminell. Also heißt Achmed jetzt Jean Luc und kommt von da. Belgier sind im Wedding allerdings selten anzutreffen, weil die sich in der Regel in Schöneberg niederlassen. Jean Luc kommt von einem befreundeten Mitkriminellen, wo sie sich bei einer Tasse Tee und Gebäck über ihre letzten Raubzüge unterhalten haben. Jean Luc sieht die Studentin und erblickt die Laptoptasche um ihre rechte Schulter. Der Belgier ist Profi im Erkennen von Laptoptaschen und weiß daher, was zu tun ist. Auf ihrer Höhe angekommen, greift er nach der Tasche und will sie entreißen. Lisa G. hat die Situation geistesgegenwärtig erkannt und hält die Tasche fest gepackt. Es kommt zu einem kurzen Handgemenge, woraufhin beide zu Boden stürzen. Jean Luc steht sofort wieder auf und zerrt an der Tasche.

„Verdammte Schlampe, laß gefälligst die Tasche los. Die gehört jetzt mir.“

„Nein, die gebe ich nicht her, Weddinger Krimineller. Kauf dir doch selbst ’ne Tasche.“

„Haha, von wegen Tasche. Ich will den Laptop. Jetzt hör endlich auf, so rumzuzicken. Das ist doch ein ganz normaler Tathergang. Ich klau dir die Tasche mit dem Laptop, du wehrst dich kurz und schreist um Hilfe. In der Zeit laufe ich dann weg.“

Jean Luc zieht weiter an der Tasche, während Lisa G. standhaft bleibt. Inzwischen hat der Täter sein Opfer schon einen halben Meter über den Bürgersteig geschleift.

„Das ist dann vielleicht hier im Wedding so, aber nicht bei uns im Prenzlauer Berg. Da kämpfen die Leute um ihr Hab und Gut und lassen sich nicht von Abschaum wie dir einschüchtern.  Ich bleibe standhaft. Laß endlich los und suche dir ein anderes Opfer. Gleich kommt ohnehin die Polizei.“

Einige der umstehenden Weddinger sind unterdessen auf die merkwürdige Szenerie aufmerksam geworden. Einige schauen interessiert, doch keiner macht irgendwelche Anstalten, die Polizei zu rufen oder tatkräftig einzugreifen. Inzwischen haben die beiden eine Wegstrecke von etwa 4 Metern zurückgelegt und rangeln immer noch um die Tasche.

„Auf die Bullen kannst du lange warten, verdammte Zicke. Die kümmern sich um so einen Kleinkram nicht. Und die Umstehenden sind alles Kollegen von mir, die gerade neidisch sind, daß ich den dicken Fisch an Land ziehe.“

„Wenn ich eine Hand frei hätte, würde ich ja die Polizei rufen. Aber dann verliere ich die Tasche. Wie lange willst du mich und meine Tasche eigentlich noch durch die Gegend schleifen? Bis nach Reinickendorf etwa?“

„Wenn es sein muß, klar. Da kenne ich übrigens eine dunkle Ecke. Da ziehe ich dir dann eins über und habe endlich diesen verdammten Laptop.“

„Du würdest mich wirklich bewußtlos schlagen, du verdammter Drecksack?“

„Nein, würde ich nicht. War gelogen. Ich kenne auch keine dunkle Ecke in Reinickendorf. Ich war da ehrlichgesagt noch nie. Jetzt gib endlich diese verdammte Tasche her. Das wird mir noch peinlich vor den Kollegen.“

„Ja, und wie dir das peinlich sein wird, daß du den Laptop nicht bekommst. Schau doch mal, wie die Leute ringsum schon schauen. Die zerreißen sich das Maul über dich. Die denken bestimmt, meine Güte, der ist nicht in der Lage einer Frau den Laptop zu klauen.“

„Halt die Schnauze, das denken die nicht. Wenn du dich vernünftig verhalten würdest, gebe es jetzt nicht dieses Dilemma. Was ist eigentlich auf dem Rechner drauf, das so um ihn kämpfst?“

„Meine Magisterarbeit und ich habe kein Backup gemacht. Ich kann dir den Laptop einfach nicht überlassen, selbst wenn ich es allmählich will.“

„Mist, dann muß ich erst die Festplatte formatieren. Da ist ne Magisterarbeit drauf, meine Fresse. Den kriege ich so nie los.“

„Nein, das wirst du nicht. Ich schlage dir einen Deal vor. Du bekommst den Laptop und schickst mir meine Magisterarbeit per Email. Wie wäre das?“

„Du willst mich reinlegen, nicht wahr? Wenn ich dir dann eine Mail schicke, hast du meine Adresse und gibst sie der Polizei, die dann meine Identität ermittelt. Hey, du sprichst und rangelst hier gerade mit Jean Luc Modeste, der läßt sich nicht übers Ohr hauen.“

„Weißt du, was mir gerade einfällt – in der Tasche ist gar kein Laptop. Da habe ich gelogen. Ich habe mir vorhin bei Woolworth einen Toaster gekauft, einen ganz billigen aus Fernost. Was habe ich mich geärgert. Einen ganz billigen Toaster, der bestimmt nicht mal ne Woche durchhält. Du willst doch sicherlich keinen so billigen Toaster klauen, oder?“

Inzwischen haben die beiden etwa 10 Meter zurückgelegt. Während Lisa G. die ersten Meter noch mitgeschleift wurde, hat sie es inzwischen geschafft, auf die Beine zu kommen. Sie traktiert Jean Luc immer wieder mit Schlägen, während die beiden um den Laptop ringen. Mit einem Mal stellt sich ein Mann in Uniform zu den beiden. Es handelt sich um den Polizeimeister Ernst-Dieter Hildebrandt, der im Wedding als Autoritätsperson geachtet wird. Hildebrandt ist dafür bekannt, dass er die gegenwärtige Rechtslage flexibel auslegt, je nachdem, wie er am besten davon profitiert.

 „Was ist hier los?“

„Dieser Scheiß Kleinkriminelle Weddinger hier hat mein Laptop klauen wollen und ich habe das erfolgreich verhindert. Nehmen sie ihn fest und sorgen sie dafür, daß er nie wieder frei kommt.“

„Ernst-Dieter, ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte. Ich gehe da so lang mit meinem Laptop, auf dem ich zuvor noch am Leopoldplatz eine wichtige Hausarbeit geschrieben hatte, damit ich endlich meinen Hauptschulabschluß nachholen kann und dann kommt diese Furie und will den Computer klauen. Wären 150 Euro okay? Ich habe wirklich alles getan, um das zu verhindern, habe mich treten und in Gespräche verwickeln lassen, nur um meinen Abschluß zu retten.“

„Sie sind verhaftet.“

„Aber das kann doch wirklich nicht wahr sein, oder? Wo bin ich denn hier gelandet? Das ist MEIN Laptop und dieser elende Dieb erzählt eine solche Scheiße. Das kann doch wirklich nicht …“

Jean Luc kann es kaum fassen, während er zusieht, wie Polizeimeister Hildebrandt Lisa G. in Handschellen abführt. Auf diese Weise hat er noch nie einen Laptop abgezogen. Ob das auch in Zukunft Erfolg haben wird? Jean Luc weiß es nicht. Er weiß nur, dass er das nächste Mal, wenn er dem Polizeimeister begegnet, Bargeld dabei haben muss, sonst geht er den gleichen Weg wie Lisa G.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

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