Geschrieben am 1. Oktober 2021 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2021

Robert Lorenz zum Mythos eines Westernhelden

Wyatt Earp: Ein Marshal im Dienste Hollywoods 

 Dreißig Sekunden, dreißig Schüsse, drei Tote: Dieser archaische Wild-West- Schlagabtausch an einer Pferdekoppel in Arizona am 26. Oktober 1881 – jetzt 140 Jahre her – ist die Grundlage für einen millionenschweren Mythos, den Hollywood über viele Jahrzehnte kommerziell auszuschlachten verstand. Und er war ja auch wie gemacht für die Leinwand. 

Die Geschichte vom Clinch der Clanton- und der Earp-Brüder im Frontier-Nest Tombstone (dt.: Grabstein), die Verwicklung von Doc Holliday – des tödlichsten Zahnarztes im Wilden Westen – und das mörderische Shootout am „O. K. Corral“ sind inzwischen fester Bestandteil der US-amerikanischen Western-Folklore, bilden eine der faszinierendsten Episoden des Alten Westens und sind nicht zuletzt deshalb vielfach verfilmt und vermarktet worden. 

Im Zentrum der Hollywoodfilme, die den Mythos Wyatt Earp an der Kinokasse im Verlauf mehrerer Jahrzehnte zu reichlich Geld machten, stand die Konfrontation zwischen der Earp-Fraktion und der „Cowboys“ genannten Clanton-Gang. Auf der einen Seite befanden sich die Brüder (und allesamt Polizisten) Wyatt, Virgil und Morgan mit ihrem Verbündeten John „Doc“ Holliday, einem tuberkulosekranken Ex- Zahnarzt und Pokerspieler. Hinter der Bezeichnung „O. K. Corral“ verbirgt sich nichts anderes als ein vermieteter Pferch (engl.: corral). Wyatt Earp indes wurde anschließend zum Synonym des beinharten Gesetzeshüters in einer nahezu gesetzlosen Gesellschaft: den im 19. Jahrhundert in den noch dünn besiedelten Territorien aus Holzplanken errichteten Ministädten. 

Und auf der anderen Seiten standen die als Viehdiebe und Postkutschenräuber berüchtigten Outlaws Ike und Billy Clanton mit ihren Verbündeten: den beiden McLaury-Brüder und Billy Claiborne. Als sich der Kugelhagel am „O.K. Corral“ in Tombstone lichtete, wurden die Leichen von Billy Clanton und der McLaurys im Schaufenster des örtlichen Bestattungsinstituts ausgestellt: „Murdered in the Streets of Tombstone“, wie ein Schild damals erklärte. Natürlich sah in diesem Gefecht irgendwann auch Hollywood idealen Filmstoff. Aber fast kein Film um Wyatt Earp, schon bald einem Inbegriff für Law and Order, gleicht dem anderen. Und dafür verantwortlich war vor allem einer: Wyatt Earp selbst. 

Zu behaupten, Amerika habe nach dem „O.K. Corral“-Vorfall den Atem angehalten, wäre wohl gewiss übertrieben. Aber die Schießerei in Tombstone – einer im letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts boomenden Stadt im Arizona Territory, umgeben von lukrativen Silberadern – zirkulierte seinerzeit in den US-amerikanischen Massenmedien. Als Wyatt Earp, Jahrgang 1848, im Januar 1929 mit knapp 81 Jahren in Los Angeles verstarb, war sie jedoch aus dem Bewusstsein der US-amerikanischen Öffentlichkeit längst verschwunden. Ein Joint Venture, dem Zufall entsprungen, sollte dies freilich bald ändern. 

Als Stuart N. Lake, Autor von Western-Geschichten, Mitte der 1920er Jahre den gealterten Wyatt Earp – einen ehemaligen Büffeljäger, Rausschmeißer, Glücksspieler, Bordellbesitzer, Polizisten und Ringrichter – kontaktierte, rannte der Schriftsteller bei dem alten Mann offene Türen ein. Denn Earp war an seinem Lebensabend – wie viele (wirkliche) Granden der Geschichte – zu dem Schluss gekommen, die historische Wahrnehmung seiner Person durch seine Lebenserinnerungen einfach selbst zu prägen. Mit seinen Memoiren, so Earps Ansinnen, würde Earp noch zu Lebzeiten das Earp’sche Andenken kontrollieren können. 

Zwei Jahre lang erzählte Earp dem aufmerksamen Zuhörer Lake seine Version der Ereignisse, in die er verstrickt gewesen war: Wie er Doc Holliday traf, in Tombstone für Ordnung sorgte, sich in einer Gerichtsverhandlung gegen infame Vorwürfe wehrte und als Preis für die Herstellung von Recht und Ordnung seinen ermordeten Bruder Morgan betrauerte. „Wyatt Earp: Frontier Marshal“, das Lake nach dem Tod des alten Westerners 1931 veröffentlichte, machte aus dem unsteten Glücksjäger, der im wirklichen Leben immer auf der Suche nach Geld und Macht wie ein Wild- West-Nomade von einer Stadt zur nächsten, vom Pokertisch zum Goldrausch gezogen war, mit einem Mal den ehrenhaften Bewahrer von Recht und Ordnung, den größten Revolverhelden des Alten Westens, der in Tombstone – dem härtesten Flecken Erde – aufgeräumt habe. Lakes Buch war eine erstaunliche Verherrlichung, die auf lange Zeit die öffentliche Wahrnehmung Wyatt Earps als Held und Vorbild prägte.

Die simple Heldengeschichte passte hervorragend in eine Zeit, in der brutale Bandenkriege die USA aufgewühlt hatten – Wyatt Earp war eine gelungene Gegenfigur zum Chicagoer Gangsterboss Al Capone. Und so ließen sich auch die Strategen der kalifornischen Traumfabrik nicht lange bitten, Lakes Bestseller auf die Leinwand zu bringen. Das erste Mal geschah dies 1934 mit „Frontier Marshal“. Aufgrund von Rechtsstreitigkeiten hieß der Protagonist damals allerdings noch Michael Wyatt (gespielt von George O’Brien) – aber natürlich wusste jeder, wer damit gemeint war. Im gleichnamigen Remake von 1939 durfte der Film-Earp (diesmal gespielt von Randolph Scott) dann auch endlich seinen richtigen Namen tragen; 1946 folgte John Fords „My Darling Clementine“ mit Henry Fonda als Earp (erstmals mit historisch korrektem Oberlippenbart); und 1957 inszenierte John Sturges mit „Gunfight at the O. K. Corral“ (und Burt Lancaster in der Hauptrolle als Wyatt Earp) einen der einträglichsten Western der 1950er Jahre, der allein durch seinen Titel und schließlich den Showdown das Gefecht im kollektiven Gedächtnis der USA als nationalen Erinnerungsort festschrieb.

In den 1990er Jahren kam es mit „Tombstone“ (1993) und „Wyatt Earp“ (1994) – mit Kurt Russell und Kevin Costner in den jeweiligen Hauptrollen – zu einem Earp-Revival im zeitgemäßen Blockbuster- Format. Aus der Reihe fällt indes James Stewart, der in John Fords „Cheyenne Autumn“ (1964) im Rahmen einer kurzen, slapstickartigen Episode ebenfalls Wyatt Earp spielte; in seiner letzten Szene starrt Earp einer kopfüber in die Kutsche gehievten Frau auf die Unterwäsche und bekundet gegenüber seinem Kumpel Doc Holliday (Arthur Kennedy), die Dame wohl doch aus Wichita zu kennen. 

Bis heute ist selbst unter eingefleischten Tombstone-Historiker:innen strittig, wie es am „O. K. Corral“ wirklich um Recht und Gesetz gestanden hat. Niemand bezweifelt, dass die „Cowboys“ ein Haufen Schurken waren, darunter Diebe und Mörder. Aber ob die Earps und Holliday sich bei dem Schusswechsel am 26. Oktober 1881 tatsächlich nur verteidigten, also ob die Clantons und McLaurys wirklich zuerst ihre Revolver zückten, ist durchaus fraglich. Einer anderen Interpretation – und damit Version der Wirklichkeit – nach hatte es Wyatt Earp auf einen Entscheidungskampf angelegt, um Ike Clanton und seine Komplizen mit einem Mal auszulöschen und sich als durchsetzungsstarker Gesetzeshüter für die im County anstehende Sheriff-Wahl zu empfehlen. 

Wyatt Earp (2.v.l.), gespielt von Burt Lancaster, gemeinsam mit seinen Brüdern Virgil und Morgan sowie Doc Holliday auf dem Weg zum OK Corral | Bildquelle: „Gunfight at the OK Corral“ (1957), Paramount, Hal B. Wallis & Joseph H. Hazen

Die unterschiedlichen Sichtweisen schlugen sich auch in den Hollywood-Adaptionen nieder. Bis in die 1960er Jahre wurden beide Seiten sehr linear als good oder bad guys porträtiert. Earp und Holliday bildeten ein kongeniales Duo (bis hin zur unausgesprochenen Männerliebe wie bei Burt Lancaster und Kirk Douglas in „Gunfight at the O. K. Corral“), das dem ruchlosen Clanton und seinen Schergen endlich Einhalt gebietet. Im 1939er „Frontier Marshal“ nahm es Randolph Scotts Earp-Version sogar noch ganz allein mit einem halben Dutzend Banditen auf. In dem etwas mehr als zweiminütigen Gut-gegen-Böse-Finale bemüht sich Earp um eine friedliche Lösung, während ihm seine Feinde unablässig als hinterlistige Provokateure begegnen. 

Auch ein paar Jahre später, in John Fords „My Darling Clementine“ (1946), der beinahe wieder „Frontier Marshal“ geheißen hätte, ist Earp – verstärkt durch die tugendhafte Ausstrahlung eines Henry Fonda – eine regelrechte Inkarnation von resolutem Anstand und sind die Rollen eindeutig verteilt: Vor der Kulisse des in der Wild-West-Kinematografie so ikonisch gewordenen Monument Valley muss sich Earp gegen heimtückische Killer behaupten. Am Ende dieses Kinobesuchs lagen damals sämtliche Clantons tot im Staub und die Zuschauer:innen nahmen die Earps als wehrhafte Opfer der niederträchtigen Clanton-Gewalt mit nach Hause. 

John Sturges’ „Gunfight at the O. K. Corral“ von 1957 war nicht nur einer der kommerziell erfolgreichsten Western der Filmgeschichte, sondern zementierte obendrein den Earp-Mythos. Burt Lancaster verlieh Earp darin die Aura des unbestechlichen Gesetzeshüters, der eine aufstrebende Frontier-Gemeinschaft vor ruchlosen Banditen beschützte. Ihren Stolz würden sie über das Gesetz stellen, wirft ihnen zwar eine der Earp-Frauen vor; eine persönliche Angelegenheit sei die Konfrontation mit den Clantons, sagen sie selbst. Trotzdem: Die Earps mögen hier Sturköpfe sein, die zu keinem noch so hohen Preis einem Konflikt aus dem Weg gehen; doch am Ende sind sie die mutigen Troubleshooter, fern von jeglicher Absicht zur Selbstbereicherung, die zum Nutzen aller Stadtbewohner:innen üble Halunken aus dem Weg räumen. Das Gefecht, das laut Earp selbst lediglich eine halbe Minute gedauert habe, wird hier leinwandtauglich zu einem mehr als sieben Minuten langen Stellungskampf aufgebauscht. Und den ersten Schuss geben die Clantons aus dem Hinterhalt ab. Überlebende gibt es außer den Earps und Holliday keine. 

Ausgerechnet Sturges selbst trug jedoch erste Zweifel an der Earp-Legende in die Kinosäle, als er zehn Jahre später, 1967, in „Hour of the Gun“ James Garner als Wyatt Earp auf eine Wüstenvendetta schickte, die in ihrer unerbittlichen Selbstjustiz selbst dem abgebrühten Doc Holliday (Jason Robards) das Entsetzen in die Augen treibt. 

Die provokanteste Earp-Kritik formulierte indes nochmals einige Jahre später das nonkonformistische New Hollywood-Kino. „‚Doc‘“ aus dem Jahr 1971 taucht seine Figuren in reichlich Zwielicht. Was in „Gunfight at the O. K. Corral“ noch ein halbwegs gleichrangiges Feuergefecht gewesen war, kommt in „‚Doc‘“ als arglistige Exekution daher: Während Ike Clanton im Angesicht der dickläufigen Shotguns der Earps verängstigt herumdruckst und vorgibt, bloß reden zu wollen, eröffnet Wyatt Earp (Harris Yulin) kurzerhand das Feuer, woraufhin Clanton und dessen Kumpane von den Lawmen quasi hingerichtet werden. Der Macho-Halunke Clanton ist dadurch mehr Opfer als Täter, Earp dagegen zum egoistischen Geschäftsmann verkommen, der die Stadt mit ihrem Silberminenreichtum am Pokertisch ausnehmen will. So ist Hollywood: Zuerst verdiente man kräftig an der Mythenbildung, dann am Denkmalsturz. 

Das vielleicht radikalste Porträt der Earps und Holliday stammt jedoch aus einer TV- Serie. Das Sci-Fi-Abenteuer „Star Trek“ griff den Tombstone-Vorfall 1966 in der Episode „Spectre of the Gun“ auf. Darin werden Captain Kirk und Konsorten von den Melkotianern in ein Szenario gesteckt, in dem – ohne das Wissen der „Enterprise“-Crew – ihre Friedfertigkeit einem Test unterzogen wird. Unversehens finden sich Kirk, Spock, Scotty, Chekov und McCoy in den Körpern der „Cowboys“ wieder. Obwohl sie unablässig ihr Interesse an einer friedlichen Lösung des Konflikts bekunden und auf Deeskalation setzen, setzen die Earps ein Duell an und verkünden mit finsterer Miene, jeden einzelnen zu erschießen – egal ob jemand eine Waffe ziehe. 

Der Mythos des Wyatt Earp und der Ereignisse am „O. K. Corral“ spült seit den 1930er Jahren verlässlich Millionen von Dollar in die Kassen von Hollywood. Und wie so oft bei Mythen überdeckt der Mythos die realen Ereignisse unter der Oberfläche einer Fiktion, die sich aus verzerrtem und unvollständigem Wissen speist. An der Mythenbildung des Wyatt Earp wirkte Hollywood jedenfalls jahrzehntelang kräftig mit – ganz nach dem Motto „Give or take a lie or two“, mit dem James Garners zweiter Wyatt Earp in „Sunset“ (1988) seine Anekdoten versieht, die er in den Zwanzigern als technischer Berater am Set eines Hollywoodwestern kredenzt – „part fact and just enough fiction to sell newspapers“. In der wilden Mischung aus künstlerischer Freiheit, fluidem historischen Wissen und den mutmaßlichen Ansprüchen des Publikums offenbart sich am Umgang mit dem Mythos Wyatt Earp/„O.K. Corral“ die Interpretationsmacht des Kinos. 

Robert Lorenz, Dr. disc. pol., geb. 1983, ist Politikwissenschaftler und Lektor. Für seine Dissertation „Protest der Physiker. Die ‚Göttinger Erklärung‘ von 1957“ erhielt er 2011 den Förderpreis »Opus Primum« der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres; 2020 war er für den „Siegfried Kracauer Preis“ in der Kategorie „Beste Filmkritik“ nominiert. Er hat mehrere politologische Fachbücher veröffentlicht und betreibt die Website www.filmkuratorium.de.
Sein Buch „Traumafabrik. Hollywood im Film“ ist in diesem Sommer erschienen. Ein Kapitel daraus bei uns als Textauszug hier.

Zum Ereignis gibt es eine kleine Monographie: Reinhard Marheinke & Peter L. Stadlbaur: Schiesserei am O.K. Corral. Fakten – Hintergründe – Waffen, in dieser Ausgabe in non fiction, kurz besprochen.

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