Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023

Porträt Isabelle Huppert (2)

Von Eichhörnchen und Autobahnen …

Weiß wie Schnee

Ist das ein Krimi? Eine Märchen-Adaption? Eine Erotik-Komödie? Also, in diesem Film sterben: eine brillante französische Schauspielerin, eine zweitklassige Auftragskillerin und ein unschuldiges Eichhörnchen. 

Handlung, frei nach dem bekannten Märchen: Maud (I. Huppert), eine Hotelbesitzerin/-managerin (?), von Eifersucht zerfressen, versucht, Claire, ihre wunderschöne Stieftochter, ein Dienstmädchen, nun ja, aus ihrer Beziehungsgestaltung zu entfernen. Überall verteilt der Film ikonographisch märchenhafte Motive mit Grimm: in die Handlung eingelagert, oft aber auch nur als Dekoration und Variation. Eine von der bösen, bösen Stiefmutter angeheuerte Auftragskillerin entführt Claire, will sie im Wald töten, wird dabei aber selbst von einem Jäger erschossen. Auftritt ‚Zwerg‘ Nr. 1. Der hat einen Zwillingsbruder: Nr. 2. Sie leben mit einem Cellisten (Nr. 3) zusammen, der regelmäßig mit seinem Hund „Tschernobyl“ zu einem Tierarzt (Nr. 4) gehen muss. Da geht voll die Projektion von Mensch auf Hund ab. Dann noch ein unaufdringlich aufdringlicher Buchhändler (Nr. 5), sein Karate treibender Sohn (Nr. 6) und ein motorradfahrender Priester (Nr. 7). Claire entfaltet eine Wirkung als Erlöserin und Therapeutin: sie befreit von sexueller Verklemmung, schenkt Annahme und Verständnis. Und sie wird zufällig oder absichtlich immer wieder von ihren Männern/Zwergen gerettet, weil sie nicht zu sehen vermag, was ihre Stiefmutter plant. Claire entdeckt sich und ihre Leidenschaften; sie fängt wieder an, Violine zu spielen (das hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter aufgeben). Einfach „kosmisch“, wenn sie den Cellisten zu Bachs Präludium aus der 1. Cello-Suite begleitet. Da setzt der Film aus und schwebt auf einer anderen Umlaufbahn. Wenn diese Musik beginnt, sind zuerst abendliche Berggipfel zu sehen, dann die zwei Musizierenden – das ist ihre Art, sich zu vereinigen. Ein Hauch von Pathos und  Kosmos.  

Huppert dagegen dämonisch, unaufhaltsam, kontrollbesessen. Doch dann schlägt der Zufall zurück: Als sie bei einer Autofahrt Claire in ein Tal stürzen will – der Film spielt in einem Bergdorf –, kommen zufällig Motorrad und Priester vorbei. Weiter, bei einem Picknick soll Claire endlich einen vergifteten Apfel verspeisen. Ein Streit eskaliert, der Apfel wird weggeworfen, ein Eichhörnchen, daran knabbernd, kippt tot um. Dann, bei einer Party ein vergiftetes Weinglas, das Maud aber zufällig aus der Hand geschlagen wird. Und schon folgt der nächste vergiftete Drink. Jetzt, ein gespenstischer Totentanz, den nun beide aufführen. Maud bringt Claire, die zusehends kollabiert, nach Hause; doch während der Fahrt wirft sie ihre Stieftochter aus dem Auto, einen Hang hinab. Dann, in einer Kirche kniet Maud vor einer Marienstatue, zündet eine Kerze an; doch zufällig fängt ihr Umhang Feuer, sie geht rasend schnell in Flammen auf. Gottes Strafe? Claire erwacht in einem Krankenhaus, zärtlich berührt, zärtlich geküsst von ihren sieben Männern/Zwergen. 

Und wie der Pfarrer Claire mahnend erklärt, der Teufel komme in anderen Masken. Geradezu exzessiv oft schminkt sich Huppert in diesem Film mit Lippenstift. Und viel Erotik: Sex im Freien, dann aus Versehen Sex mit dem Zwillingsbruder (die klassische Verwechselungskomödie; im Hintergrund läuft im Fernsehen ein schräger Samurai-Film), Sex im regenassen Wald und auch in einem Auto. Dabei schaut erst ein Eichhörnchen zu, dann drei (Spanner?). Und dann, wie erwähnt, wurde noch ein gewisses Eichhörnchen beim Picknick mit in diese Eifersuchtstragödie hineingezogen. Alle werden es wissen, nur Schneewittchen nicht: dieser Apfel und diese Stiefmutter sind absolut toxisch.

DVD: Weiß wie Schnee © TIBERIUS FILM 2020, München

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Ungewöhnlich das Szenario – anfänglich wie der Aufbau eines Experiments: eine fünfköpfige Familie lebt an einer stillgelegten Autobahn. Hat ihre Rhythmen und Riten, ihre Freiheit und eine kleine Idylle. Lieber, ruppiger, unkomplizierter Umgang miteinander. Charmante Utopie. Das Bad als familiäre Kommandozentrale, der zu bauende Pool als ewiges Projekt und Sehnsuchtsort, die sich ständig sonnenbadende Tochter. Alles gut. Bis die Autobahn geöffnet wird. Lärm und Müll brechen über die Familie herein. Das Überqueren der Straße, wenn sie ihr Haus erreichen wollen, erweist sich nun als hochgefährlich. Irgendetwas kommt auf sie zu, bricht herein, was kaum abzuwenden scheint. Die technisierte, beschleunigte, instrumentelle usw. Moderne mit ihrem Müll und Lärm. Und natürlich Stress im Stau, mit dem Stau.

Der Vater will daher ausziehen, die Mutter nicht, dreht wie wild durch. Die einzigen Szenen, in denen Huppert aggressiv und exzentrisch agiert – und so deutlich macht, wer das wirkliche Zentrum ist. Sie bleiben. Mauern sich buchstäblich ein, um sich von dem Anderen, Bedrohlichen abzuschotten. Bis kein Lärm mehr in die Wohnungen dringen kann, aber auch keine Luft mehr. Die älteste Tochter hat schon längst die Familie resigniert verlassen, kommt aber später via Autobahn noch einmal zurück – ungesehen, denn sie kann ja gar nicht mehr in das Haus gehen, zu ihrer Familie, weil alles zugemauert. Doch die Wohnung versinkt langsam in Verstummen, Schlaf und Müll. Am Ende, kurz vor dem physischen Aus, zerschlägt die Mutter eine Wand: Befreiung durch Luft und Licht.

Sie hat ihre Weigerung, Veränderung zu akzeptieren, aufgegeben: andernfalls würde sie ihre Familie vernichten. Die Beinahe-Zerstörung dieser Gemeinschaft durch eine zwanghaft eingeforderte Wiederkehr des Alltäglichen und Immer-Gleichen wird geradezu lebensbedrohlich durch ein ungeahnte, abrupte Transformation des Gewohnten, die eine destruktive Dynamik nach Innen und im Innern auslöst. So entsteht eine seltsame Mischung aus Liebe, Verteidigung, Verlustangst, Hilflosigkeit, Absurdität, Sich-Einmauern und Sich-Befreien. Die Jugendlichen spielen phantastisch. Huppert in ihrer Rolle nicht übergroß, sondern ein Teil jener Familie, die ihr alles bedeutet – bis an die Grenze. Krach, Müll, Stau, gestresste Menschen: ein nachdenklicher Film über das, was Verkehr mit unserer Seelenlandschaft machen kann. Und über Verdrängung und eben jene Verweigerung, Veränderung zu gestalten. 

Irgendwann war die älteste Tochter weg, niemand suchte sie. Unheimlich. Und wie der kleine Junge am Anfang mit seinem Fahrrad über die geradezu postapokalyptisch leere Autobahn düst: Relikte aus der Welt ferner Menschen, die nun dem Genuss von Freiheit dienen. Mir ist klar geworden, wie Autobahnen von Automobilen schlichtweg verstellt werden. (J)

DVD: Home © 2009 Arsenal Film Verleih GmbH

Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Essays und Gedichte bei uns hier.

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