Geschrieben am 1. November 2021 von für Crimemag, CrimeMag November 2021

non fiction: kurz – November ’21

Sonja Hartl (SH), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW) über:

Hannes Bahrmann: Rattennest. Argentinien und die Nazis
Stig Dagerman: Deutscher Herbst
Uki Goñi: Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher
Elizabeth Hinton: Ameria on Fire. Rassismus, Polizeigewalt und die Schwarze Rebellion seit den 1960ern
Margaret MacMillan: Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten
Mittelweg 36: „Verbrechen der Wehrmacht“ Anmerkungen zu einer Ausstellung
Sujit Sivasundaram: Waves Across the South. A New History of Revolution and Empire

Was wir wissen müssen …

(TW) Krieg ist furchtbar, Krieg ist keinesfalls wünschenswert. Aber es gibt Krieg, schon immer, und wenig spricht dafür, dass es in Zukunft keinen Krieg mehr geben wird. Krieg und Menschheit, das scheint sich nicht entkoppeln zu lassen. Insofern ist es nur vernünftig, sich damit zu befassen, was man „Krieg“ nennt. Um ihn zu verstehen, und damit mehr über die Menschen zu verstehen, und ja, um herauszufinden, wie man ihn womöglich eindämmen könnte, wenn man ihn schon nicht vollkommen abschaffen kann. Die gefühlige Position: Ich-bin-gegen-Krieg und mehr muss und will ich nicht wissen ist vermutlich nicht sehr hilfreich.  Krieg verändert Gesellschaften, manchmal zum Guten, meistens nicht unbedingt. Manchmal entspringt gesellschaftlicher Fortschritt dem Krieg, manchmal bombt der Krieg Gesellschaften in die Barbarei zurück. Wie man´s dreht und wendet: Man kommt an Krieg nicht vorbei. Wobei wir alle wissen, was Krieg ist, auch wenn es sehr unterschiedliche Typen von Krieg gibt. Rabulistische Auseinandersetzungen, was den nun „Krieg“ sei und was nur ein „bewaffneter Konflikt“ sind meistens politisch-ideologische Zweckargumentationen. Und „Krieg“ als dahergeplapperte Metapher für irgendwelche öffentlichen Auseinandersetzungen in irgendwelchen Medien ist ziemlich frivol.  

Über Krieg gibt es also sehr viel zu wissen.  Und wer zum Beispiel nie etwas von Thukydides gehört hat oder von Clausewitz, nie ein Buch von John Keegan gelesen hat und wem der von Bruno Cabanes et al herausgegebene Band „Eine Geschichte des Krieges“ zu fachspezifisch ist (CrimeMag dazu hier), der kann sich bei der kanadischen Historikerin Margaret MacMillan und ihrem Buch Krieg. Wie die Konflikte die Menschheit prägen kundig machen. Ihr gelingt es, auf nur 381 Seiten (angesichts der Komplexität des Gegenstandes bewundernswert knapp) so ziemlich alle relevanten Themen leicht verständlich aufzuarbeiten. Mit unzähligen Beispielen, quer und längs durch die Geschichte der Menschheit, und immer mit dem Bewusstsein für die Janusköpfigkeit von „Krieg“.  Und immer mit dem Bewusstsein für die verschiedenen Funktionen und Vermittlungsebenen, die Narrative vom Krieg grundsätzlich immer haben – politische, ideologische, ästhetische. Deswegen sind auch historische Diskurse über den Krieg immer Verständigungsdiskurse über die Rolle von Krieg im Hier und Heute – Auge in Auge mit der Bestie. 

Ein brillantes Kompendium, wenn’s nach mir ginge obligatorische Schulllektüre.

Margaret MacMillan: Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten. (War, 2020). Dt. von Klaus-Dieter Schmidt. Propyläen, Berlin 2021. 381 Seiten, 30 Euro.

Kontinuität der Gewalt

(SH) In den Jahren 1964 bis 1972 kam es in den USA zu einer Hochphase der Gewalt: rund 960 segregierte Schwarze Communitys erlebten in diesen Jahren nicht weniger als 1951 einzelne Aufstände, „Krawalle“ genannt, im Englischen „riots“. Die meisten fanden in mittelgroßen und kleineren Städten statt, die damals von Journalist*innen und im Folgenden von Wissenschaftler*innen zumeist übersehen wurden. Nun zeigt Elizabeth Hinton in ihrem eindrucksvollen und wichtigen Buch America on Fire die zentrale Rolle der gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Geschichte der USA.

Überzeugend plädiert sie dafür, diese vermeintlichen „Krawalle“ („riots“) als „Rebellionen“ zu bezeichnen – um zu erkennen, was sie tatsächlich sind: „eine dauerhafte Aufruhr“, Reaktionen auf ein System, dem ungleiche Lebensbedingungen und anhaltende Gewalt gegen Schwarze immanent sind. Mit sorgsamer Recherche zeichnet sie nach, dass die Rebellionen dieser Jahre ähnliche Auslöser hatten: die Polizei griff in alltägliche Aktivitäten von Schwarzen ein. Daraufhin regte sich Widerstand, der wiederum zu mehr Gewalt führte – ein Muster, das auch heute noch oft genug zu beobachten ist. Ohnehin verdeutlicht Hinton die Kontinuität der Gewalt gegen Schwarze. Unter dem Banner des „War on crime“ wurde die Polizei systematisch und landesweit aufgerüstet, routinemäßige Personenkontrollen („stop and frisk) in Stadtvierteln, die insbesondere von Schwarzen bewohnt werden, haben zugenommen ebenso die Präsenz von bewaffneten und uniformierten Polizisten in Schulen. Damit sollte die Gewalt eingedämmt werden. Tatsächlich aber führt es zu mehr Gewalt – und steht auch ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen von Studien. Seit den 1960er Jahren sagen auch von der Regierung eingesetzte Kommissionen, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen durch Benachteiligung entstehen und durch Unterstützung verschwinden. Dennoch setzen Politiker auf Militarisierung der Polizei, Masseninhaftierung und Kriminalisierung der nicht-weißen Bevölkerung. 

Hintons Buch verdeutlich die Kontinuität der Gewalt gegen Schwarze und ist ein wichtiges sowie deprimierendes Zeugnis des bis in die Gegenwart fortgesetzten Versagens von Justiz und Politik. Es macht zudem sehr klar, dass es erst #BlackLivesMatter gelungen ist, mehr weiße Menschen zum Protest zu bewegen, weil sie aufgrund der Verbreitung von Kameras – von Bildbeweisen – nun sehen, was Schwarze Menschen in den USA ausgesetzt sind, und es glauben. Weiterhin notwendig aber ist ein struktureller Wandel. Denn dieses unverzichtbare Buch über Rebellionen in den USA macht noch einmal deutlich, wie tief verwurzelt der systemische Rassismus ist.

Elizabeth Hinton: America on Fire. Rassismus, Polizeigewalt und die Schwarze Rebellion seit den 1960ern (America on Fire – The Untold History of Police Violence and Black Rebellion since the 1960s, 2021). Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Werner Roller. Blessing 2021. 496 Seiten, 20 s/w-Abb., 26 Euro. 

Verbrechen der Wehrmacht

(AM) „Es wird niemals jemand wieder so über die Wehrmacht sprechen, wie das vor 1995 der Fall gewesen ist“, sagte Jan Philipp Reemtsma damals 2004 im Verlauf der Debatte um die von seinem Institut kuratierte Wehrmachtsaustellung, die hohe, ja höchste Wellen schlug. In Reflektion auf eben diese hochgeschäumten Emotionen kam es im November 2001 zu einer zweiten Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“. Die erste hatte den Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ getragen. Es war nicht nur ein semantischer Unterschied.

Das – und viel mehr – arbeitet die Oktober-Nummer Anmerkungen zu einer Ausstellung von Mittelweg 36 auf, der von uns geschätzten Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Ulrike Jureit, die Sprecherin des zweiten Ausstellungsteams, berichtet darin von den wissenschaftlichen und didaktischen Herausforderungen der neukonzipierten Ausstellung und widerspricht dem Vorwurf, die Kritik an der Wehrmacht entschärft zu haben: „Das Bild fiel noch düsterer aus.“ Ulrich Herbert sieht sogar so etwas wie „eine Art vergangenheitspolitischer Endkampf“. – Fest steht, diese Ausstellung hat nicht nur Geschichte geschrieben. Sie ist Geschichte geworden, hat den Blick auf (unsere) Geschichte verändert. Dem gehen insgesamt acht sehr differenzierte Beiträge nach. Gehört im Regal neben den Ausstellungskatalog, der soeben in der dritten Auflage erschienen und erstmals auch als E-Book erhältlich ist.

Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Schwerpunkt: „Verbrechen der Wehrmacht“ Anmerkungen zu einer Ausstellung. 30. Jahrgang, Heft 5-6, Oktober 2021. 180 Seiten, Broschur, 22 Euro. Verlagsinformationen.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.):Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. Katalog zur Ausstellung, dritte Auflage. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2021. Hardcover, 765 Seiten, 961 Abbildungen, 46 Karten, farbig, Großformat, 30 Euro.

Wichtige Studie

(TW) Vergessen Sie mal schnell Frederick Forsyths „Akte Odessa“. Dieser Roman hatte zwar mythenbildende Wirkung, aber er ist eben ein Stück Fiktion, mehr nicht. Letztes Jahr erschien dazu die Wiederauflage des Standardwerks zum Thema, Uki Goñis „Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher“, das entscheidende Teile des Mythos begradigte (Besprechung hier im Anschluss). Jetzt hat Hannes Bahrmann mit Rattennest nachgelegt und belegt, dass „ODESSA nicht existierte“ und dass „Argentinien nicht zufällig ein Fluchtort war, den die Nazis sich ausgesucht hätten. Umgekehrt: Argentinien holte sich die Nazis aus eigenem Interesse ins Land“.  Bahrmann zeigt mit stupender Sachkenntnis auf, was das alles mit Peróns Großmachtphantasien zu tun hatte (dieser ganze Evita-Kitsch wird dann noch kotzwürdiger), und wie tief Rassismus und Antisemitismus in der argentinischen Gesellschaft verankert waren, eine Gesellschaft, der es schon früh gelungen war, ihre indigene Bevölkerung fast vollständig auszurotten.  Zudem gab es immer schon eine Zuneigung zum deutschen Militarismus, schon lange vor dem Ersten Weltkrieg und besonders während der Weimarer Republik. Das argentinische Militär schätze deutsche Ausbilder und deutsche Waffen (der Wehrmachtsstahlhelm war lange noch in Gebrauch) – ich würde gerne mal eine Spezialstudie über den Exportartikel „deutsches Militär“ so seit dem 18. Jahrhundert lesen, Stichworte USA, England, Rußland, Türkei et al.

Zudem war Perón glühender Fan des italienischen Faschismus und stets bemüht, eine „argentinische Rasse“ (weiß, natürlich) zu befördern. Aber auch das hatte schon weit vor Perón angefangen. Besonders tricky war dabei, dass Argentinien und in Sonderheit Buenos Aires ein Zentrum der jüdischen Exilanten war, auch wenn diese nicht begeistert aufgenommen wurden.  Zudem war Perón auch eine Art Technokrat. Um aus Argentinien die Hegemonialmacht Lateinamerikas zu machen, war ihm jede Art von technologischem Knowhow recht, auch wenn er sich hin und wieder von alten Nazis über den Tisch ziehen ließ. Kriegsverbrechen waren dann lässliche Sünden. (Fallen uns da Parallelen zu Merle Krögers Roman „Die Experten“ über das Wirken von Nazi-Technikern in Nassers Ägypten auf?)

„Rattennest“ ist auf jeden Fall eine wichtige Studie, nicht nur weil sie Skepsis gegenüber Populären Mythen lehrt. Geschichte in Romane zu verpacken, ist immer eine äußert gewagte Angelegenheit.

Hannes Bahrmann: Rattennest. Argentinien und die Nazis. Chr. Links Verlag, Berlin 2021. 270 Seiten, 20 Euro.

Down under, umgedreht

(AM) Sujit Sivasundaram, der aus Sri Lanka stammt, ist Professor für Weltgeschichte und lehrt in Cambridge. Sein Grundlagenwerk Waves Across the South. A New History of Revolution and Empire, mit dem 25.000 englische Pfund schweren „British Academy Book Prize for Global Cultural Understanding“ ausgezeichnet,  stellt die Welt im buchstäblichen Sinne tatsächlich auf den Kopf, schaut nämlich auf den westlichen Imperialismus und Kolonialismus vom Südosten her, vom Arabischen Meer, dem Indischen Ozean, der Südsee, dem Pazifik, der Tasmanischen See. Nur wenn wir vom Wasser aus auf die Welt schauen, können wir verstehen, wo wir heute sind, meint Sivasundaram.
Dieser Perspektivwechsel wirft ein aufregend anderes Licht auf das, was wir als unsere Fortschrittsgeschichte, ja auch als unsere Aufklärung kennen, und was wir bis heute – siehe Afghanistan – als gewissermaßen selbstverständlichen Missionierungsauftrag in uns tragen. Die indigenen und nicht-europäischen Be- und Anwohner des Indischen und Pazifischen Ozeans haben hier etwas anderes zu erzählen. Tolles Buch, jetzt in einer Taschenbuchausgabe zu haben. Komplementär dazu: David Abulafias monumentales Werk „The Boundless Sea“, gerade bei S. Fischer als Das unendliche Meer – Die große Weltgeschichte der Ozeane auf Deutsch erschienen.

Sujit Sivasundaram: Waves Across the South. A New History of Revolution and Empire. HarperCollins, London 2021 (US-Ausgabe: University of Chicago Press). Taschenbuch, 496 Seiten, 65 Abbildungen, GBP 9,99.

Lange Kontinuität

(TW) Alte Nazis und ihr Treiben nach dem 2. Weltkrieg: Die Assoziation A hat Uki Goñis Standardwerk Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher von 2002 neu aufgelegt. Goñi schreibt aus der argentinischen Perspektive, aber das ist auch für uns sehr sinnvoll, sieht man doch noch deutlicher wie feingesponnen dieses Netzwerk aus Politik, katholischer Kirche und Ideologen gesponnen war und wie tief der Antisemitismus auch in Südamerika verwurzelt war, lange vor der NS-Zeit. Auf jeden Fall ein wichtiges Buch, gerade in unseren Tagen, wenn man tatsächlich verwundert zu sein vorgibt, dass es sowas wie offene Bekenntnisse zum Nationalsozialismus wieder gibt. Sie waren nie weg, ODESSA ist nur ein Baustein einer langen Kontinuität. Und die sollte man kennen.

Uki Goñi: Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Aus dem Englischen von Theo Bruns und Stefanie Graefe. Assoziation  A, Berlin 2020 (1. Aufl. 2001). 400 Seiten, Paperback, 22 Euro.

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