Es hat mich – und nicht nur mich – unvorbereitet getroffen: Anne Goldmann ist am 11. Oktober 2021 gestorben. 59 Jahre alt ist sie geworden, wenige Tage zuvor gab es noch die Nachricht, dass sie für ihren Roman „Alle kleine Tiere“ den Leo-Perutz-Preis bekommen hat.
„Als Schriftstellerin hat sie uns verzaubert mit ihrer Kunst, hochspannend von widersprüchlichen, versehrten, strampelnden Menschen zu erzählen und deren Ängste, ihr alltägliches Ringen ungeschönt und doch zärtlich in soghafte, unter die Haut gehende Prosa zu verwandeln“, schreibt Else Laudan auf der Homepage von Argument Ariadne, der Verlag, in dem Anne Goldmanns fünf Kriminalromane erschienen sind. Tatsächlich sind es vor allem ihre Figuren, die ich nicht vergessen habe oder vergessen werde. Noch heute sehe ich sie vor mir, wie ich sie damals beim Lesen in meinem Kopf gesehen habe. Es sind widerständige Frauen, auf das Wort „komplex“ tatsächlich mal zutrifft. Sie sind bewundernswert, stark und mutig, sie nerven, sind anstrengend und schwach. Sie suchen Beständigkeit, ohne sich festlegen zu wollen. Sie fürchten sich vor Anonymität und Einsamkeit, können aber keine Bindungen eingehen. Sie sind geformt von dem Leben, das sie bisher hatten.
Meistens war ich mir nicht sicher, inwieweit man ihnen trauen kann, gerade wenn sie selbst erzählten. Aber das war kein Trick – diese Figuren wussten oft selbst nicht, ob sie sich trauen können. Lena in „Lichtschacht“ zum Beispiel, raucht gerade einen Joint, als sie beobachtet – oder zu beobachten glaubt – wie von dem gegenüberlegenden Dach eine Frau fällt, vielleicht sogar gestoßen wurde. Lena hält nun kein gebrochenes Bein von den Nachforschungen ab, sondern ihre Selbstzweifel und Unsicherheiten. In „Das größere Verbrechen“ ist es die Last der Erinnerung und der Schuld, mit denen sich Selma Sudić und Theres Rössler herumschlagen, es ist die Vergangenheit, die sie nicht loslässt. Die eine würde gerne vergessen, was sie getan hat und was ihr widerfahren ist; die andere weigert sich anzuerkennen, dass sie etwas getan hat. Und auf Ela aus Anne Goldmanns letzten Roman „Alle kleinen Tiere“ trifft das alles zu – und noch mehr: sie glaubt, ein Mann will sie ermorden, aber kann man ihrer Wahrnehmung trauen? In diesem Roman ist kaum jemand der, der er vorgibt zu sein oder zu sein glaubt. Aber vielleicht sind wir das alle nicht. Denn die Wahrheit über eine Person, davon erzählt Anne Goldmann immer wieder so eindrucksvoll, hängt nicht nur vom Betrachter oder der Person selbst ab. Es kann über dieselbe Person auch mehrere Wahrheiten geben.
Anne Goldmann hat in ihren Kriminalromanen gezeigt, welches Potential diese Unsicherheiten haben, die gerade Frauen so oft zugeschrieben werden, dass sie die meisten von uns verinnerlicht haben. Sie nutzt diese Eigenschaft, ohne die Figur zu verraten, ohne sie zum Plot-Element, zum bloßen Instrument werden zu lassen, ohne ihr ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen. Manchmal habe ich mir in ihren Romanen eine größere Härte gewünscht, gerade zum Ende hin die allerletzte bittere Konsequenz, die letzte große Leerstelle. Aber ich glaube, so war Anne Goldmann einfach nicht. Die Sätze, die die Autorinnen aus dem Netzwerk Herland über sie schreiben und sie weitaus besser kannten als ich, deuten in diese Richtung.
Getroffen habe ich sie nur einmal: Auf der Toilette im Bürgerhaus Stollwerck bei Krimis machen 4. Ich wartete auf eine freie Kabine, sie auch. Ich schielte auf ihr Namensschild und dachte nur, ich kann doch jetzt nichts sagen, nicht so, auf der Toilette. Also lächelte ich nur, sie lächelte zurück und wir warteten. Direkt nach dem wir die Toilette verlassen hatten, kam sie auf mich zu und sagte, sie wolle sich gerne mal vorstellen, gerade hätte sie das nicht machen wollen, denn auf der Toilette sei das irgendwie ein bisschen komisch … und wir redeten miteinander.
Ich hätte gerne häufiger mit ihr geredet, noch mehr von ihr gelesen, noch mehr Menschen auf sie aufmerksam gemacht. Denn Anne Goldmann war eine der besten Autorinnen des psychologischen Spannungsromans, die wir hierzulande haben. Nein, hatten.