Erotik der Rhetorik, Rhetorik der Erotik
Überlegungen zu „Berlin Heat. Thriller“ von Johannes Groschupf

Berlin. Heißer Sommer. Liebesakt auf einem Baukran. Danach: „Über uns wölbt sich der Himmel. ‚Überraschend intensiv‘, sagt Marla, als sie ihre Shorts wieder anzieht, ein Fenster aufschiebt und das Gummi rauswirft, und ich bin noch weit weg, irgendwo ganz weit draußen. Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast. Wann habe ich eigentlich angefangen, an Gott zu glauben? ‚Alter‘, sagt Marla, ‚komm mal wieder runter auf den Teppich hier.‘ Sie zieht ihr Shirt an, gibt mir meine Hose …“[1]
Ein Baukran in Berlin, hoch über der heißen Stadt, ein Wolken-Kratzer, Ort einer Heiligen Hochzeit,[2] nicht auf dem Berg oder in einem Tempel, nein, in einem Denkmal der Technik und Industrialisierung, banal, oder? Und das Gummi segelt melodramatisch nach unten. Und dann – jetzt wird es romantisch J – eine hypothetische Periode ohne Nachsatz. Und ohne Ansage, ohne Vorwarnung, ohne Markierung durch Anführungszeichen: ein Zitat aus Psalm 8. Ein auswendig gelerntes Gebet? Der Anfang davon. Ein Schöpfungshymnus. Die semantische Überleitung verläuft über „ganz weit draußen“ nach „Himmel“. Und wer ist „deiner“ in dieser Apostrophe, wer ist auf einmal „du“? Erst die metareflexive Frage Toms nach dem eigenen Glauben vollendet das offene Konditionalgefüge: nach dem Muster Zitat aus der Tradition – Folgen für die eigene Biographie. Wer spricht? Als ob Tom sich selbst mit seiner eigenen Stimme in die Stimmen der Psalmentradition einschreiben würde.[3] Er wird für einen Nebensatz lang zu einem anderen, fernen Ich. Durch Sex zum Gottesbeweis?
Marla merkt, dass Tom für einen Moment diesen Planeten verlassen hat. Shirt und Hose: Adam und Eva verlassen wieder angezogen das Paradies. Steigen herab in die Niederungen und Wirrungen ihres Alltags. Marla holt Tom ziemlich gnadenlos auf den Teppich: „‘[…] Ich lege mich noch vor die Cam, ein bisschen Geld verdienen. Heute ist Freitag, da sind viele Männer einsam.‘“[4] Mediale Kompensation, mediale Dissoziation nach der unio mystica. Und Tom, getrieben von seinen Schulden und verstrickt in eine Entführung, die ein Politiker inszeniert hat, um in der Wählergunst zu steigen, wird später die brutale Erfahrung machen müssen, dass Sex nicht immer nur nett ist, sondern auch ein Instrument der Demütigung sein kann.
Später, Auftritt Polizistin. Romina ist blanker Rock’n Roll und eine Figur, die Venus und einen rhetorischen Terminator in sich vereinigt. Tom hat vom ersten Augenblick ihrer Begegnung keine Chance. Null. „Romina folgt mir, ihre flinke Zunge in meinem Mund, an meiner Zunge, sie setzt sich auf mich, und mit einigen wohligen Verrenkungen finden wird zusammen. Herr im Himmel,[5] du bist groß, und ich lobe deine Werke. In Hoheit und Pracht bist du gekleidet, Licht ist dein Kleid, das du anhast, du breitest den Himmel aus wie ein Zelt. ‚Du hast keinen Slip an‘, sage ich. ‚Ich bin ein einfaches, robustes Mädchen‘, sagt Romina über mir […].“[6]

Wieder das Motiv des Himmels. Und nun zur stilistisch-syntaktischen Gestaltung dieser Stelle: Hauptsatz, Ellipse, Ellipse, Hauptsatz, Hauptsatz Punkt. Nach dem Gesetz der Wachsenden Glieder[7](Ja, das war eben frech von mir …). Und dann wieder unvermittelt ein innerer Monolog, der das noch kommende Geschehen proleptisch überblendet und gleichzeitig kommentiert. Keine eigenen Worte Toms, wieder Zitat (ohne Ellipse), er outet sich wieder als Psalmenbeter (hier aus Psalm 104); darum vermutlich keine Anführungsstriche, Tom wird wieder zu einer Stimme, die von weit her kommt. Er reiht sich in einen schöpfungstheologischen und mystischen Diskurs ein. Der Angeredete wird sogleich adressiert: „Herr“. Archaische, hoch-poetische Sprache. Und dann wieder ohne Vorwarnung: Sie habe ja keinen Slip an (Antithese zum Bekleidet-Sein Gottes). Evas Rückkehr ins Paradies? Und im Gegensatz steht hier der Psalm vor der unio. Dieser Akt verläuft im Grunde spiegelverkehrt im Vergleich zur Begegnung mit Marla. Und wenn sie (Romina) sich über ihn (Tom) wölbt, dann erinnert das an altägyptische Darstellungen der Vereinigung von Himmel und Erde.[8]
Diese Liebesszenen in „Berlin Heat“ lese ich auch als Gegenkommentar zu gewissen politischen Strömungen, die im Roman vorkommen und ihr Unwesen feiern und die sich eher durch Repatriarchalisierung und Frauenfeindlichkeit auszeichnen. Ähnlichkeiten zu unseren Realitäten? Natürlich nur rein zufällig, wie zu Anfang des Thrillers betont wurde … Durch die spezifische Zitattechnik wirken die Liebesszenen nicht banal, sondern irritierend und überraschend. Mystik und Mythos schreiben sich intertextuell in unsere Gegenwartswelt ein, sind geradezu all-gegenwärtig, sind zwar entsakralisiert, verfehlen aber ihre (Text) transzendierende Wirkung nicht. Jedes noch so banale Lieben ist durch die Liebe nie banal.
So erhalte ich auch einen neuen Einblick in Toms Innenleben, der bisher als ein drittklassiger, spielsüchtiger Alles-Organisierer-und-Hobby-Kleinkrimineller-nervt-Vater-und-beklaut-seinen-Mitbewohner-Totallooser rüberkam. Tom ist Ich-Erzähler; in den zitierten Passagen mit Marla und Romina als äußeren Dialogpartnerinnen – darum die Anführungszeichen? – wird Gott zum inneren, noch intimeren Dialogpartner – darum keine Anführungszeichen? Ein interessante Dreiecksbeziehung entsteht: Ich – Du – Gott … und mehrfache Vereinigungen: Mann-Frau und Mensch-Gott. Das fällt so aus dem sonstigen Duktus dieses Romans, das ich darüber gestolpert bin, nachdenken musste, das gelesene Buch wird aus dem Regal holte, eines Romans, der mit der Geschwindigkeit eines Tornados daher kommt und inhaliert werden kann wie ein Stück Käsekuchen mit frischen Erdbeeren, der bisweilen zwischen den Zähnen knirscht, als hätte man eine Schaufel Sand gefuttert. Und dann diese zwei Falltüren nach oben (es gibt hier auch welche nach unten) – in den Kosmos, in die Mystik, in die Psalmen hinein. Das Hohelied der Liebe ist immer, ist überall. Ich komme hier an eine Grenze, die ich nicht ganz zu fassen kriege, die mich fasziniert, und hätte ich sie erfasst, stünde ich schon jenseits von ihr. Darum Dank an der Autor, dass es Rätselhaftes in seinem Thriller gibt. Und kein Gedöns im Stil von, was uns der Autor damit habe sagen wollen. Genau DAS.

Schließlich ein infernalisches Finale. Aber ganz am Ende wird ein innerlich und äußerlich anderer Tom auf-stehen, gezeichnet zwar durch Narben, aber als jemand, der einen quasi absoluten point-of-view einzunehmen vermag gegenüber der ewigen, schier trostlosen Wiederkehr des Immer-Gleichen. „‘Du verlierst nicht‘, sagt Romina. ‚Du fängst einfach wieder von vorn an. Komm jetzt.‘“[9] Neuschöpfung. Wenn Mystik Ver-Ein-igung (unio) ist, dann kann sie kann gar nicht anders als erotisch und religiös sein. Auch in der Sprache. Rominas „Komm jetzt“ ist durchaus mehrdeutig und charmant frech. Und Rhetorik? Das ist bisweilen die Kunst, einen Text anspruchsvoll sexy und erotisch verhüllend zu machen.
Zum Weiterlesen:
Markus Pohlmeyer: Gedanken zum Lied der Lieder, in: http://culturmag.de/crimemag/markus-pohlmeyer-gedanken-zum-lied-der-lieder/134555; Zugriff am 1.5.2021
U. Störmer-Caysa: Einführung in die mittelalterliche Mystik, Stuttgart 2004.
Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte und Gedichte bei uns hier.
[1] J. Groschupf: Berlin Heat. Thriller, Berlin 2021, 45.
[2] Siehe dazu „Liebe und Eros zur Zeit der Bibel“, Welt und Umwelt der Bibel 21/2001, 17.
[3] Hier böte sich auch ein Vergleich mit M. Bachtin und J. Kristeva an.
[4] Groschupf: Berlin (s. Anm. 1), 46.
[5] Der Anfang des Psalms wurde etwas verändert; „im Himmel“ steht nicht im hebr. Original, spannt aber den Bogen zu dem ersten Zitat.
[6] Groschupf: Berlin (s. Anm. 1), 225 f.
[7] H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, 7. Aufl., München 1982, 30.
[8] Siehe dazu O. Keel: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, 23 und 27. Dort auch zahlreiche ikonographische Verweise auf die Psalmen 8 und 104.
[9] Groschupf: Berlin (s. Anm. 1), 254.