Geschrieben am 22. September 2012 von für Crimemag

Malitalia von Giancarlo de Cataldo

Ach, Italien … Giancarlo de Cataldo, Romancier, Drehbuchautor (u. a. „Romanzo Criminale“) und Richter umkreist nicht nur in seiner Fiction, sondern auch in seinen Essays immer wieder die Gründe und historischen Ursachen für den Zustand der italienischen Gesellschaft, um darin sowohl das Landesspezifische wie auch das Grundsätzliche und Analogisierbare herauszuarbeiten … Lesen Sie heute den von Dorothee Calvillo übersetzten ersten Teil (von zweien) über bemerkenswerte Parallelen zweier Vorgänge im 19. und im 20. Jahrhundert, exakt 100 Jahre voneinander getrennt, die um die notorische „Banca Romana“ kreisen.

Malitalia

Von Giancarlo de Cataldo

In der Geschichte unseres wunderbaren und widersprüchlichen Landes zeigen sich gelegentlich gewisse Fügungen, die Dir, wenn Du sie nur alle aneinander reihst, den Atem rauben. Gelegentlich sind es zeitliche Übereinstimmungen, die an Giambattista Vicos Geschichtsphilosophie erinnern. Siehst Du sie Dir genauer an, packt Dich eine ohnmächtige Wut. Sie treiben Dich zu dem Gedanken, Italien könne sich niemals ändern. Gegen seine endemischen Leiden sei kein Kraut gewachsen.

In den Jahren ’92 und ’93 des vergangenen Jahrhunderts, den Wirren der vierundzwanzig Monate des Übergangs von der Ersten zur Zweiten Republik, spielte sich in unserem Land eine Tragödie von epischen Dimensionen ab, deren Auswirkungen noch immer nicht ganz einzuschätzen sind. Während die Affäre der sogenannten „Mani Pulite“ hochkochte, verübte die Mafia einen beispiellosen Angriff auf das Herz des Staates.

Giovanni Falcone und Paolo Borsellino

Die Richter Falcone und Borsellino, der Abgeordnete Salvo Lima und der Zollbeamte Salvo fielen Mordanschlägen zum Opfer. Bomben sprengten Basiliken und Monumente, rissen Unschuldige in den Tod. Teile des Staates nahmen obskure Verhandlungen mit Mafiabossen auf. Persönlichkeiten aus der Finanzwelt und den Unternehmen, hohe Verwaltungsbeamte fanden den Tod unter tragischen, teilweise noch immer höchst zweifelhaften Umständen. Eine komplette politische Klasse wurde von der Flutwelle der Skandale regelrecht fortgeschwemmt. Neue politische Kräfte wiederum nutzten die Gunst der Stunde und gelangten, von einem breiten Konsens befördert, an die Macht.

Nach zwei Jahren war plötzlich alles vorbei.

Exakt hundert Jahre früher, zwischen 1892 und 1893, erschütterten zwei Affären von ähnlicher, fast sogar identischer Beschaffenheit die junge, nicht einmal seit dreißig Jahren geeinte Nation in ihren Grundfesten.

Auch in diesen Affären verflochten sich Politiker- und Unternehmerschicksale mit denen von Polizisten, Geschäftemachern, Mafiosi, Richtern und Juristen. Also den üblichen Figuren einer Vorstellung, hinter der wir gewöhnlich unsere Leidenschaft für die Komödie erkennen, die in Wahrheit jedoch nichts anderes sind als die ewigen Protagonisten der ungelösten italienischen Tragödie.

Emanuele Notarbartolo

Zweierlei geschah in den Jahren ’92/’93: Der Skandal der Banca Romana und der Mord an Emanuele Notarbartolo.

Der Skandal um die Banca Romana (der kürzlich noch in einer spannenden Fernsehserie aufgegriffen wurde, was das große Interesse der Italiener am Thema Korruption belegt) gelangte dank der Presse ins öffentliche Bewusstsein. Hätte es damals ein Maulkorbgesetz gegeben, man hätte davon rein gar nichts erfahren.

Tatsächlich lüftete ein kleines, im umbertinischen Rom beliebtes Satireblatt, Il carro di Checco (=Checcos Karren), das Geheimnis um jene politisch-finanzielle Verwicklung, die sonst sang- und klanglos im unantastbaren Allerheiligsten der Macht untergegangen wäre. Der Fall Notarbartolo passierte im, wie es hieß, gnadenreichen Jahr 1892: haargenau 100 Jahre vor Tangentopoli. Einer ziemlich turbulenten Zeit im Leben Italiens. Gewiefte „politische Profis“ hatten die ehemals herrschende post-garibaldinische Klasse verdrängt, und sie saßen allesamt mit mehr oder weniger anständigen „Geschäftskomitees“ in einem Boot. Crispi, Di Rudinì und der Aufsteiger Giolitti waren in einen rücksichtslosen, ruppigen und ehrlosen Kampf verstrickt. Im Hintergrund lockte wie eine appetitliche Torte die eben erst notdürftig geeinte Nation, die mit großen Schritten auf ihre erste industrielle Revolution zusteuerte.

Leitung, Redaktion und Erscheinungsbild des Il carro di Checco oblagen damals einer einmaligen Persönlichkeit namens Francesco Coccapieller. Einem großen, hageren und heillos unangepassten Menschen, der, solange er Abgeordneter war, mit jeder Wortmeldung das gesamte Parlament zum Lachen brachte. Als junger Mann war er ein feuriger garibaldinischer Kämpfer gewesen. Später, als unerschütterlicher Gegner der Republikaner, Radikalen und Sozialisten, wandte er sich dem satirischen Journalismus zu. Gemäß einer Vorgehensweise, die in den düstersten Zeiten der Ersten Republik recht zuverlässig funktioniert hatte, stellte sich Coccapieller in den Dienst dieses oder jenes einflussreichen Politikers, indem er sein Blatt wie einen Rammbock gegen den jeweiligen Gegner in Stellung brachte.

Überschüttet von Diffamierungsklagen und nur wegen seiner parlamentarischen Immunität noch auf freiem Fuß, schlug sich der streitlustige Coccapieller gerade noch so durch, als man ihm aus dem Palast die Information zuspielte, aus der der größte Scoop seines Lebens werden sollte: Bei der Banca Romana wurde gestohlen, und zwar in großem Stil. Dass in dem alten Kreditinstitut etwas faul war, wussten Insider in Wirklichkeit sehr wohl. Doch gemäß dem politischen Willen (wie man heute sagen würde), sollte die Sache vertuscht werden. Während einer turbulenten Parlamentssitzung verboten die Abgeordneten Senator Alvisi tatsächlich, einen Bericht über die Machenschaften der Banca Romana zu verlesen: Mit seinen Dummheiten, so rief man von den Sitzen der Mehrheit, würde er den guten Ruf Italiens beschmutzen.

Vittoria Emmanuele II

Alvisi starb, und am Ende gelang es dem Chef der Republikanischen Linken, Napoleone Colajanni, erst 20 Jahre später, am 20. Dezember 1892, seinen berühmten Bericht zu veröffentlichen. Die solcherart moralisch aufgerüttelten oder – eher noch – wegen der wachsenden Dimensionen der Affäre beunruhigten Abgeordneten beriefen in aller Hast eine Untersuchungskommission ein. Drei Monate später sah es aus, als ob der Skandal eine komplette politische Klasse zu stürzen drohte. Die Bankiers Tanlongo und Lazzaroni wanderten ins Gefängnis und warfen nur so um sich mit wertvollen Informationen über die Verstrickungen einflussreicher Persönlichkeiten wie Giolitti, Crispi, Di Rudinì, Cairoli, Rattazi, Minghetti, Sella: Dies war der Gotha, das Adelsverzeichnis, des eben geeinten Italien. Nicht einmal der inzwischen verstorbene König Vittorio Emanuele II war über jeden Verdacht erhaben: Tatsächlich argwöhnte man, die Bank habe ihm im Jahr 1875 ein außerordentliches Darlehen gewährt, um seine unsinnigen Spekulationen „zu verschleiern“. Doch welcher Vergehen hatte sich die Banca Romana nun schuldig gemacht? Die Arbeit der Untersuchungskommission brachte nicht wenige davon ans Licht: Gefälschtes Münzgeld war hergestellt und in Umlauf gebracht worden, man hatte Bilanzen frisiert, falsche Fakturierungen getätigt, korruptes Kontrollpersonal und „schwarze Kassen“ toleriert, von denen am Ende Personen der Öffentlichkeit profitierten.

Ebenso wie 100 Jahre später folgt auch hier ein Skandal auf den anderen, ein Delikt zieht das andere nach sich.

Just als der Bankenskandal auf sämtlichen Titelseiten prangt, am 1. Februar 1893, wird in einem Eisenbahnwaggon auf der Strecke Roma Termini-Palermo der Sizilianer Emanuele Notarbartolo di San Giovanni erstochen. Als bedeutendes Mitglied der palermitanischen Aristokratie und Spitzenmann der (liberalen) Destra Storica war Notarbartolo zudem Bürgermeister von Palermo und Generaldirektor der Banco di Sicilia gewesen. Die gesellschaftliche Stellung des Opfers, sein Einfluss, die guten politischen Verbindungen seiner Familie und der Aufruhr, den die radikalen und sozialistischen Oppositionellen noch anheizen, sorgen dafür, dass das Verbrechen von vorneherein nicht als Tat gewöhnlicher Banditen behandelt wird. Man schreibt den Mord der Mafia zu und beschuldigt zwei kleine Fische aus dem Villabate-Clan, Matteo Filipello und Giuseppe Fontana, die Tat begangen zu haben. Als Auftraggeber vermutet man wiederum eine ebenfalls illustre Persönlichkeit: den Abgeordneten Raffaele Palizzolo. Generalstaatsanwalt Sighele spricht offen von „höchster Mafia“, doch die Stellung und die Macht des mutmaßlichen Hintermannes zwingen zu besonderer Vorsicht. Die Ermittlungen laufen unter größten Schwierigkeiten und gemäß einem Schema, das sich in den Folgejahren etablieren sollte: Verleumdungen, Verdächtigungen und Vorwürfe prägen das Bild, offenkundige Verbindungen zwischen den Verbrechern und den Ordnungskräften oder sogar der Staatsanwaltschaft legen nahe, dass so einiges vertuscht werden soll.

Ermittlungsinstitutionen, die beide Ereignisse miteinander in Verbindung gebracht hätten, scheint es nicht gegeben zu haben. Und doch waren Spitzenleute des italienischen Bankenwesens in beide Affären involviert, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Und es lässt sich eine Art Gesetzmäßigkeit ablesen, die das hundert Jahre später stattfindende Déjà-vu zu bestätigen scheint. Die Parallelen im Vorlauf der Ereignisse mögen Zufall sein. Aber strukturell betrachtet ist es doch so, dass manche Dinge genau dann an die Oberfläche gelangen, wenn die Zeit eben reif dafür ist. Die Jahre 1892/93 löschen eine politische Klasse – oder zumindest Teile davon – aus und leiten eine Zeit der Erneuerungen ein. Ob die darauf folgende Erneuerung wirklich als Fortschritt zu bezeichnen ist, darüber ließe sich diskutieren.

Analog dazu löschen die Jahre 1992/93 ebenfalls eine politische Klasse aus und ebnen einer neuen Ära den Weg. Aber auch hier werden erst die Nachgeborenen beurteilen können, ob dabei eine Veränderung zum Guten oder zum Schlechten stattgefunden hat.

Giancarlo de Cataldo

 Die Übersetzung ins Deutsche ist von Dorothee Calvillo. Sie verbrachte ihre Kindheit zwischen Spanien und Deutschland, studierte Romanistik und arbeitet seither als Fachübersetzerin. Seit 2005 studiert Dorothee Calvillo Literaturübersetzen in Düsseldorf und bereitet sich gerade auf ihr Diplom vor.

Zu de Cataldo bei CULTurMAG. Thomas Wörtche über „Zeit der Wut“ im Deutschlandradio Kultur, „Schmutzige Hände“ bei CULTurMAG und „Romanzo Criminale“ bei kaliber38. Verlagsinformationen.

Giancarlo De Cataldo: Zeit der Wut. Thriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag 2012. 247 Seiten. 22,90 Euro.
Giancarlo De Cataldo: Schmutzige Hände. Politthriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag. 376 Seiten. 22,90 Euro.
Giancarlo De Cataldo: Romanzo Criminale. Politthriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag. 575 Seiten. 24,90 Euro.

Tags :