Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021, News

Lisette Buchholz über die Erzählungen von Wolfgang Kohlhaase

Kein überflüssiges Wort

„Weglassen ist eine schöne Übung“, meinte Wolfgang Kohlhaase in einem Gespräch. Darin hat er es zur Meisterschaft gebracht, wie wir aus seinen berühmten Drehbüchern wissen und nun in diesem hübschen Band nachlesen können. Dreizehn Erzählungen, und bei jeder habe ich bedauert, wenn sie zu Ende war. 

Die verdichteten Texte enthalten kein überflüssiges Wort, dafür schwingen jede Menge Obertöne mit, und der Leser kann für sich all die vom Autor verschwiegenen Sätze ergänzen. So sitzt man dann noch eine Weile da, hält das Buch in Händen und blickt aus dem Fenster, wo sich die Meisen tummeln. Es geht um Liebe und Tod, gelebtes und versäumtes Leben, Menschen in Ausnahmesituationen, Sprechen und Schweigen – Gebiete also, auf denen wir alle Experten sind.

Die Titelgeschichte ist mir die liebste: Der KZ-Häftling Straat behauptet, seinem Kapo Persisch beibringen zu können, was diesem zur Vorbereitung fürs Nachkriegsleben dienen soll und Straat lebensrettende Vergünstigungen erwirkt. Natürlich handelt es sich um ein reines Fantasieprodukt, dem sich Straat in schlaflosen Nächten widmet.„Pollimolli“ heißt Apfelbaum! Straat erfindet Wörter und Grammatik, auch „Rachewörter“ wie „suliduladornatlam“: Da kommt der Kapo ins Schwitzen. Bei aller Groteskheit schimmert Straats verzweifelte Lage durch, soll man lachen oder weinen? 

Mit Feingefühl und Diskretion schildert Kohlhaase Geschichten von Liebe und Trennung. Vor einer rituellen Silvesterfeier im heimischen Berlin, auf der er seiner Ex begegnen würde, flieht ein Mann nach Budapest, wo er sich in einem fremden Haus schließlich mit einer mehrbändigen Balzacausgabe tröstet. Ungarisch kann er zwar nicht, aber mit Rührung erkennt er in dem kryptischen Textgebirge vertraute Namen wie Goriot. Das hilft. Die vorausgegangene Liebesnacht mit der Ungarin Ildi hatte so geendet: „Verzuckend starb die Fremdheit zwischen uns und kam leise wieder zur Welt, während wir ineinander ausruhten und nebeneinander lagen und ohne einander.“ 

Kohlhaase erinnert auch an Menschen, von denen kaum etwas bekannt ist. Zum Beispiel spukt ein aufständischer Matrose in den Erinnerungen einer uralten Mietshaus-Nachbarin. Er sprang aus dem Fenster, um sich vor seinen Verfolgern zu retten, und war sofort tot. Und an ein Kind wird erinnert, es hieß Alfred und ertrank in einem Waschkessel. „Mutter war bloß mal schnell auf dem Hof, 1890, und da ist es passiert.“

Der stilistische Dreiklang aus Zurückhaltung, Zärtlichkeit und Präzision bringt das Erzählte zum Klingen. Die menschenfreundliche Einstellung sowie das Interesse des Autors am scheinbar Nebensächlichen, am „kleinen“ Leben, machen diese Erzählungen so liebens- wie lesenswert. Er scheint oft ein wenig erstaunt über das, was er schildert, und dieser innerliche Abstand lässt seine Protagonisten umso deutlicher hervortreten. Zum Beispiel den Kohlenhändler, der äußerlich an einen „Lord im Farbfilm“ erinnert. Tatsächlich hat er eine quasi aristokratische Neigung: zu Pferden, er war bei der Kavallerie. Das stellt sich im Laufe eines Gesprächs heraus, in dem es eigentlich nur um Briketts und Koks gehen sollte. 

Der Autor lässt sich gern forttragen von den Menschen, die er trifft und für die er eine Sprache findet, in der wir innerlich mitreden und die Sache fortspinnen können. Wann haben wir zum letzten Mal ein Pferd gestreichelt?

Lisette Buchholz – ihre Texte bei uns

Wolfgang Kohlhaase: Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Mit einem Nachwort von Andreas Dresen. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 205 Seiten, 18 Euro.

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