
Vom Rand des Sonnensystems aus geschrieben
45 Jahre ist es in diesem Frühling her, dass Italien seinen „Deutschen Herbst“ erlebte: nämlich die Parallele zur Schleyer-Entführung. Am 16. März 1978 entführten die „Brigate rosse“ Aldo Moro, den Parteivorsitzenden der Democrazia Cristiana und ehemaligen Ministerpräsidenten Italiens. Fünf Leibwächter starben im Kugelhagel. 55 Tage später wurde Moro mitten in Rom erschossen im Kofferraum eines Autos aufgefunden. Marco Belocchio, Jahrgang 1939, einer der großen Filmregisseure Italiens, seziert das Geschehen gerade in in der sechsteiligen arte-Serie „Und draußen die Nacht“ (Esterno Notte, Italien/ Frankreich, 333 Min) – zur leider schrottigen Synchronisation ein KickAss in unserer nächsten Ausgabe.
Hier aber nun gilt es, eine aufregende Neuerscheinung vorzustellen, zu der wir Ihnen gleich drei Textauszüge präsentieren können. Monika Lustig von der Edition Converso – aus der wir gerade auch Antoine Volodines „Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher“ rühmen, siehe hier und hier nebenan – hat das Schlüsselwerk von Leonaro Sciascia neu übersetzt. Es ist jetzt eben Mitte März 2023 erschienen.
Leonardo Sciascia: Die Affaire Moro (L’Affaire Moro, 1978). Ein Roman. Aus dem Italienischen neu übersetzt von Monika Lustig. Mit einem Essay von Fabio Stassi. Edition Converso, Karlsruhe 2023. 240 Seiten, gebunden, 24 Euro. Verlagsinformationen. Zu Leonardo Sciascia bei uns hier und hier.
Textauszug aus der Einleitung von Leonardo Sciascia:
Auf meinem Abendspaziergang entdeckte ich gestern in einem Mauerspalt ein Glühwürmchen. Seit mindestens vierzig Jahren habe ich hier auf dem Land keines mehr gesehen. So dachte ich auch im ersten Moment, es müsse sich um einen Gipssplitter im Mauergestein oder um eine Spiegelscherbe handeln, und das Licht des Mondes, das wie ein Ornament durch das Laubwerk brach, rufe diesen grünlichen Widerschein hervor. Eine Rückkehr der Glühwürmchen wollte mir nicht unmittelbar in den Sinn kommen, nach so vielen Jahren, die sie verschwunden waren. Längst waren sie bloße Erinnerung: an eine Kindheit, da wir für die kleinen Dinge der Natur noch ein waches Auge hatten und wussten, mit ihnen Spiel und Spaß zu haben. Die Glühwürmchen hießen bei uns cannileddi di picuraru, Kerzlein des Hirten, wie die Bauern sie nannten. Derart beschwerlich erschien ihnen das Leben eines Schafhirten, die durchwachten Nächte bei den Herden, dass sie ihm die Glühwürmchen als Spur des Lichtes oder als schwache Erinnerung daran in furchteinflößender Finsternis zudachten. Furchteinflößend wegen der häufigen Viehdiebstähle. Furcht, weil die, die man für gewöhnlich die Schafe hüten ließ, Kinder waren. Daher also der Name Hirtenkerzen. Hin und wieder fingen wir ein Glühwürmchen, hielten es, umringt von den Jüngsten unter uns, behutsam in der geschlossenen Faust, öffneten sie jäh, um mit der smaragdgrünen Phosphoreszenz zu überraschen.
Es war tatsächlich ein Glühwürmchen dort in der Mauerritze. Und diese Erkenntnis erfüllte mich mit Freude, durch und durch. Mit einer doppelten Portion Freude. Mit zweifacher Freude. Zum einen über die wiedergefundene Zeit – die Kindheit, die Erinnerungen, der nunmehr stille Ort, wieder voller Stimmen und Spiele – und die Freude über eine Zeit, die es zu entdecken, zu erfinden galt. Mit Pasolini. Für Pasolini. Pasolini, längst außerhalb der Zeit, aber in diesem schrecklichen Land, zu dem Italien geworden ist, noch nicht in seinem Innern verändert (»Tel qu’en Lui-même enfin l’éternité le change«)(1). Brüderlich und fern zugleich, das ist Pasolini für mich. Wie Brüder, aber ohne Vertraulichkeit, sich mit mannigfacher Zurückhaltung schützend und, wie ich glaube, von gegenseitiger Befangenheit. Wie eine Mauer zwischen uns empfand ich für meinen Teil ein Wort, das ihm so viel bedeutete, einen Schlüsselbegriff in seinem Leben: »anbetungswürdig«. Möglich, dass auch ich einige Male dieses Wort in meinem Schreiben verwendet habe, ganz sicher habe ich es mehrmals gedacht: Aber es galt einer einzigen Frau und einem einzigen Schriftsteller. Und dieser Schriftsteller, das braucht nicht eigens betont zu werden, ist Stendhal. Pasolini hingegen fand dasjenige »anbetungswürdig«, was für mich an Italien bereits qualvoll war (aber ebenso für ihn, wenn man sich an das »anbetungswürdig, eben weil qualvoll und herzzerreißend« aus den Lutherbriefen erinnert: Aber wie kann man anbeten, was einen vor Schmerz zerreißt?) und was entsetzlich werden sollte. Er fand diejenigen »anbetungswürdig«, die unausweichlich zu Werkzeugen seines Todes werden sollten. Anhand seiner Schriften lässt sich ein kleines Wörterbuch der Dinge zusammenstellen, die für ihn »anbetungswürdig«, für mich nur qualvoll und heute entsetzlich sind.
Die Glühwürmchen also. Und so kommt es – Angedenken und Hoffnung –, dass ich hier für Pasolini schreibe, als setzte ich nach über zwanzig Jahren einen Briefwechsel fort. »Die Glühwürmchen, die du ausgestorben glaubtest, sie kehren langsam zurück. Eines habe ich gestern Abend gesehen, zum ersten Mal nach vielen Jahren. Und so ist es auch mit den Grillen: Über vier oder fünf Jahre habe ich sie nicht gehört, jetzt sind die Nächte endlos erfüllt von ihrem Zirpen.«
Die Glühwürmchen. Der Palazzo. Pasolini wollte buchstäblich im Namen der Glühwürmchen dem Palazzo den Prozess machen. Wegen des Verschwindens der Glühwürmchen.
Weil ich Schriftsteller bin und mit anderen Schriftstellern polemisiere oder zumindest diskutiere, erlaube ich mir, eine poetisch literarische Definition jenes Phänomens zu geben, das vor etwa zehn Jahren in Italien aufgetreten ist. Das wird die Sache vereinfachen und abkürzen (und sie vielleicht auch verständlicher machen).
Anfang der sechziger Jahre begannen aufgrund der Luftverschmutzung und, vor allem auf dem Land, infolge der Gewässerverschmutzung (der blauen Flüsse und der klaren Bäche) die Glühwürmchen zu verschwinden. Das geschah mit blitzartiger Geschwindigkeit. Innerhalb von nur wenigen Jahren gab es die Glühwürmchen nicht mehr. (Sie sind heute eine schmerzliche Erinnerung an die Vergangenheit, und wer von den Älteren diese Erinnerung noch besitzt, kann sich in den heutigen Jugendlichen nicht mehr wiedererkennen und kann sich also auch nicht mehr so schön wie einst der Wehmut hingeben.)
Dieses »Etwas«, das vor zehn Jahren geschah, will ich im Folgenden »das Verschwinden der Glühwürmchen« nennen. Das christdemokratische Regime hat zwei absolut unterschiedliche Phasen durchgemacht, die sich nicht nur nicht im Sinne einer gewissen Kontinuität miteinander vergleichen lassen, sondern geradezu geschichtlich inkommensurabel geworden sind.
Die erste Phase dieses »Regimes« (wie die Radikalen es zu Recht stets genannt haben) beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und geht bis zum Verschwinden der Glühwürmchen, die zweite Phase ist die vom Verschwinden der Glühwürmchen bis heute. […] Und weiter: In der Übergangsphase – das heißt »während des Verschwindens der Glühwürmchen« – haben die christdemokratischen Machthaber fast mit einem Schlag ihre Ausdrucksweise geändert und sich einen völlig neuen Jargon zugelegt (im Übrigen so unverständlich wie Latein). Exemplarisch dafür steht Aldo Moro, eben der Mann, der (aufgrund wer weiß welch rätselhafter Wechselbeziehung) am wenigsten in all die abscheulichen Dinge verwickelt scheint, die von 1969 bis heute von jenen organisiert wurden, die um keinen Preis die Macht aus den Händen geben wollen; was ihnen, formal gesehen, bislang auch gelungen ist.(2)
Die Glühwürmchen. Der Palazzo. Der Prozess gegen den Palazzo. Als wandelte drei Jahre nach der Veröffentlichung dieses Artikels von Pasolini im Corriere della Sera nur mehr Aldo Moro im Innern des Palazzo umher: in jenen leeren, längst ausgeräumten Räumen. Ausgeräumt, weil andere Räume zu besetzen waren, die als sicherer galten: in einem neuen, weitläufigeren Palazzo. Und sicherer – das versteht sich von selbst, sicherer waren diese Räume für die Schlimmsten von ihnen, das ist damit gemeint. »Der am wenigsten in die Machenschaften Verwickelte«. Verspätet und alleingelassen: Und er hatte geglaubt, ein Anführer zu sein. Verspätet und alleingelassen, eben weil er von allen »der am wenigsten in die Machenschaften Verwickelte« war. Und eben weil von allen »der am wenigsten in die Machenschaften Verwickelte«, war er vom Schicksal auserkoren, noch rätselhaftere und tragischere Wechselbeziehungen einzugehen.
Textauszug, Seite 100 – 102, sarkastischer geht es kaum:
Mit der Verlautbarung Nummer acht diktieren die Brigate rosse die Konditionen für Moros Auslieferung. Sie verlangen die Freilassung von dreizehn Personen: eine Auswahl von Brigadisten, Protobrigadisten, Neobrigadisten. Die Auswahl ist eine Provokation: Die Protobrigadisten, die zwar bei der Verurteilung auf Beweggründe im Zusammenhang eines radikalen gesellschaftlichen und politischen Wandels gepocht hatten, von der Öffentlichkeit aber dennoch als gemeine Delinquenten eingestuft wurden; und Cristoforo Piancone – der einzige, bei dem Rechtfertigungen für die Forderung seiner Freilassung angeführt werden: möglicherweise, weil er erst seit kurzer Zeit militant ist – er befindet sich seit knapp zwei Wochen in Haft, nachdem er zusammen mit anderen den Gefängnisaufseher Cotugno getötet hat. Also viel zu frisch die Tat, als dass die Forderung nicht wie eine Provokation ausgesehen hätte. Was Curcio und die anderen echten Brigadisten angeht, standen sie zu dem Zeitpunkt in Turin vor Gericht, und der Prozess lief noch. Und es wäre besser gewesen, den Prozess nicht abzuhalten, ihn auf günstigere Zeiten zu verschieben: Doch einmal in Gange, hätte es der Groteske noch eins draufgesetzt, sie vor dem Urteil oder sofort im Anschluss daran freizulassen.
Abgesehen von der offensichtlichen Provokation, die in der Zusammenstellung der Namen liegt, muss man sich fragen, warum ausgerechnet dreizehn. Die Brigate rosse werden wohl kaum abergläubisch sein: Aber sie wissen sehr wohl, dass die Italiener es sind. Versteckt sich hinter ihrer Festlegung auf die Dreizehn nicht doch eine makabre Verspottung, als wollten sie sagen: Wir wissen, die Verhandlungen werden zu keinem Ergebnis führen, Moros Unglück ist schon besiegelt?
Der Eindruck, dass im Innern der Brigate rosse jene bereits angedeutete Lagerspaltung erfolgt ist, wird stärker. Zwischen dieser Verlautbarung und den Briefen Moros – der zweifelsohne der Sichtweise der Brigadisten, die er um sich hat, Rechnung trägt – gibt es einen Unterschied. Die Brigadisten, die mit Moro sprechen, verfolgen offenbar die Idee, ihr Gesicht wahren zu wollen: Im Übrigen würden sie einen Moro abliefern, wie es im Mafiajargon heißt, der »im Herzen der Freunde schon gestorben wäre«; politisch tot, wie es an Montanellis wehmütigem Abschiedsgruß und der Verkündung des Abgeordneten Trombadori zu erkennen ist. Die Brigadisten, die die Verlautbarung herausgeben, scheinen hingegen eine Verhärtung der Regierungsposition erreichen zu wollen, ein absolutes und endgültiges »Nein«, das es ihnen erlaubt, das Urteil zu vollstrecken.
Bereits am 19. April hatte die Zeitung Lotta Continua, das Organ der linken Opposition, links von der Kommunistischen Partei, einen Appell für die Befreiung Moros veröffentlicht, der außer von Vertretern der Ultralinken (darunter Dario Fo) auch von Bischöfen, laizistischen und katholischen Intellektuellen (darunter Raniero La Valle, Katholik, als Senator in die Listen der Kommunistischen Partei gewählt) und sogar von zwei renommierten Kommunisten wie Umberto Terracini und Lucio Lombardo Radice unterzeichnet wurde. Doch die Brigate rosse werfen das in einen Topf mit den Appellen, die seitens »einiger Persönlichkeiten aus dem bürgerlichen Lager« sowie »von einigen religiösen Autoritäten« (zu denen auch der Papst zählt) an sie gerichtet wurden: Und sie fordern die Unterzeichner auf, einen analogen Appell für die Freilassung der dreizehn Brigadisten an die Democrazia Cristiana und ihre Regierung zu richten. Eine Aufforderung, die, insofern sie an den Papst und die Bischöfe gerichtet ist, bestens zu stehen kommt: Denn wie bereits festgestellt wurde, ist das, was im Appell des Papsts ein Plus, also ein Minus ist, die Forderung an die Brigate rosse, sich zum Christentum zu bekennen (der Papst in der Rolle des Heiligen Franziskus, die Brigate in der des Wolfs von Gubbio) (42), ohne auf der anderen Seite die Katholiken, die den Staat regieren, mit Nachdruck daran zu erinnern, dass die Rettung unschuldigen Menschenlebens (und solcherart ist für den Papst das von Moro: »ein guter und ehrlicher Mann, dem niemand irgendein Verbrechen zur Last legen oder ihn auch nur mangelnder gesellschaftlicher Verantwortung und unterlassenem Dienst an der Gerechtigkeit und dem sozialen Frieden bezichtigen kann«) das über jedes andere herrschende Prinzip darstellt. Für die Männer, die die Kirche Christi repräsentieren, für denjenigen, der ihr oberster Stellvertreter auf Erden ist, sollte es nichts anderes geben als das, was der Graf Attilio unmögliche Annahme nennt, nämlich die »unmaßgebliche Meinung« von Pater Cristoforo: »meine unmaßgebliche Meinung wäre, daß es weder Herausforderungen, noch Überbringer noch Knüppelschläge geben sollte« (Alessandro Manzoni, Die Brautleute, Kapitel V) (43).
Aus dem Nachwort von Fabio Stassi:
Es ist ein elegisches Incipit in Moll, geschrieben von einem finis terrae, von einem Weltenende oder eben vom Rand eines Sonnensystems aus. Der Anfang eines Requiems, mit seinen Tagen des Zorns, seinem Recordare und seinen Lacrimosa, ein Requiem für einen einsamen Mann, »den am wenigsten von allen in die Machenschaften Verwickelten«. (69) Aber auch für einen Dichter, für Pasolini, und für die Welt der eigenen Kindheit, jene Welt der Bauern, die längst im Verschwinden begriffen ist. Auf immer. Ein Requiem schließlich für eine Idee von Literatur, wie er sie selbst bis dahin praktiziert hat. Die »smaragdgrüne Phosphoreszenz«, mit der das Buch beginnt, erinnert mehr an ein Irrlicht als an das Leuchten eines Glühwürmchens.
Wie Salvatore Silvano Nigro erläutert, bekennt Sciascia bereits im Ankündigungstext des Buchs, dass er mit Blick auf das Genre des dokumentarischen Ermittlungsromans in umgekehrter Richtung vorgegangen ist: nicht von der Realität hin zur Literatur, sondern, wie paradox es auch klingen mag, von der Literatur hin zur Realität. Noch vor seiner Veröffentlichung löst das Buch in der Presse eine ganze Reihe scharfzüngiger Polemiken aus. Am 17. September [1978] bringt Scalfari in La Repubblica einen Leitartikel unter der Überschrift: »Die Passion Moros nach Sciascia«. Abgesehen von den politischen Analysen und dem Diskurs über den Staat, auf die Sciascia Punkt für Punkt eingeht, erkennt er, und das beunruhigt ihn am meisten, die Gefahr, dass das, »was ich geschrieben habe, im Einheitsbrei des ›Mysteriums der Kunst‹ versenkt wird, ohne jeden Bezug zur Realität. Ein höchst gefährlicher Kanon ist das, würde ich behaupten. Das wahre Mysterium ist nämlich nicht das der Kunst: sondern, wie und warum Moro getötet wurde«.(70) Die von Scalfari ins Feld geführten Begriffe wie »das Mysterium der Kunst«, »Transformation und Neuerschaffung der Wirklichkeit«, »an Phantasie und Moralempfinden rühren« (71), die für Sciascia zu einem anderen Zeitpunkt schmeichelhaft klingen könnten, alarmieren ihn jetzt, bereiten ihm Sorgen, veranlassen ihn, den kurzen, als Lesezeichen zur Erstauflage der Affaire Moro gedruckten Klappentext zu verfassen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:
Über dieses noch nicht veröffentlichte, noch nicht gelesene Buch schreibt Eugenio Scalfari in La Repubblica vom 17. September 1978: »Sciascia ist ein großer Schriftsteller. Ich bin überzeugt, sein Pamphlet wird uns eben- so faszinieren und bewegen, wie so viele seiner früheren Bücher.« Und Indro Montanelli in Il Giornale vom 23. September: »Das Buch ist noch nicht erschienen, von seinen literarischen Qualitäten dürfen wir jedoch jetzt schon mit geschlossenen Augen überzeugt sein …« Doch die beiden illustren Journalisten – und wer sich sonst noch mit diesem Buch, ohne es gelesen zu haben beschäftigt hat – könnten sich möglicherweise täuschen: dass das Buch am Ende nämlich nicht faszinierend, nicht anrührend ist und keine literarischen Qualitäten besitzt; sondern nichts weiter als eine nackte und unerbittliche Suche nach der nackten und unerbittlichen Wahrheit ist.(72)
Die Missstimmung, die der Versuch bei Sciascia hervorruft, das Buch noch vor dessen Erscheinen auf das Gebiet der Erzählliteratur zu verbannen, als sollte es von Anfang in den Bereich der Harmlosigkeit abgeschoben werden, zwingt ihn, vermeintlich von der Literatur abzurücken, auf Distanz zu ihr zu gehen. In Wirklichkeit verschiebt er die Grenzen des Problems, durch eine noch radikalere Formulierung seiner Frage: Was also ist die Literatur? Was kann sie sein nach der Entführung Moros, dem dramatischsten und symbolträchtigsten Ereignis unserer Gegenwartsgeschichte? Sie ist ganz gewiss und wird es immer sein, das Überleben eines Glühwürmchens draußen auf dem freien Land, wo »Ungeheuer geistern« (73), oder ein beharrlicher Protest gegen das Verschwinden der Vernunft. Aber es ist, als hätte die ganze Geschichte in ihm, außer dieses Prinzip erneut zu betonen, einen weiteren Verdacht à la Borges hervorgerufen: dass die Realität von zweiter Hand ist, und nicht die Literatur. Ein Umkehrspiel.
Anmerkungen:
1 Stéphane Mallarmé, Le Tombeau du Edgar Poe, 1876, Sonett, eine Art musikalischer Nachruf auf den von ihm verehrten US-amerikanischen Autoren Edgar Allan Poe, dessen Werk er teilweise übersetzt hat ; die hier zitierte Zeile lautet in der Übersetzung von Richard von Schaukal (Pro- jekt Gutenberg, o. J.): »Erst in sich selbst verwandelt von der Ewigkeit.«
2 Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften – Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, unter Verwendung der Ü von Thomas Eisenhardt, Berlin 1978, Wagenbach, S. 67–68.
42 Als der heilige Franziskus nach Gubbio kam, wagten sich die Einwohner nicht aus ihren Häusern, lebten in ständiger Angst vor einem mörderi- schen Wolf, der Mensch und Tier riss; der Heilige machte sich auf die Suche nach der Bestie, furchtlos, versprach ihm Nahrung, wenn er die Gottesgeschöpfe fortan verschonte, und der Wolf folgte ihm zahm wie ein Lamm; auch im Lied des Cantautore Angelo Branduardi.
43 Zitiert nach der Übersetzung von Burkhart Kroeber, München 2000, Hanser, S. 108.
69 So bezeichnet Pasolini Aldo Moro, in seinem berühmten Artikel Über die Glühwürmchen, dann in: Freibeuterschriften – Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, übersetzt v. Thomas Eisenhardt, Berlin 1978, Wagenbach; wörtlich: »Beispielhaft dafür ist Aldo Moro, eben der Mann, der (aus wer weiß welch geheimnisvoller Wechselbeziehung) am wenigsten in all die abscheulichen Dinge verwickelt scheint«, ebd., S. 6.
70 Leonardo Sciascia, Nero su nero, Gesamtausgabe Bd. II, Teil I, Mailand 2014, Adelphi edizioni, S. 1103, Übersetzung: Monika Lustig .
71 Leonardo Sciascia, Schwarz auf Schwarz, ebd., S. 265.
72 Klappentext zur Erstauflage Affaire Moro, Palermo 1978, Sellerio editore.
73 Leonardo Sciascia, Schwarz auf Schwarz, ebd., S. 7.