Geschrieben am 1. Februar 2021 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2021

Leonardo Sciascia: Ein Sizilianer von festen Prinzipien

Ein Vorwort-Auszug von Monika Lustig und eine größere Textstelle aus „Tod des Inquisitors“

Hundert Jahre alt wäre Leonardo Sciascia am 8. Januar 2021 geworden. Er ist einer der großen europäischen Autoren – ja! – der Kriminalliteratur, aber eben noch viel mehr. Siehe dazu das Porträt von Felix Hofmann in dieser Ausgabe nebenan, er nennt ihn einen „Mentalitätsforscher“. Hier wollen wir Sie auf eine brandaktuelle Neuerscheinung aus der Edition Converso mit zwei erstmals auf Deutsch erscheinenden Texten von Leonardo Sciascia neugierig machen, aus der wir Ihnen mit freundlicher Genehmigung der Verlegerin Monika Lustig zwei größere Textpassagen zugänglich machen dürfen.

Leonardo Sciascia: Ein Sizilianer von festen Prinzipien. – Tod des Inquisitors und Der Mann mit der Sturmmaske. (Morte dell’Inquisitore, 1964; L’uomo dal passamontagna, 1985). Aus dem Italienischen von Monika Lustig, unter Verwendung einer Übersetzung von Michael Kraus. Mit einem biographischen Essay von Maike Albath und einer kurzen Abhandlung von Santo Piazzese. Edition Converso, Bad Herrenalb 2021. Hardcover, gebunden, 192 Seiten, mit bedrucktem Vorsatz, Lesebändchen, 23 Euro. – Verlagsinformationen hier.

Leonardo Sciascia © Wiki-Commons

Monika Lustig: Ein Sizilianer von festen Prinzipien

Verneigung vor Leonardo Sciascia
8. Januar 1921 Racalmuto – 20. November 1989 Palermo

Stella polare … un gigante[1]Sein Werk gilt es nun endlich wieder und ganz neu zu lesen, zu entdecken, es gründlich zu erforschen. Seine Linie muss unbedingt fortgeführt werden.[2] So und ähnlich feurig klingt es anlässlich des 100. Geburtstags des Maestro di Regalpetra [3]– Leonardo Sciascia. 

Seine Linie, das ist der mit den Waffen der Literatur geführte Kampf um eine gerechte und freie Gesellschaft unter dem Spannungsbogen »Sizilien – Metapher der Welt«. Er, Sciascia, ein unbestechlicher europäischer Aufklärer, ein Mann von fester Überzeugung[4], die Wurzeln tief versenkt im schwefelhaltigen Gestein seiner Insel und dem Meer, ja dem Meer stets den Rücken zugekehrt. 

Mit diesem Buch, ein pensierino[5] zum festlichen Anlass, wagen wir in diesem Sinne einen kämpferischenSchritt und veröffentlichen erstmalig in deutscher Übersetzung zwei seiner historischen Essays (oder literarischen Fallbeschreibungen), entstanden und veröffentlicht in unterschiedlichen Schaffensphasen, zusammengehalten von der thematischen Klammer Inquisition und Folterdie sich wie ein blut- und feuerroterFaden durch Sciascias Werk zieht[6]Tod des Inquisitors (Morte dell’inquisitore, 1964) ist der erste, und gewidmet hat Sciascia »sein kleines Buch den Racalmutesern, den lebenden und den toten, von fester Überzeugung. «

Es kreist um den Fall des rebellischen Augustinermönchs Fra Diego La Matina, Sciascias Held, sein idealer Mitbürger aus fernen Zeiten, welcher im Jahr 1657 unter der spanischen Inquisition in Sizilien (1479-1782), einem regelrechten Anti-Staat[7], nach mehreren Schauprozessen, wiederholten Galeerenstrafen, Folter und Hohn seinem Peiniger, dem hochwürdigen Inquisitor Juan López de Cisneros mit eisernen Handschellen den Schädel einschlägt. Vom Heiligen Offizium in Palermo nach allen Regeln der Kunst inquisiert und der Seelenhygiene zugeführt, weigert er sich, seine Seele zu retten. Unablässig theologisch argumentierend verschleißt er eine gehörige Anzahl an hochgelehrtem inquisitorischem Personal und schwört auch angesichts des Feuertods nicht ab. Er ist: »Ketzer nicht angesichts der Religion (die [die Sizilianer] auf ihre Weise befolgen oder nicht befolgen), sondern angesichts des Lebens.« Er hält die Menschenwürde hoch: blieb unerschütterlich:/ er verzog keine Miene, hielt den Hals starr und den Oberkörper steif (Dante). Die vermeintliche Häresie, das wird im Laufe der Einkreisung des Falls deutlich, ist sozialer, politischer Natur, ist eine evangelische und damit höchst gefährliche, umstürzlerische Auslegung des rechten Glaubens.

Tod des Inquisitors war Sciascias liebstes, ihm »teuerstes Werk, ein nicht abgeschlossenes«, über das er sich wieder und wieder den Kopf zerbricht, das er versucht ist, immer neu zu schreiben, und es doch nicht tut. Er wird es nie zu Ende schreiben, wartete er doch immerzu auf ein neues Indiz, eine Erkenntnis, die ihm plötzlich aus den vertrauten Dokumenten hell ins Auge scheint. Doch – ging es ihm tatsächlich und ausschließlich um solch ein faktisches Element?


[1] Leitgestirn; ein Gigant.

[2] Fabio Stassi, zeitgenössischer sizilianischer Autor im Gespräch.

[3] Titel der bekannten Sciascia-Biographie von Matteo Collura, Mailand 1996.

[4] Sciascia gehört als Racalmuteser zu den uomini di tenace concetto, wie er sie selbst definiert.

[5] Kleine Aufmerksamkeit. 

[6] Titus Heydenreich, Die Inquisition in Siziliens Geschichte und Literatur, Tübingen 1987. Dafür steht auch Sciascias Vorwort zu Alessandro Manzonis Storia della colonna infame (Palermo, 1981). (Geschichte der Schandsäule, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, mit einem Vorwort von Umberto Eco und einem Nachwort von Michael Stolleis, Mainz 2012, jedoch ohne Sciascia-Vorwort. Manzoni rekonstruiert darin auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen einen Kriminalprozess in Mailand 1630: Zwei angebliche »Pestsalber« sollen, um die Seuche zu verbreiten, die Mauern mit giftigen Substanzen beschmiert haben. Sie wurden aufgrund von unhaltbaren Anschuldigungen gefoltert, verurteilt und auf unvorstellbar grausame Art hingerichtet. Die Schandsäulen dann errichtet anstelle ihrer zerstörten Häuser.

[7] Diesen Begriff entnehmen wir dem Buch von Francesco Renda, L’Inquisizione in Sicilia, (Palermo, 1997); sinngemäß heißt es im Vorwort: »Die Macht der spanischen Inquisition innerhalb des sizilianischen Staatsgefüges war nicht verfassungskonform oder stand jedenfalls über der Verfassung. Der Anti-Staat missbrauchte seine Macht gegenüber dem Staat. Der theokratische – katholische – absolutistische Staat, die spanische Monarchie, stellte sich dem laizistischen Staat entgegen, der gegenüber den Forderungen der Modernen auf andere Weise offen war. Was in Sizilien ausgefochten wurde, war also kein lokales Streitgeplänkel, sondern ein Aspekt und ein Moment des ideologischen und politisch-religiösen Kampfes, der seine Wurzeln sehr tief in der spanischen Geschichte versenkte.«

Leonardo Sciascia © Wiki-Commons

Und hier ein Textauszug aus:

Tod des Inquisitors

Dieses Mal war Fra Diego auf einen von Ochsen gezogenen Karren gesetzt worden. Es war schon Abend, aber Kerzen und Fackeln verbreiteten noch genügend Licht. Für die Verkäufer von Wein, Frittiertem, gerösteten Kichererbsen, die ihre Tische und Bänke rund um den Holzstapel des Scheiterhaufens aufgestellt hatten, war der Regen, der die Zeremonie verzögert hatte, ein Desaster. Und so auch für die Damen, für ihre kunstvolle Aufmachung, für ihre Prunkgewänder, die das flackernde Licht nicht in gebührendem Glanz zur Geltung brachte. Immerhin durfte man mit dem Licht des Scheiterhaufens rechnen. 

Beim Anblick des Scheiterhaufens geriet Fra Diego nicht in Aufruhr, ließ keine Bestürzung, kein Anzeichen von Furcht oder Schrecken erkennen. Er wurde auf den Holzstapel bugsiert, nach wie vor an den Stuhl gefesselt, und dieser an einem Pfahl festgebunden. Die beiden gelehrten Priester, die noch auf dem Weg vom Dom­platz zum Piano di Sant’Erasmo versucht hatten, ihn zur Reue zu bewegen, zogen sich nun von ihm zurück. Als allerletzten Versuch der Bekehrung tat man zweimal so, als setzte man das Holz in Brand: Und endlich sagte Fra Diego, er wolle mit dem Theatiner Giuseppe Cicala sprechen, einem der zwei Patres, die ihn auf dem Karren begleitet hat­ten. Der Theatiner hatte sich – warum auch immer, heimgesucht gar von einer gewissen Gefühlsaufwallung (was auch der Grund dafür gewesen sein mag, dass Fra Diego nach ihm verlangt hat­te) – in die Menge geflüchtet, vielleicht um sich das Spektakel zu ersparen. Doch das Geschrei des Vol­kes rief ihn zurück, und so trat er erneut an die Seite des Verurteilten. »Ich werde mein Urteil, meinen Glauben ändern und mich der Katholischen Kirche unterwerfen«, sagte Fra Diego, »werdet Ihr mir denn das leibliche Leben geben.«Darauf erwiderte der Theatiner, dass der Urteilsspruch jetzt nicht mehr zu ändern sei. Und Fra Diego: »Wozu also hat der Prophet gesagt: Nolo mortem peccatoris, sed ut magis con­vertatur, et vivat?« Und als der Thea­tiner erwiderte, dass der Prophet damit das geistige und nicht das leibliche Leben gemeint habe, sagte Fra Diego: »Also ist Gott unge­recht.«

Auf diese gotteslästerlichen Worte hin wurde Feuer an das Holz gelegt, und nachdem der unreine Körper des niederträchtigen Ketzers alsbald ein­geräuchert, erstickt, verbrannt, zu Asche geworden war, ging seine verstockte und teuflische Seele dahin, um unter Höllenqualen immerfort Gott zu lästern. Mit guten Gründen ordnete der Mon­si­gnore Erzbischof und Inquisitor an, dass am Morgen beizeiten die erbärmliche Asche eingesammelt und in alle Winde zerstreut werde.

Doktor Auria hielt es seinerseits für angebracht, dem kurzen Bericht über diesen Glaubensakt, den er seinem Tagebuch anvertraut, am Ende einen Schuss von Übernatürlichem hinzuzufügen.

Als der teuflische und abartige Verurteilte auf besagtem Piano di Sant‘Erasmo war, sahen alle und so auch ich, der ich noch anwesend, einen gewaltigen Schwarm Raben mit lautem Geschrei und Gekrächze um seine Person kreisen und nicht von ihm ablassen, bis er dann starb. So glaubten alle, dass das die Dämonen waren, die ihm zu Lebzeiten Helfershelfer waren und ihn am Ende nun zur ewigen Höllenpein mitgenommen hatten.

Seltsam, dass Pater Matranga, der doch so aufmerksam alle natürlichen und übernatürlichen Zeichen ausspähte, die mit dem Glaubensakt zusammenhingen, nicht auf die Raben-Dä­monen geachtet haben soll, umso mehr, als doch alle sie bemerkt hatten. (Aber über diesen Rabenflug las der Chronist tatsächlich einige Jahre spä­ter auf der Seite, die der Dominikaner Giovanni Maria Bertino dem Fall Fra Diego widmet, in seinem merkwürdigen Buch mit dem Titel Sacratissimae Inquisitionis Rosa Virginea, veröffentlicht 1660-62 in Palermo.) Dafür entgeht Don Vincenzo Auria wiederum der Wortwe­chsel zwischen Fra Die­go und Pater Cicala, ein Wortwechsel, der unserer Ansicht nach nicht als Zei­chen von Nachgeben, von Furcht seitens des Verurteilten zu verstehen ist. Vielmehr als äußerstes Mittel, um dem Volk den Beweis für die unerbittliche Grausamkeit eines Glaubens zu liefern, der von sich behauptet, von Güte, Frömmigkeit und Liebe geleitet zu sein.

Liebend gerne würden wir uns dem Teufel verschreiben, könnten wir im Gegenzug in den Besitz des Buchs kommen, das Fra Diego eigenhändig verfasst hat, das viele häretische Torheiten enthielt, bar jeglichen logischen Zusammenhangs und vor Unwissenheit nur so strotzend. Aber – Doktor Aria und die Hoch­würdigsten Inquisitoren, die da­r­an glaubten, mögen verzeihen – ei­nen solchen Handel mit dem Teufel abzuschließen, ist nicht möglich. 

Welche häretischen Torheiten das Buch enthalten, worin im Einzelnen die Häresie von Fra Diego be­standen haben mag, werden wir vielleicht nie erfahren. Die Prozessakten und das von ihm eigenhändig geschriebene Buch, das den Akten als Corpus De­licti beigefügt war, wurden am 27. Juni des Jahres 1783 im Innenhof des Steri von den Flammen verzehrt, zu­sammen mit allen Anzeigen, Prozessakten, Büchern, Schriftstücken des eigentlichen Inquisitionsarchivs, also den sogenannten Glaubensakten (während ein zweites Archiv für die forensischen Fälle, die zivile Angelegenheiten oder zumindest solche be­trafen, die nichts mit dem Glauben zu tun hatten, im Interesse des Königs gerettet wurde). Die Vernichtung des Archivs, bestätigt ein aristokratischer Chronist, fand allgemeinen Beifall, denn wären solche Erinnerungsstücke, Gott bewahre, durch Zufall nach drau­ßen gelangt, so wäre es gewesen, wie wenn viele, sehr viele Familien aus Palermo und dem ganzen Königreich, sowohl solche aus den Reihen der ad­ligen als auch der ehrenwerten und bürgerlichen Familien, mit schwarzen Malen besudelt worden wären[i]. Und es leuchtet ein, dass der Chronist sich mehr um die Namen der Denunzianten sorgt, die anhand dieser Papiere hätten ans Licht kommen können, als um die der Beschuldigten; weil das Heilige Tribunal ein solch aus­gedehntes Netz von Spionen ge­habt haben musste (unter den Adligen, den Bürgerlichen, den Ehrenwerten), dass sich jenes der OVRA im Vergleich dazu geradezu blass und unscheinbar ausnimmt. Aber auf das Ereignis, das zur Vernichtung des Archivs führte, werden wir noch zu sprechen kommen.

Eine ergiebige Quelle für die Erforschung der Inquisition in Sizilien – allerdings nicht ergiebig genug, um den Verlust des Inquisitionsarchivs in Pa­lermo wettzumachen – ist das Archiv von Madrid, in das vor fünfzig Jahren die Papiere der Inquisition gebracht wurden, die zuvor im Archiv von Simancas gelagert hatten. Aber für unseren Fall des Fra Diego erweist sich die Quelle als wenig ergiebig. Alles, was es diesbezüg­lich in Madrid gibt, beschränkt sich auf eine relación sumaria des Glaubensaktes und auf folgende Notiz:

Fray Diego la Matina, natural de Rabalmuto, Diocesis de Girgento, de edad de 37 años, religioso profeso de los Reformadores de S. Agustín, de orden Diacono, per hereje formal, reincidivo, ho­micida de un señor In­quisidor in odium fidei, Impeniten­te, Pertinaz, In­cor­regibile, auto, con in­signias de Rela­xado, donde se le lea su sentencia, y de­spuo de degradado, sea Relaxado a la Justicia temporal.

(Fra Diego la Matina, aus Racalmuto, Diözese Girgenti,  stammend, 37 Jahre alt, Mönch des Ordens der Reformierten Augustiner, Diakon, wurde wegen förmlicher Häresie, Rückfälligkeit, Mord an einem Diener in odium fidei der Inquisition degradiert, und zudem, weil er sich als verstockt, hartnäckig und unbelehrbar erwies, Zeichen von Herablassung zeigte, der weltlichen Justiz überlassen.)


[i]Diari della città di Palermo dal secolo XVI al XIX, a cura di Gioacchino Di Marzo, volume XVII, Palermo 1880: del Marchese di Villabianca.

Statue von Leonardo Sciascia in seinem Geburtsort Racalmuto © Wiki-Commons

Hinweis der Red.: Von Monika Lustig übersetzt, erschien 2016 als Band 377 der Anderen Bibliothek Leonardo Sciascias „Das ägyptische Konzil“. Die wahre Geschichte einer unglaublichen Fälschung im sizilianischen Palermo zu Ende des 18. Jahrhunderts.

Und für eine größere Einnordnung dieses Autors im Kontext: Thomas Wörtches Vortrag über Europäische Kriminalliteratur: Krimi, Kriminalliteratur, regional, europäisch …

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