
Mit der Seele eines Fälschers
Zu Antoine Volodines Antikrimi
Der Roman gehört zu den avantgardistischsten Büchern, die seit 2005 auf der Krimibestenliste standen. „Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher“ ist in Aufbau und Struktur schwer durchschaubar, changiert zwischen verschiedenen Realitäts- und Erfindungsebenen sowie Erzählformen. Sehr vereinfacht gesagt, protestiert Antoine Volodine mit seiner Literatur gegen Konsumismus, Materialismus, bürgerliche Gesellschaft durch ästhetisch organisierte Unordnung. Der Ruf der Pariser Studenten von 68 „Die Phantasie an die Macht“ könnte auch sein Schlachtruf sein, wüsste er nicht allzu genau, dass die Macht ein „Schweinesystem“ ist, in dem die Schweine, ihre Hüter wie auch ihre Besitzer gemeinsam an dessen Aufrechterhaltung interessiert sind. Dagegen setzt Volodine eine Literatur der Ungewissheit, die Volodine in theoretischen Schriften wie auch im vorliegenden Roman sowohl praktiziert als auch propagiert.
Über das, was ein „Autor“ ist, hat Volodine eigenwillige Vorstellungen: Da er dieses Wesen vermutlich als Kollektiv betrachtet, oder als Fokus unterschiedlicher geistiger und kultureller Strömungen, auf keinen Fall als mit sich identische genialische Quelle höherer Weisheit, schreibt er selbst unter zahlreichen Heteronymen. Eines davon taucht in den „Einzelheiten“ auf: „Infernus Iohannes“.
Als Antoine Volodine 2014 mit dem renommierten Prix Médicis ausgezeichnet wurde, offenbarte das Lokalblatt Le Journal de Saône et Loire Einzelheiten seiner bisher bewusst im unklaren gehaltenen Biografie: Er ist 1950 in Chalon-sur-Saône geboren, wo er bis heute lebt, wenn er nicht auf Reisen ist. Er ist kein Russe, als der er lange galt, sondern heißt Jean Desvignes und ist ein Sohn der Schriftstellerin Lucette Desvignes.

In „Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher“ ist jedenfalls die Phantasie nicht an der Macht. Sie ist vielmehr ein Fluchtweg ohne Ziel, ein monströser, ausgeklügelter, verschlüsselter Widerstand gegen die Macht des Faktischen, eine mühsame gebändigte Orgie des Anrennens gegen das Absurde und die Niederlage, die nicht nur die Aktionen der RAF waren, sondern die das Leben selbst ist. Der Roman ist 1990 erschienen, wurde 1992 ins Deutsche übersetzt, aber erst jetzt in der ruhmvollen Edition Converso veröffentlicht. Dazu mehr im instruktiven Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Holger Fock. (Hier ein Interview Focks mit Volodine.)
Die Protagonisten, ein BKA-Mann und eine RAF-Terroristin, riechen nach Krimi, rechtfertigen allein noch nicht die Aufnahme dieses exzentrischen Buches in die Krimibestenliste. Die beiden befinden sich, wie damals viele Flüchtlinge aus Nazideutschland, am Rande Europas, in Lissabon (Lisbone dernière marge lautet der Originaltitel). Kurt Wellenkind (BKA) hat sich in Ingrid Vogel (RAF) verliebt, ihr unter Beschaffung einer Ersatzleiche zur Flucht verholfen, die sie in wenigen Tagen weiter Richtung Asien fortsetzen wird. In der Zeit bis zu ihrer endgültigen Trennung und Abreise (es bleibt offen, ob sie sie antritt) flanieren die beiden durch das Lissabon nach der Nelkenrevolution, vögeln und reden. Wobei, wie bei den meisten Gesprächen, das meiste ungesagt bleibt. Das Gedachte steht in dem, was wir lesen können: in einer Rahmenhandlung und einem Roman im Roman. Denn Ingrid Vogel hat einen Schlüsselroman über ihre terroristische Vergangenheit und die Gesellschaft im Kopf, den sie während der Gespräche mit Kurt, ihrer „Dogge“, ihrem „Bullenschwein“ weiterspinnt. Sein Titel: „Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher“.
Und der entspricht ganz dem Konzept von Literatur, das Antoine Volodine verfolgt. Hier sei nur ein Aspekt dieses literarischen Wunderwerks hervorgehoben. Bekannte Realitätsbezüge des Krimis (Verfolgung, Polizei, Verbrecher, Jagd, Flucht, Verschlüsselung, Waffen, Täuschung, Fälschung usw.) sind ihrer gewohnten kriminellen Verweise entkleidet und als Signale für etwas anderes versetzt in ein fremd-verwandtes Zeichensystem literarischer Fehden zwischen Kommunen, deren Kampfnamen denen realer Terroristen ähneln: Waltraud Scholl, Katalina Raspe. Das hat nur dem Anklang nach noch etwas mit der ursprünglichen Verbindung der kriminellen Topoi mit der ausgedachten, uniformierten, „sozialdemokratischen“ Realität des Romans zu tun.
Ingrids Schlüsselroman darf insbesondere von den kompetenten Literaturkritikern der Fahndungsbehörden nicht verstanden werden. Ingrid soll ja spurlos verschwinden. Und doch sollen die Rahmenhandlung – die Flüchtlingsgespräche in Lissabon – wie der Schlüsselroman alles das enthalten, was Ingrid und Volodine über ihre Aktionen als Terroristin zu sagen haben. Bloß als eine andere Art der Wahrheit, einer literarischen, verklausulierten.

Das (eh schon konstruierte) Versprechen des klassischen Detektivromans, der Leser solle, sei er denn schlau genug, alle Ermittlungsschritte des Detektivs nachvollziehen können, wird vollends konterkariert. Ob der Leser in „Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher“ überhaupt Zusammenhänge erkennt, hängt ausschließlich von seiner eigenen künstlerischen Imagination ab. Ob sie den Pamphleten, Schaggås (Volodine hat sogar eine eigene Literatur dieses Namens erfunden), Fabeln und Literaturfehden, die Ingrid/Volodine uns auftischen, einen Sinn abgewinnen kann, liegt bei der Leserin selbst.
Das ist der Antikrimi schlechthin: keine Aussage über Verbrechen und Wirklichkeit, reine finster leuchtende Fiktion. Selbst der Mythos der RAF, der wie ein versteinerter Tumor in der Gesellschaft steckt, wird in die zersetzende Luft der Literatur aufgelöst. „RAF gleich Terrorismus“ wird zu „Wir waren jung damals, um gegen die unverzeihliche Absurditätder Welt zu kämpfen, und WIR HATTEN WAFFEN.“ Ein Beitrag zu dem Aufsatzthema, das sich die beiden Liebenden stellen: „Kann Selbstmord vor dem Ertrinken retten?“ Volodines Kunst: wer ihm auf seinen ausgeklügelten Pfaden folgt, bekommt das Gehirn durchgepustet und eine Ahnung, was Freiheit sein könnte.
Antoine Volodine: Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher (Lisbonne Dernière Marge, 1990). Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Holger Fock. Edition Converso, Karlsruhe, 2023. 304 Seiten, 25 Euro.
Überarbeitete Fassung des Textes zur Krimibestenliste Februar im Blog von Tobias Gohlis. – Und siehe auch in unserer Februarausgabe Thomas Wörtche über ein großes, nicht gerade marktgängiges Buch: Literarische Abenteuer garantiert.