Geschrieben am 1. September 2019 von für Crimemag, CrimeMag September 2019

Kurzgeschichte von Robert Rescue (13)

Der Necronomicon-Mörder 

Vor etwa einem Jahr sorgte eine spektakuläre Mordserie für Aufregung in Berlin. Das Besondere an den Morden war, dass der Täter zur seltenen Gattung der „Zielgruppenmörder“ gehörte, das heißt, die Opfer stammten aus einer Bevölkerungsschicht oder einer Berufsgruppe. In diesem Fall gerieten nur Buchhändler und Buchhändlerinnen ins Visier, wobei der Täter aus Gründen der Deckung nur kleine Buchhandlungen mit wenig Publikum aufsuchte. Geschäfte wie Dussmann oder Filialen von Thalia blieben von ihm verschont.

Zwei weitere Faktoren, die den Necronomicon-Mörder nicht gerade auszeichneten, ihn aber zumindest in der Kriminalhistorie beinahe einzigartig machten, waren die Umstände, dass er zum einen seinen Namen erst erhielt, als er verhaftet wurde und gestanden hatte und zum anderen, dass seine Taten einem literarischen Motiv folgten.

Das perfide an den Taten des arbeitslosen Literaturwissenschaftlers Hans-Ulrich Müller war zweifellos der Umstand, dass er seinen Opfern die Möglichkeit gab, ihr Leben zu retten, wenn sie, in den Augen des Täters, richtig reagierten. Neben all den Besonderheiten seines Handelns offenbarte der Necronomicon-Mörder aber auch eine Kehrseite, denn er hinterließ leichtfertig Spuren, die ihm letztlich zum Verhängnis wurden. Polizeihauptkommissar Bernd Schieferdecker erklärt den Sachverhalt: „Sämtliche 24 Fälle ereigneten sich im Wedding. Das legte schnell den Schluss nahe, dass der Necronomicon-Mörder eine Vorliebe für diesen Bezirk hatte oder dort wohnte. Vom letzteren gingen wir schließlich aus, wobei wir den Umstand berücksichtigen mussten, dass viele Weddinger fundamentalistische Kiezisten sind, die in manchen ganz fundamentalistischen Fällen nicht einmal die andere Straßenseite kennen. Der Necronomicon-Mörder war wohl nicht so jemand, denn er hätte auf seiner Straßenseite oder ums Eck nicht so viele Buchläden gefunden. Nach Mitte oder Prenzlauer Berg zu fahren, wo es statistisch gesehen mehr Buchhandlungen gibt als im Wedding, kam für ihn wohl nicht in Frage.“

Wie ging der Täter nun vor? Der Forensiker Rolf-Dieter Husen hat anhand der Lage der Leiche eines der ermordeten Buchhändler einen möglichen Tatablauf rekonstruiert: 

„Also es ist anzunehmen, dass der Mörder den Buchladen betreten hat, also ganz normal so mit Türe öffnen und die typische Bimmel. Dann ist er nach vorne zum Tresen gegangen und wirkte dabei noch wie ein ganz normaler Kunde. Dann hat er wohl den Buchhändler was gefragt oder direkt was bestellt. Was er bestellt hat, kann ich aus der Lage der Leiche ablesen. 

Entweder war es „Der Räuber Hotzenplotz“ von Otfried Preußler oder aber „Der Klient“ von John Grisham. Da der Täter vermutlich ein erwachsener Mann um die Ende dreißig war, kann es sich eigentlich nur um das Buch von John Grisham handeln. Ich denke, der Buchhändler meinte nach einem Blick in die Datenbank, dass das Buch nicht lieferbar sei, woraufhin der Täter zur Waffe griff und sein Gegenüber erschoss. Womöglich war der Mörder ein frustrierter Leser, der es nicht ertragen konnte, dass das von ihm gewünschte Buch gerade nicht lieferbar war.“

Die Buchhändlerin Ilse Kehrscheid lebte in Angst und Schrecken, als der Mörder umging. Sie achtete bei jedem Kunden auf Auffälligkeiten. Eines Tages betrat der Mörder den Laden. Ilse Kehrscheid erinnert sich: „Dass er eine Maske über den Kopf gezogen hatte, war nichts Ungewöhnliches. Das ist im Wedding normal. Dreimal täglich kommen irgendwelche arabischen Halbwüchsigen mit Masken über dem Kopf herein und erzählen kaum verständlich, dass sie die Kasse haben wollen. Ich drücke denen dann Bonbons in die Hände und schicke sie wieder nach Hause. Ich habe dann unter dem Ladentisch nach der Pump-Gun gegriffen, die ich sonst bei Kunden einsetze, die um den Buchpreis feilschen wollen oder bei den Migrantenkindern, wenn sie die Bonbons reklamieren. Also der Mann kam nach vorne und sagte zu mir: „Ich möchte bitte das Buch „Necronomicon“ bestellen.“ Ich habe dann angefangen, schallend zu lachen und hätte beinahe den Abzug von der Pump-Gun betätigt. Sie müssen wissen, ich habe meine Magisterarbeit, also ich bin studiert, müssen Sie wissen, also meine Magisterarbeit habe ich über den amerikanischen Autoren H. P. Lovecraft geschrieben und dessen Werk. In seinem Cthulhu-Mythos beschreibt er ein fiktives Buch namens Necronomicon. 

Wer das Buch lesen kann, herrscht über Dämonen und anderes Getier, kann durch die Dimensionen reisen und Tote wieder zum Leben erwecken. 

Insgesamt mache die Lektüre des Buches, so Lovecraft, wahnsinnig. Das letztere dachte ich bislang von den Büchern der Brauseboys. Na ja, auf jeden Fall schaute mich der Kunde merkwürdig an und ich erzählte ihm die Geschichte, so wie ich sie Ihnen gerade erzählt habe. Allerdings habe ich den Schluss mit den Brauseboys nicht erwähnt, weil ich endlich mal eines von ihren Büchern verkaufen wollte. Der Mann hat dann mehrfach erregt genickt und schließlich die Autobiographie von Donald Trump gekauft, die dem Necronomicon ähnelt, zumindest was den Wahnsinn betrifft. Später habe ich übrigens die Pump-Gun noch einsetzen müssen. Ein Migrantenvater kam mit seinen Balgen rein und beschwerte sich, dass ich denen Bonbons statt der Kasse gegeben habe. Da reichte ein kurzes Hochhalten und der Laden war wieder leer.“

Ilse Kehrscheid hat das Aufeinandertreffen mit dem Mörder überlebt. Aber warum? Wegen des ominösen Buches Necronomicon, das er gar nicht gibt, weil es eine literarische Fiktion ist? Wir kommen der Lösung näher. 

Hören wir zuletzt Ingolf Neuer, der schwer verletzt die Begegnung mit dem Mörder überlebte, sich dabei aber gänzlich anders verhielt als Ilse Kehrscheid:

„Sagte was von Necronomicon. Ich zurück: „Was für ne ISBN, welcher Autor, welcher Verlag? Mensch Leute, wenn ihr diese Angaben nicht parat habt, dann bleibt doch zuhause und bestellt doch gleich bei diesem Amazonas oder wie das heißt.“ Meine Kunden lieben es, wenn ich so mit ihnen umgehe. Er sagte dann: ISBN gibts nich, Autor heißt Abdul Alhazred, Verlag is unbekannt.“ Ich dann gedacht, was isn das für nen Vogel und hab die Datenbank gefragt. Kein Ergebnis. Hab dann gesagt: „Buch gibts nich“. Er dann, daran erinnere ich mich noch genau: „Das Necronomicon gibt es tatsächlich nicht. Dass Sie als Buchhändler nicht in der Lage sind, diesen literaturwissenschaftlichen Fakt korrekt und sofort mitzuteilen, sondern Ihre Datenbank dazu befragen, zeigt mir, dass Sie keine Ahnung von Literatur haben. Das erzürnt mich und deshalb müssen sie sterben.“ Ja, dann machte es bumm und ich lag flach.“

Nach dieser Aussage ging der Polizei ein Licht auf. Nur wenige Tage später war die Falle vorbereitet. 

Ein neueröffneter Buchladen pries eine begrenzte Anzahl Bücher Necronomicon zu günstigen Preisen an. Polizeihauptkommissar Schieferdecker berichtet von der riskanten Operation: „Eigentlich musste der Mörder die Falle riechen, denn es war verdächtig, einen neuen Buchladen aufzumachen, nachdem eine ganze Reihe, in gewisser Weise, „zugemacht“ hatten. Aber wir hofften, ihn durch den Hinweis auf das Buch Necronomicon anzulocken. Nach Ladenöffnung kam zunächst ein Haufen Weddinger herein, die unmaskiert und damit unverdächtig waren. Denen haben wir dann einen Haufen Rosamunde Pilcher-Remittenden, die wir für 1,45 Euro eingekauft haben, für 3,50 Euro das Stück verkauft, natürlich versehen mit einem getürkten Einband. Die denken wahrscheinlich, dass sie jetzt ihre ungeliebte Frau in eine Kröte verwandeln können oder ihre Cent-Sammlung in Euroscheine. Vielleicht waren es aber auch nur die üblichen Schnäppchenjäger, die das Buch ins Regal stellen und sagen: „Boah, billig gekauft.“ Dann endlich kam der Necronomicon-Mörder. Maskiert und die Waffe umständlich unter der Jacke verstaut. Er kam zur Kasse und bevor er was sagen konnte, sind wir aus unseren Verstecken aufgetaucht, haben die Handschellen gezückt und uns auf ihn geworfen. Der Kollege Bernhard allerdings nicht, den hatten wir zur Tür befohlen, damit er diese ausfüllt. Mit seinen 140 Kilo hätte er entweder den Mörder erdrückt oder uns. Als wir den Täter schließlich aufstellten, sah er mit der Maske und den ganzen Handschellen aus wie das Opfer einer wahnsinnig gewordenen Domina.“

Der Necronomicon-Mörder wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt und nach Moabit geschafft. Ein halbes Jahr später trat ein Nachahmer auf den Plan. 

Luitpold Spätzle aus dem Prenzlauer Berg hatte es ebenfalls auf Buchhändler abgesehen, doch ließ er nur die am Leben, die sich weigerten, ihm „Das große Hesse/Schrader Bewerbungshandbuch“ von Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader zu verkaufen.

Das waren leider nicht viele … 

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

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