Geschrieben am 1. November 2021 von für Crimemag, CrimeMag November 2021

Kolumne Iris Boss (17)

Das Haus der fröhlichen Putzfrauen 

Einige Gedanken über die Ungleichheit in unserer Gesellschaft

Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist. (Bertolt Brecht, Dreigroschenoper)

Das Haus, auf das ich von meinem Fenster aus blicke, ist ein grauer Klotz mit einem Holzaufbau auf der gemeinschaftlichen Dachterrasse und gehört Menschen zwischen Mitte 30 und Mitte 50 mit jeweils einem Kind und einem Lastenrad. Dass sie ihre Wohnungen so gut wie identisch eingerichtet haben, kann ich, im Gegensatz zu ihnen, aus meiner Aussenperspektive gut sehen. Modernes skandinavisches Design, die teure Version und nicht der schwedische Billigkram zum selbst Zusammenbauen. Und auch die Bewohner sehen sich ähnlich. Eigentlich kann ich sie fast nur anhand ihrer Fahrradhelme unterscheiden, wenn sie das Haus betreten oder verlassen. Die Kinder tragen die Helme sogar beim seltenen Spielen im Garten. 

Es sind ruhige und somit angenehme Nachbarn. Die Balkone und die Dachterrasse werden kaum benutzt. Auch die Sauna, die letzten Herbst auf dem Dach aufgestellt wurde und die beiden Weber Grills, die dort stehen, habe ich noch nie jemanden benutzen sehen. „Hauptsache, wir haben es!“, scheint die Devise zu sein. Dass das alles einem Klischee entspricht, heisst nicht, dass es nicht wahr ist. 

Vormittags unter der Woche allerdings wandelt sich das Bild: Das Haus gehört dann den Putzfrauen. Aus den geöffneten Fenstern des sonst so stillen Hauses ertönt eine Kakofonie aus fünf bis zehn verschiedenen Musikanlagen, auf den Balkonen werden Rauchpausen gemacht, über Stockwerke hinweg laute Gespräche in unterschiedlichsten Sprachen geführt und viel gelacht. Wenn ich die Szene mit einem phänomenologischen Blick betrachtete und wählen müsste, ob ich lieber eine Bewohnerin des Hauses oder eine ihrer Putzfrauen wäre, würde ich mich ohne Zögern für Letztere entscheiden. Ganz einfach, weil sie glücklicher und lebendiger wirken. 

Natürlich wird dieses Betrachtungsweise sozialromantisch, sobald ich mein Wissen über unsere Gesellschaft hinzuziehe, mir klarmache, wie viel länger eine der „fröhlichen Putzfrauen“ auf einen Arzttermin für sich oder eines ihrer Kinder warten muss, wie viel weniger sie in gesunde Ernährung, Bildung und Erholung investieren kann, wie viel näher sie der Gefahr ist, ihre Wohnung oder ihre Autonomie zu verlieren. Ganz abgesehen davon, dass es wahrscheinlich höchst selten vorkommt, dass jemand seine Berufung und Selbstverwirklichung in der Raumpflege findet. (Wobei: Warum setze ich so selbstverständlich voraus, dass die Hausbewohnerinnen sich in ihren Berufen mehr verwirklichen können, nur weil sie wahrscheinlich einiges mehr verdienen als ihre Putzfrauen?)

Klar, als Mensch, der in dieser Gesellschaft (und durch die Globalisierung gibt es eigentlich nur noch die eine) sozialisiert wurde, weiß ich, dass die Menge an Ressourcen über das Maß an Freiheit, Sicherheit, Gesundheit und somit auch Glück entscheidet. Ich habe auch gelernt, dass man unter Ressourcen ausschließlich Geld und alles, was zu Geld zu machen ist, versteht. Und an allererster Stelle habe ich verinnerlicht, dass ich allein die Verantwortung dafür trage, über wie viele Ressourcen ich verfüge und somit auch die Schuld, wenn es nicht so viele sind. 

Dieses Dogma hat zwei große Schwachpunkte: Erstens, wo ist der Beweis, dass mehr tatsächlich mehr ist? Vor allem in puncto Glück sagen mir meine Erfahrungen etwas anderes. Ich bin als Schauspielerin in einer besonderen gesellschaftlichen Position: Obwohl ich zum Prekariat gehöre, habe ich doch immer wieder mit wohlhabenden bis sehr reichen Menschen zu tun. Ich habe unter ihnen einige wenige getroffen, die ich als „zufrieden“ bezeichnen würde und immer waren es diejenigen, die ihr Geld benutzt haben, um andere zu unterstützen. Viel öfter habe ich jedoch einen gewissen Vampirismus gespürt: Ich sollte etwas „echtes Leben“ zu ihren Partys und Abendessen beisteuern, Geschichten aus dem „verrückten Künstlerleben“ erzählen, Erlebnisse liefern, die man sich mit Geld nicht kaufen kann. Auf der anderen Seite habe ich auf Reisen und Tourneen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass in ärmeren Gegenden einfach die freundlicheren, entspannteren und humorvolleren Menschen leben. Tja, und trotzdem würde ich das Angebot, monatlich ein paar 1000 Euro mehr auf dem Konto zu haben, ziemlich sicher nicht ablehnen. Denn man kann es drehen und wenden, wie man will: Geld kann das Leben in vielen Bereichen leichter, angenehmer und weniger bedrohlich machen. Und damit kommen wir zum zweiten Punkt:

 „Farbige sind in diesem Restaurant nicht erwünscht!“, „Homosexuelle können in dieser Praxis leider nicht behandelt werden“, „Frauen ist es untersagt, hochwertige Kleidung zu tragen!“, „Kinder von Eltern mit körperlichen Beeinträchtigungen sind in dieser Schule nicht erwünscht!“ – Jeder aufgeklärte Mensch würde zu Recht mit großer Empörung auf solche und ähnliche Aussagen reagieren. Ja, sie würden gegen das Recht verstoßen und könnten zur Anzeige gebracht werden. Jedem aufgeklärten Menschen ist zudem klar, dass niemand die Wahl hat, was seine Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder sein Geschlecht betrifft und dass darüber hinaus eine Wertung von Menschen aufgrund dieser Merkmale rein willkürlich und ziemlich beschränkt ist. Dass wir arme Menschen auf exakt diese Weise ausschliessen und diskriminieren, nehmen wir schlicht nicht mehr wahr – es scheint uns selbstverständlich, ja sogar gerecht. Und das, obwohl längst hinlänglich bekannt und bewiesen ist, dass man der angeborenen Armut ähnlich schwer entkommt wie der angeborenen Hautfarbe. Sicher, es gibt sie, die Selfmademen und -women, aber sie sind ganz eindeutig die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Sensibilität für Diskriminierung ist großartig, aber wenn „Diversity“ bedeutet, dass man keinen Unterschied mehr macht zwischen Schwarz und Weiß, Männern und Frauen, Hetero- und Homosexuellen – die Ungleichbehandlung von armen Schwarzen und reichen Schwarzen, armen Frauen und reichen Frauen, armen Homosexuellen und reichen Heterosexuellen jedoch nicht nur bestehen bleibt, sondern sich sogar verfestigt, ist sie im besten Fall ein alberner Trend, viel eher aber eine gefährliche Entwicklung.

Dabei kann ich noch nachvollziehen, dass reiche Leute kein Interesse daran haben, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu ändern. Selbst diejenigen unter ihnen, die eben mal ein paar Tausender in einen Wochenend-Workshop „für mehr Verbundenheit und Mindfulness“ investieren, erbringen die dissoziative Leistung, die es braucht, um die Verbundenheit und Achtsamkeit eben nur auf sich und ihresgleichen zu beschränken, mühelos. Dass jedoch auch die Armen diese Ungerechtigkeit hinnehmen, statt auf der Straße brennende Barrikaden zu errichten, kann ich mir nur damit erklären, dass die Lüge, jedem von uns würden die finanziellen Mittel zugeteilt, die er durch sein Talent und seinen Fleiß wert sei, so tief im kollektiven Bewusstsein verankert ist, dass Armut bei den Betroffenen Scham statt Wut auslöst. Was man sich leisten kann, hängt davon ab, was man leistet. Punkt. Ganz schön clever! Und nicht nur die Wut nehmen wir den Armen, sondern auch jede Form von Stolz und Würde: Wie soll man würdevoll für die eigene Abschaffung sein? Man kann stolz darauf sein, eine Frau zu sein, schwarz zu sein, queer zu sein. Aber arm? Arm sein will keiner! 

Und ich spreche hier nur von der Verteilung des Vermögens innerhalb Deutschlands. Dass es nicht unserem Talent oder unserem Fleiß geschuldet ist, dass wir in einem der reichsten Länder der Welt geboren wurden, müsste sich eigentlich von selbst verstehen – Müsste, tut es aber nicht. Denn wenn wir das wirklich sehen und verstehen würden, müsste darauf Veränderung folgen. Damit dies nicht geschieht, erzählen wir uns – egal ob arm oder reich – weiter das Märchen von Chancengleichheit und der Nichtexistenz einer Klassengesellschaft. 

Nach der letzten Wahl (aber eigentlich nach jeder Wahl) habe ich fassungslos, aber keineswegs überrascht, auf die Ergebnisse geblickt. Sie lassen keinen anderen Rückschluss zu, als dass ein nicht geringer Teil der Wähler*innen aus den unteren Schichten gegen sich selbst gestimmt hat, bzw. für Parteien, die nicht für eine Verbesserung ihrer Situation stehen. Ich glaube nicht, dass das aus Mangel an Information oder Dummheit geschieht, sondern dass die Scham, arm zu sein, so groß ist, dass man sich, koste es, was es wolle, mit der Klasse der Reichen, bzw. mit den Parteien, die deren Interessen vertreten, identifiziert. Vereinfacht gesagt: Looser wählen Looser-Parteien, Gewinner wählen Gewinner. Natürlich ist das ein rein unterbewusster Prozess, dadurch aber umso mächtiger.

Um aus diesem Teufelskreis ausbrechen zu können, bräuchten wir eine konsequente Neubewertung verschiedener Tätigkeiten und davon, was den Wert eines Menschen eigentlich ausmacht. Ist die Arbeit einer Kita-Betreuerin weniger wert als die der Chirurgin, deren Kinder sie betreut und somit gewährleistet, dass Operationen wie geplant durchgeführt werden können? Ist die Arbeit eines Hedgefonds-Managers für unsere Gesellschaft tatsächlich so viel mehr wert als die eines Altenpflegers? Und wäre es nicht endlich mal an der Zeit, unser Menschenbild zu modernisieren? Zum Beispiel einfach einmal daran zu glauben, dass andere Menschen, genau wie wir, Teil einer Gemeinschaft sein wollen, den Wusch haben, gebraucht zu werden, wichtig zu sein. Und dass schon allein dieses Bestreben einen Menschen wertvoll macht.   

Inzwischen ist es Nachmittag. Die Fenster im Haus gegenüber werden geschlossen. „Verrückt“, denke ich, „egal, wie sehr die Gleichberechtigung scheinbar voranschreitet: Für jede Frau, die sowas wie eine Karriere macht, müssen mehrere Frauen angestellt werden, die dann eben doch die „Frauenarbeit“, das Putzen, die Care-Arbeit, den ganzen Scheiss erledigen…“

Die Frage, ob ich lieber Putzfrau oder Wohnungsbesitzerin wäre, habe ich mir noch immer nicht abschließend beantwortet. Ich glaube, am liebsten bleibe ich einfach ich: Ich kann mir zwar keine Putzfrau leisten, aber ich kann es mir leisten, die Putzfrauen anderer beim Arbeiten zu beobachten und das ist doch eigentlich ein ganz schöner Luxus.

Iris Boss ist Diplomschauspielerin (U.d.K. Berlin) und eine erfahrene Sprecherin. 2021 gründete sie ihr eigenes Studio „CURRY-HAHN-RECORDS“ in Berlin. Neben dem Einsatz als Sprecherin in Fremdstudios bietet sie Sprachaufnahmen, Schnitt, Bearbeitung in professioneller Qualität direkt aus dem Home-Studio an. CURRY-HAHN-RECORDS im Netz.

Mit vielen neuen Hörproben direkt aus dem Home-Studio. Vieles ist gerade in Arbeit und kommt in nächster Zeit dazu.

Iris Boss bei uns.