Geschrieben am 1. Dezember 2021 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2021, News

Kolumne Iris Boss (18)

Deep Fall – Highlife

Seit 2020 verbinde ich Golf irgendwie mit dem Ende. Nicht mit dem sprichwörtlichen Ende des Sexlebens (obwohl auch dieses bei mir momentan bracher nicht liegen könnte), sondern mit dem Ende der Ausübung meines Berufs. Die gerade begonnene Theatertournee vor etwas über einem Jahr endete in einem Golfhotel in Luxemburg. Dort waren wir untergebracht, als wir unsere vorläufig letzte Vorstellung spielten, bevor die Theatersäle auch in Luxemburg geschlossen und wir in einem proppenvollen Flugzeug in den Lockdown geschickt wurden. Diese prekäre, ja existentiell bedrohliche Zeit in einem Luxushotel, umgeben von Golfspielern zu verbringen, hatte etwas höchst Surreales. 

Und jetzt sitze ich wieder in einem Golfhotel und es fühlt sich nicht minder unwirklich an. Dieses Mal liegt es dicht an die Autobahn geschmiegt, irgendwo in der Nähe von Köln. Ich verweile schon ungern gegen Bezahlung hier und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand auf die perverse Idee kommt, auch noch dafür zu bezahlen. Nicht weit von hier trafen sich letzte Woche 50.000 Fußballfans – größtenteils ohne Maske, von Abstand gar nicht zu reden. Zeitgleich standen wir, irgendwo in Deutschland auf der Bühne und blickten dankbar und gleichzeitig besorgt auf einen aus Infektionsschutzgründen zu 20% besetzten Saal und unsere maskierten Zuschauer.  

Seit Anfang November schießt unser Ensemble wie eine verrückt gewordene Flipperkugel kreuz und quer durch die Republik – mit dem für eine Flipperkugel ungewöhnlichen Auftrag, nicht zum Stillstand zu kommen. Mit zielgenauer Zufälligkeit (falls es sowas gibt), haben wir Sachsen gar nicht erst angesteuert und Bayern ganz am Anfang abgehakt. So sehr mir das Rumgeeier der alten und der neuen Regierung als Privatperson an den Nerven zehrt, so sehr profitiere ich beruflich davon: Solange keine Entscheidungen getroffen werden, darf ich meinem Beruf nachgehen. Oft stehe ich beim Applaus mit unprofessionellen Rührung auf der Bühne, mit einer überwältigenden Dankbarkeit den Menschen gegenüber, die da unten sitzen und dem pathetischen Gedanken: „Wer weiß, wie lange es so was wie Theater noch gibt!“

Und dann gibt es ja auch noch die pragmatische Seite: Nur eine gespielte Vorstellung ist eine bezahlte Vorstellung. Das schwächste Glied in der Kette bezahlt die Rechnung für diejenigen, mit denen es angeblich in einem Boot sitzt. Das war schon vor Corona so und ist keine Böswilligkeit des jeweiligen Arbeitgebers, sondern einfach bestehendes Vertragsrecht unserer Branche. Aber das ist ein anderes Thema und würde den Rahmen sprengen… 

Bis jetzt hatten wir Glück: Nur eine einzige Vorstellung wurde abgesagt. Noch flippert die Kugel mit unverschämtem Schwein durch die führungslose Nation, noch wurde sie nicht eingelocht. Womit wir wieder beim Golfhotel wären:  

In vielen Hotels sind die Fenster nur durch das Hotelpersonal mit einem Schlüssel zu öffnen: Als Schutz vor Verunreinigung durch lebensüberdrüssige, aufgeplatzte Gästekörper, wie man mir erklärte. Nirgends wäre diese Maßnahme sinnvoller als hier. Aber die Fenster meines Zimmers lassen sich ohne Probleme öffnen. Der einzige Grund, dies zu tun, wäre allerdings tatsächlich der Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen. Fünf Meter vor meinem Fenster erhebt sich der Wall, der mich die Autobahn zwar nicht sehen, durchaus aber hören lässt. Das heißt: Hören ließe. Denn da die Heizung im Zimmer nur funktioniert, solange das Gebläse der Klimaanlage auf höchster Stufe läuft, ist außer ihrem lauten Rauschen nichts zu hören. Ein ebenso minimalistischer wie passender Soundtrack zu einer Szene, die eigentlich in einen Kaurismäki-Film gehörte: Eine müde Frau mit strähnigem Haar sitzt auf einem Hotelbett und trinkt Wodka aus einer Plastikflasche. Leider handelt es sich bei der traurigen Figur um mich. Mein Magen spielt verrückt seitdem ich angesichts der Alternative – hungrig ins Bett zu gehen, einen Viertel eines Nudelgerichts gegessen habe, das weder aussah, noch roch, noch schmeckte, wie etwas, das man essen sollte. Nach der Vorstellung erbettelte ich bei der Garderobiere etwas von dem billigen Wodka, der für die Reinigung der Kostüme verwendet wird: Einen Schluck gegen die drohende Lebensmittelvergiftung und dann noch ein paar Schlucke in meine leere Wasserflasche gefüllt für „zu Hause“, also mein Hotelzimmer – falls der Magen sich nicht beruhigt oder mich die Lüftung nicht schlafen lässt.  

Ich sitze also auf dem Bett, nuckle an meiner Plastikflasche, schaue dabei auf meine Hände, die sich durch das ständige Waschen und Desinfizieren in die Hände einer 90 Jährigen verwandelt haben, frage mich, ob das jetzt der traurige Höhepunkt meiner Karriere ist, frage mich, ob ich je wieder spielen werde und fange gerade an, mich so richtig schön in eine Mischung aus Selbstekel und -mitleid hineinzusteigern, da denke ich plötzlich an eine Begegnung vor einigen Tagen:

Irgendwo im Pott auf meinem täglichen Spaziergang zwischen Ankunft im Hotel und Vorstellung, frage ich drei Typen, die vor einem Büdchen am Rheinufer stehen, nach dem Weg zu einer Halbinsel auf dem Fluss. Er wird mir freundlich, gemeinschaftlich und ausführlich erklärt und als ich mich verabschiede, schließt sich mir der Jüngste von ihnen mit seinem zottligen, schwarzen Hund an der Leine an. Er wolle sowieso auch in die Richtung. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen: Mein Gehtempo ist flott und die kurze Zeit, die ich auf der Tournee für mich habe, wertvoll. Aber wir kommen schnell ins Gespräch. „Frührentner. Zeitsoldat. Zweimal Afghanistan. Jetzt Posttraumatische Belastungsstörung“, eine Kurzbiographie im Rapport-Stil. Es dauert eine Weile, bis ich diese Eckpunkte mit der Person, die da neben mir hergeht, in Einklang bringen kann: Ein Mann mit freundlichen, braunen Augen und einer angenehmen, klaren Stimme, gerade mal so groß wie ich und nicht viel schwerer. Er erzählt unaufdringlich und entspannt, keine Aggression, keine Verbitterung. Er sei zuerst aus der Pflegefamilie geflogen und dann aus dem Heim. Obdachlos mit 17 und „ich wollte irgendwas machen“. Was er da in Afghanistan erlebt habe, könne sich niemand vorstellen, der dort nicht gewesen sei. Womit er aber nicht klargekommen sei, was ihn habe zerbrechen lassen, sei die Rückkehr nach Deutschland gewesen: „Ich konnte das hier nicht mehr als Wirklichkeit sehen. Das, was die Menschen hier als Probleme sehen, die Kleinigkeiten, über die sie sich ärgern, das war alles so unwirklich und absurd. Ich hätte sie am liebsten den ganzen Tag angeschrien. Aber sogar dafür fehlte mir eine gemeinsame Sprache“. 

Eine Beziehung habe er noch nie in seinem Leben gehabt und das fehle ihm sehr. Einfach jemand, der da ist, ein Mensch, Umarmungen und so. Nach seiner zweiten Rückkehr habe er zur PTBS auch noch eine starke Schuppenflechte gekriegt. „Innerlich war ich ja schon ein Monster. Und dann eben auch noch äußerlich. Wer sollte sich denn auf so jemanden einlassen?“ Er gebe niemandem die Schuld dafür, wie es ihm jetzt gehe. „So ist das, wenn man die falschen Entscheidungen trifft“. Außerdem, das wiederholt er mehrmals, gehe es anderen viel schlechter als ihm.

Nächstes Jahr laufen seine Bezüge aus. Die Bundeswehr will nicht mehr zahlen. Er sei durch seine Kindheit schon vor dem Krieg traumatisiert gewesen, deshalb wollen sie die Behinderung durch das Kriegstrauma nicht anerkennen. Aber er wolle sowieso wieder arbeiten. Egal was, Hauptsache Kontakt zur Außenwelt. 

Er erzählt mir noch viel mehr: Pech, Ungerechtigkeit, Einsamkeit, Gleichgültigkeit und Grausamkeit – mehr als ein Mensch eigentlich ertragen kann. Und doch sind seine Schilderungen vollkommen frei von Selbstmitleid oder Hass. Im Gegenteil: Obwohl er erst Mitte 30 ist, macht er auf mich einen fast weisen Eindruck. Ich frage ihn, wie er das gemacht habe, wie er so klar und gelassen auf seine Geschichte blicken könne, ohne böse oder verbittert zu werden. „Hat lange gedauert. Aber ich habe halt angefangen, mich selbst zu hinterfragen. Ganz ehrlich? Also vor Afghanistan wäre ich ein AfD-Wähler gewesen, todsicher! Und jetzt, nach allem, was ich gesehen habe, würde ich sagen, ich bin Anarchist und Menschenfreund: Es kann mir nicht gut gehen, wenn es den anderen nicht gut geht, das habe ich gelernt.“

Über eine Stunde verbringen wir – der Mann, der Hund und ich – zusammen. Auf der Brücke, auf der sich unsere Wege trennen, bedanke ich mich, dass er mir seine Geschichte erzählt hat und wünsche ihm, dass seine Zukunft es besser mit ihm meine, als die Vergangenheit. „Ach was, das Leben ist doch schön!“ Spricht es, lächelt, dreht sich um und verschwindet samt Hund im nebeligen Tag. 

Ja, ich finde mein Leben auch schön! Dafür muss ich mich nicht einmal mit Menschen in Kriegsgebieten vergleichen. Auch in meiner unmittelbaren Nähe gibt es Menschen, die ganz andere Probleme haben als laute Lüftungen in 4-Sterne-Hotels oder minderwertige Spirituosen. Die Verbindung nicht aufgeben, sich nicht beleidigt zurückziehen, wenn das Leben oder die Mitmenschen nicht so wollen wie man selbst. Am Leben bleiben, begreifen, dass man selbst dafür zuständig ist, seine Augen zum Leuchten zu bringen, und dass man darauf kein automatisches Anrecht hat, es sich auch nicht kaufen kann. – Keine leichte Aufgabe. Vielleicht sogar eine Kunst. Diese spezielle Zeit bietet eine hervorragende Gelegenheit, sich in ihr zu üben.

Ich proste mir selbst im Spiegel am Bettende zu und trinke den letzten Schluck Fusel aus der Plastikflasche: „Auf das Leben! Das schönste, das ich habe!“ 

Iris Boss ist Diplomschauspielerin (U.d.K. Berlin) und eine erfahrene Sprecherin. 2021 gründete sie ihr eigenes Studio „CURRY-HAHN-RECORDS“ in Berlin. Neben dem Einsatz als Sprecherin in Fremdstudios bietet sie Sprachaufnahmen, Schnitt, Bearbeitung in professioneller Qualität direkt aus dem Home-Studio an. CURRY-HAHN-RECORDS im Netz.

Mit vielen neuen Hörproben direkt aus dem Home-Studio. Vieles ist gerade in Arbeit und kommt in nächster Zeit dazu.

Tags : , , ,