Geschrieben am 3. Februar 2019 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2019

Karel Poláček: Die Bezirksstadt

978-3-15-011183-3Trügerisches Idyll

Hazel Rosenstrauch über ein Buch mit Nachhall

Es gab einmal eine Zeit, die nicht gerast ist. Oder wie es in Karel Poláčeks Roman heißt: „Die Bezirksstadt ist mit Zeit angefüllt wie die Scheuern des Pharaos. Sie vergeht nicht.“ Wer wissen will, wie das war, „als man noch wusste, was sich gehört“, ist in der tschechischen Kleinstadt vor gut hundert Jahren gut aufgehoben. Dort sind die Häuser „dickleibig wie Buchteln“, das Personal ist übersichtlich, die Adjektive klingen vertraut und vertrauenserweckend: die Ziege ist störrisch, der Fluß fließt träge, Früchte plumpsen vom Birnbaum, Pferde haben dicke Hinterteile und Stuten sind dürr. Man darf sich von den wiederkehrenden Bildern nicht verführen lassen. Das Idyll ist trügerisch, Wortkombinationen und ganze Passagen wiederholen sich, und irgendwann kam ich auf die Idee, die Sätze laut vor mich hinzusprechen – dann klingt der Text wie Musik: Es gibt ein Hauptthema und viele Variationen. Die Stadt ist trostlos, das Leben langweilig, was manchmal auch schön ist, und in der Übersetzung von Antonín Brousek (der 2014 auch den braven Soldaten Schweijk bzw. Švejk übersetzt hatte) einen doppelten Boden, eine zweite und dritte Absicht ahnen lässt.

Der erste Ort, den die Leserin kennenlernt, ist das Armenhaus in einer Gegend mit „zerzausten Dächern“, es gleicht einer Festung. Der wichtigste „Held“, der das Leben in der Kleinstadt beobachtet, ist der Bettler Chaloun, triefäugig, mit eingefallenen Wangen, der mit seinem leeren Kiefer mahlt. Zum Wissen, was sich gehört und nicht gehört, zählt für den Bettler die Einsicht in die Gesetze seines elenden Lebens: der Gehorsam gegenüber einem bösartigen Aufpasser, der die Armen weg scheucht, wenn sie sich an Plätzen aufhalten, die ihnen nicht zustehen, zählen Verachtung, Kontrolle, Gewalt und Heuchelei.

Der Bettler steht vor der Kirche, er schaut durch Fenster, und weiß, wo sein Platz ist, wo er nicht sein, was er nicht tun oder essen darf. Er erzählt von einer Hochzeit, einer Filmvorführung, als laufende Bilder noch eine Sensation waren, Komödianten kommen in die Stadt, junge Menschen treffen sich heimlich … als könnte es immer so weitergehen. Im Wechsel von Präsens und Imperfekt erfährt man vom Leben des Kaufmanns, seiner Frau und den so unterschiedlichen drei Söhnen und es ist schwer zu sagen, ob sich der Autor der damals üblichen Klischees bedient oder realistisch schreibt. Damen binden Schleifen, Dampflok fällt mit Getöse im Bahnhof ein, zur Altherrenrunde in der Apotheke gehört der jüdische Spediteur und ein judenhassender Kastellan. Wie ein basso continuo zieht sich Ironie (oder ist‘s Häme?) durch den Roman, wenn Aufsteiger, Schwätzer, Bordellbesucher und der Abgeordnete vorgestellt werden oder sich die sehr alten Herren bei der 200-Jahrfeier der Schule treffen. Die Geschichten sind nicht alt, das kommt besonders hübsch zur Geltung, als der Abgeordnete zu Besuch kommt: „In seinem Antlitz zeigt sich ein wohlgeneigtes Lächeln, das Monarchen zu eigen ist, denen ihre Untertanen huldigen“, er „kann eine anmutige Verbeugung machen und lautstark grüßen“, und seine leicht wogenden Sätze, seine pompösen Perioden und schmetternden Phrasen begeistern die Zuhörer.

Das Buch handelt von Sommer 1913 bis Juni 1914, nach etwa 200 Seiten bricht, anfangs noch vorsichtig, Unruhe ein, als unter dem Jubel der Bewohner, ein militärisches Manöver abgehalten wird. Erst auf der letzten Seite kommt die Nachricht, dass der Thronfolger in Sarajewo ermordet wurde und dies Krieg bedeutet.

Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit habe ich das Nachwort erst am Schluss gelesen. Karel Poláček verkehrte in den 1920er Jahren in den Prager Schriftstellerkreisen. Er wurde, zusammen mit seiner Frau, erst nach Theresienstadt geschickt, kam 1944 nach Auschwitz und wurde 1945 auf einem Todesmarsch ermordet.

Hazel Rosenstrauch

Karel Poláček: Die Bezirksstadt. Übersetzt und herausgegeben von Antonín Brousek. Reclam, Stuttgart 2018. 384 Seiten, 24 Euro.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier.
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.

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