Geschrieben am 3. Oktober 2019 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2019

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge

„Regieanweisungen stehen natürlich präzise an den jeweiligen Stellen“

Eigentlich ist ja schon alles gesagt über den grotesken Fälscherskandal Relotius. Doch wie der  freie Spiegel-Autor Juan Moreno trotz aller Widerstände der SPIEGEL-Hierarchie diesen Skandal aufdeckte und die verklärte SPIEGEL-Märchenstunde der  bewunderten Edelfeder Relotius beendete, ist beeindruckend. Auch weil er in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“ aus kritischer Distanz und im größeren Medien-Kontext –Stichwort Fake News – die Auswirkungen einschätzt.  – Von Peter Münder.   

Am Anfang, vor der skandalumwitterten Reportage „Jaegers Grenze“ (27/11/18) von Moreno/ Relotius, war da nur ein eher diffuses, aversives Unbehagen bei Juan Moreno: Warum sollte er zusammen mit Claas Relotius eine Reportage über den mittelamerikanischen Flüchtlingstreck und radikal-militante US-Bürgerwehren an der mexikanischen Grenze machen? Und sich dann auch noch nach präzisen „Regieanweisungen“ von Ressortleiter Matthias Geyer hinsichtlich idealer Protagonisten und deren  Verhaltensmustern richten? „Wir suchen nach einer Frau mit einem Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land, in dem ihr das Leben unmöglich geworden ist“, hatte Geyer über Morenos  Part in seiner E-Mail geschrieben, „wir wollen alles von ihr wissen. Jedes Detail ihrer Biographie, ihre Lebensumstände, ihre Ängste …Es muss eine sein, die mit Hilfe eines Kojoten über die Grenze will. Idealerweise hat sie schon einen Plan, wo sie die Grenze überschreiten will.“ Und zum Relotius-Abschnitt mit einem militanten Ranger hatte Geyer vorgegeben: „Dieser Typ hat selbstverständlich Trump gewählt, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, so wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.“

Nicht nur die aufgedrängte Zusammenarbeit mit Relotius irritierte Moreno, viel ärger fand er Geyers Hinweis, dass „Claas den Text dann zusammenschreiben wird“. Die ultimative Deutungshoheit über diese Reportage würde also Relotius haben: „Relotius konnte also bestimmen, was für eine Geschichte es letztlich wird“, so Moreno. „Natürlich störte mich, dass Relotius der Häuptling sein sollte.“ 

Für Moreno war diese E-Mail-Direktive  kein übliches Vorgespräch zu einer Recherche, sondern eher ein „Treatment zu einem Drehbuch – ungewöhnlich und unfassbar“. Offenbar hatte Geyer nämlich, wie Moreno schreibt, „seine Geschichte bereits gefunden“. 

Und dieser hermeneutische Tunnelblick mit einem präzisen Vorverständnis  ist eben auch der Knackpunkt der Relotius-Reportagen: Der Star-Reporter, „der treue Claas“, wie er von einigen Kollegen genannt wurde, hatte meistens schon eine fertige Story im Kopf, wenn er anfing, zu recherchieren. Und wenn sich dann Aspekte ergaben, die eine Korrektur dieser Story erforderlich machten, dann wurden diese „Störfaktoren“ einfach ausgeblendet. Oder er vermied es einfach – die fertige Story war ja bereits im Kopf – die  Schauplätze der Reportage zu besuchen oder die Protagonisten zu interviewen. Was ja auch sein spezifisches Fälschungssystem war – aber das stellte sich erst heraus, als Moreno  diesen Verdacht hatte und mit seinen entsprechenden  Interventionen bei den Ressortleitern und Dokumentaren konsequent abblitzte. Einem „Jahrhunderttalent“ recherchiert man doch nicht hinterher, das wäre doch Rufmord, schallte es Moreno entgegen. Nun stellte sich  jedoch heraus: Von den 60 Spiegel-Texten, die von der Aufklärungskommission untersucht wurden, waren 95 Prozent gefälscht. 

Für eine Klimawandel-Reportage sollte Relotius aus Kiribati über einen Einsiedler berichten, der den Kampf gegen den ansteigenden Meeresspiegel aufgenommen hat – Relotius hatte diese Reportage zwar abgeliefert, aber in Kiribati war er nicht gewesen.  Auch seine vielen anderen Märchen basieren offenbar auf seiner Überzeugung, dass man  mit üppiger Phantasie die Realität überlisten und so dramatischere Effekte zur „Verdichtung“ einer Story erzielen kann. 

„Die letzte Zeugin“ (Spiegel-Reportage  (3/3/18) Gayle Gladdis, die sich in US-Gefängnissen die Hinrichtungen amerikanischer Todeskandidaten ansieht, gab es ebensowenig wie ein Gesetz, das die Anwesenheit ehrbarer Bürger bei der Exekution vorschreibt. Mit den Eltern des Protest-Footballers Colin Kaepernick, der beim Abspielen der Nationalhymne niederkniete, hatte Relotius nie gesprochen. Auch nicht mit dem Sportler selbst – aber eine  aufgeblasene Story über die entglittenen moralischen Normen des in die Schlagzeilen geratenen Footballers produziert. Und die Ungereimtheiten und Widersprüche in „Jaegers Grenze“, die Moreno im Bürgerwehr-Abschnitt von Relotius entdeckt, waren  Fälschungen: Die Porträts der Border-Patrol- Protagonisten hatte Relotius aus „New York Times“ und „Mother Jones“-Berichten montiert – er selbst hat die Leute nie getroffen oder gesprochen. Erst nachdem seine Zweifel und Bedenken über Relotius so stark wurden und er bei der Ressortleitung mit seinen Zweifeln und Vorbehalten gegen den Fälscher  gegen eine Betonwand lief,  entschied sich Moreno, die Ungereimtheiten und Widersprüche in „Jaegers Grenze“  selbst nachzurecherchieren und zu den Typen an die mexikanische Grenze zu fahren.  Nun wühlte sich Moreno auch durch alte Relotius-Texte und kam so dem Lügensystem des  vermeintlichen Super-Reporters auf die Spur. Er  erinnert er sich  an dessen frühe „Cicero“-Reportage über einen kubanischen Schuhputzer: Der hatte sich als Steuerberater betätigt und war damit enorm erfolgreich gewesen. „Ein Steuerberater auf Kuba?“, war es Moreno da durch den Kopf gegangen – irgendwas stimmte da nicht. Auch mit vielen anderen Relotius-Reportagen stimmte vieles nicht – aber würde der mit vielen Preisen ausgezeichnete Edelfeder-Kollege seine Beiträge wirklich so dreist fälschen? Wie kann das sein, wenn beim Spiegel 80 Dokumentare zur Verifizierung der Texte arbeiten?   

„Relotius war kein Reporter gewesen“

Bei Relotius musste alles zum Hype aufgeblasen werden, seine Reportagen spektakulär und einmalig sein – dabei war er doch so bescheiden und freundlich! Eine Stelle beim Spiegel hatte dieser barmherzige Samariter abgelehnt, weil er mehr Zeit brauchte, um seine krebskranke Schwester zu pflegen – dabei hat er keine Schwester. An der Hamburger Journalistenschule schwadroniert er über ein selbst durchgeführtes tolles Interview mit der Trainerlegende Mayer, der eigentlich nie Interviews gab. Moreno fand heraus, dass Relotius einmal als Praktikant durch eine Glaswand zusah, wie ein Reporter das Gespräch mit Mayer führte. Auch das Heucheln beherrschte Relotius routiniert: Er sei jetzt überhaupt nicht entspannt oder gutgelaunt, erklärte während der Preisverleihungsfeier („Beste Reportage des Jahres“) in Berlin, als er auf seine eher  düstere Stimmungslage angesprochen wurde: „Es ist wegen Juan, der hat sich verrannt, recherchiert  mir hinterher. Der hat doch vier Kinder und wird jetzt entlassen.“ Das war kurz vor der Enthüllung des Skandals Anfang Dezember 2018, als einige kritische Amerikaner Wind von dem deutschen Reporter bekommen hatten, der vorgab, an der mexikanischen Grenze mit Bürgerwehren unterwegs gewesen zu sein, aber niemanden kontaktiert hatte. Und den auch niemand irgendwo an der Grenze  entdeckt hatte. Da bekam Relotius schon Anfragen aus den USA, wie er es  geschafft hatte, eine Story wie „Jaegers Grenze“ ohne Interviews vor Ort zu produzieren. 

„Was kleine Kinder wissen, das wissen Reporter auch“

Moreno liefert mit „Tausend Zeilen Lügen“ ja kein Plädoyer für die Hinrichtung des Fälschers: Er wollte vor allem, bevor amerikanische Medien, der deutsche Blätterwald oder der „Guardian“ mit Inbrunst gegen das Hamburger „Sturmgeschütz der Demokratie“ vom Leder zogen, dafür sorgen, dass die kritische Auseinandersetzung mit dem Relotius-Lügensystem im eigenen Haus bewältigt wurde. Was ihm ja auch nur mit Ach und Krach gelang; wer ahnt denn schon, dass der Super-Reporter mit allen Tricks operierte, mit der Opfermasche (technische Pannen waren angeblich verantwortlich für verfälschte Texte!) und sogar mit gefälschten E-Mails ? Und dass die Ressortchefs eigentlich keinen Fehler ausließen, um ihren Premium-Schreiber weiter unbehelligt zu lassen? Das larmoyante Geschwätz der Relotius-Kommission über angeblich anfällige Schwachstellen des Reportage-Genres oder des Ressorts Gesellschaft im Abschlussbericht dient ja nur der Camouflage des eigenen Versagens: Wenn die Ressortleiter oder der Chefredakteur den Vorwürfen gegen den „treuen Claas“ nicht selbst nachgehen, Moreno wegen seiner Zweifel  und Vorwürfe  gegen Relotius hartnäckig abwimmeln,  um dann im Abschlussbericht  „das wunderbare Misstrauen des Juan Moreno“ zu bejubeln, dann ist das sicher auch der Ausdruck  von Erleichterung über das Vermeiden peinlicher Kritik von außen. Aber dieses Lob für den  verpönten Underdog, dem auch für sein Buch  vom SPIEGEL keinerlei Informationen, keinerlei  Dokumente  zur Verfügung gestellt wurden und mit dem keine Kooperation stattfand,  klingt  hohl. Der Schaden für die Medien-Landschaft ist natürlich enorm. Und Juan  Moreno – Absolvent der Münchner Journalistenschule – geht diesen kritischen Punkten, vor allem Aspekten wie „Verdichtung“, „poetische Wahrheit“ usw. akribisch nach. Das Schwadronieren über „eine poetische Wahrheit, die wahrer ist als eine nichtpoetische Wahrheit“ ist seine Sache nicht: „Nein, die gibt es nicht“ ist seine Antwort. „Reporter schreiben die Wahrheit. Punkt. Zitate werden nicht erfunden, Interviewpartner nicht in einer Person zusammengefasst, wenn dreihundert Leute auf einer Demo zusammen waren, sind es im Text nicht dreitausend, weil das doch viel dramatischer klingt. Es ist wie bei kleinen Kindern. Sie wissen ab einem gewissen Alter ziemlich genau, was richtig und falsch ist. Reporter wissen das auch.“ Moreno legt Wert auf nichtfiktionale, empirisch überprüfbare Faktizität, wie er betont. „Auf Spiegel-Deutsch: Sagen, was ist. Literatur hingegen darf, was immer ihr in den Kram passt.“ 

Das sind die beiden unterschiedlichen Welten, in denen sich die Reporter-Kontrahenten  bewegten – aber diesen Unterschied hat Relotius laut Moreno einfach nicht verstanden oder er wollte es nicht. Allmählich entwickelt sich aus Morenos Analyse des Fälscher-Systems so auch ein Psychogramm des Hochstaplers Relotius.

Der ach so einfühlsame Menschenversteher Relotius suggerierte anderen nämlich Trost, Zuspruch, Beachtung, meint Moreno: „In Relotius waren die Trivialthesen eines Ratgeber-Magazins zum Leben erwacht. Er erfüllte jeden einzelnen Punkt auf dem „Wie mache ich mir Freunde“-Merkzettel.“ Und da er ohne irgendeine politische Haltung, ohne Ideale war, dafür aber immer auf der Suche nach Zustimmung, hat der Leser seiner Texte leicht das Gefühl, vom Reporter Relotius in einen angenehmen Kokon eingesponnen zu sein und vom Autor in den Arm genommen zu werden: Das kunstvoll errichtete Lügenkonstrukt ist ja nicht leicht zu entdecken. Moreno weist an etlichen Stellen auf die Hochstapler-Mentalität des Schaumschlägers hin, der genau weiß, wie Typen vom Schlage eines Tonio Kröger vorgehen und wie sie verträumte Ahnungslose umgarnen und reinlegen. 

Eine Systemkritik an der Methode Relotius und an der  Aufklärungs-Resistenz der  Spiegel-Chefs ist natürlich belastet mit grotesken Widersprüchen: „Wir glauben erstmal gar nichts“ lautet seit jeher das Motto der SPIEGEL-Dokumentation, doch im Umgang mit Relotius lief es auf das glatte Gegenteil hinaus: Man glaubte ihm ja eigentlich bis zum  finalen Showdown mit Moreno alles. Inzwischen hat man Umstruktierungen im Ressort Gesellschaft vorgenommen, um die Defizite eines Systems mit einer selbstreferentiellen Medienblase abzufedern – wir sind gespannt, wie sich das auswirkt. Ob die Märchenstunde im Gesellschafts-Ressort noch eine Chance hat oder das nüchterne „Sagen, was ist“ sich in dieser  bisher so abgeschotteten  Blase auf lange Sicht doch durchsetzen kann.

PS: Morenos Buch wird jetzt von Regisseur  Michael „Bully“ Herbig verfilmt. Vielleicht ist der Experte für den „Schuh des Manitou“ für die filmische Aufarbeitung des SPIEGEL-Skandals ja prädestiniert? Für blendende filmische Effekte war Relotius ja immer zu haben. Zu befürchten ist jedoch, dass die „Mehr Schein als Sein“-Hochstapler-Thematik wie weiland bei Kujaus Tagebuchfälschungen ins Klamaukartige abdriftet.

Jedenfalls kann man Morenos eindrucksvolle, spannende und kritisch-distanzierte Abrechnung/Systemkritik/Rückschau ja auch als Thriller lesen: Denn der altbewährte  Konflikt zwischen falsch eingeschätztem, ausgegrenztem Underdog und überheblichem, verlogenen Hochstapler ist ja immer noch ein brisantes, aktuelles Thema.

  • Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus. Rowohlt Berlin, Berlin 2019. 288 Seiten, 18 Euro. 

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