Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Johannes Groschupf: Coffin Dance #covid-19

Ich wollte nie einen Coronavirustext schreiben

Das Coffin Dance Meme ist der Soundtrack dieser Wochen, Vicetones & Tony Igy sägende Version von Astronomia, dazu der Auftritt der Dancing Pallbearers, ghanaischen Sargträgern mit Sonnenbrillen, Anzügen samt Einstecktüchern und weißen Handschuhen. In dezenten Schrittfolgen transportieren sie den Sarg auf den Schultern, auf den Oberschenkeln durch die Straßen zum Friedhof. Zunächst war das Meme auf Epic Fails im Netz gemünzt, dann als gutgelaunte Antwort auf die vielen Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie. 

Beschwingt wird der Sarg zu Grabe getragen, eigentlich aber diese ganze ratlose Welt in ihrem Stillstand, in ihrem verzweifelten Narzissmus, der kein Publikum mehr findet, in ihrer Langeweile, ihren Katastrophenberichten vom Homeschooling, den Online-Lesungen von Autorinnen und Autoren, die im Dilettantismus der 80er-Jahre ihre Werke in die Kamera sprechen – „Hört mir eigentlich jemand zu?“ – und dabei mehr über die erschreckenden Wohnverhältnisse von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in diesem Land preisgeben, als man eigentlich wissen wollte. 

Es ist nicht leicht dieser Tage. Es ist nicht leicht, fünfundzwanzig Stunden („es sind noch 80.472 Bewerber vor Ihnen“) vor dem Laptop zu verharren, bis man endlich mit dem Corona-Zuschuss an der Reihe ist: „Sie haben ab jetzt 30 Minuten Zeit, Ihre Daten einzugeben, danach schließt sich das Fenster.“ Und seither hat man das Gefühl, dass die Staatsanwaltschaft hinter einem her ist … Es ist nicht leicht, stunden-/ tage-/ wochenlang auf die Statistiken zu starren, wie viele Menschen jetzt gestorben sind, in welchem Land und in welcher Altersklasse und mit welchen Vorerkrankungen. Welche Regelungen, Verbote, Beschränkungen sind in Kraft und wie lange? 

Es ist auch nicht leicht für Menschen mit devianten Neigungen. Taschendiebstahl im Gedränge ist kaum mehr möglich. Wohnungseinbrüche, wenn alle zu Hause hocken? Vergiss es. Man hat versucht, den Enkeltrick mit einer angeblichen Covid-19-Erkrankung aufzupimpen, doch die alten Leute gehen nicht mehr an die Tür. Allein die „Audi-Gang“ aus Utrecht und Amsterdam sorgt mit den ständigen Sprengungen von Geldautomaten für Aufsehen in Nordrhein-Westfalen, aber so richtig viel Geld kommt dabei nicht rum. Derweil gehen in den USA die rechten Bürger auf die Straße, die eben noch die Waffenläden leergekauft haben und sich nun beschweren, dass sie nicht zum Friseur dürfen. Trump empfiehlt, die von Covid-19 geschüttelten Körpern ordentlich mit Desinfektionsmitteln auszuspülen, was einige seiner Anhänger in Florida prompt befolgen – Zeit für den Coffin Dance again!

Was für eine Welt. Der beste Moment, um ihr die kalte Schulter zu zeigen und den nächsten Roman zu beginnen. Auch wenn die Recherche in Kneipen, Wettbüros und Billardsalons vorerst entfallen muss. Kein Bier am frühen Abend, keine zehn Euro auf Chill Daddy im zweiten Rennen von Corpus Christi, Texas. Schlimmer noch, ich frage mich seitdem ständig, wie die Welt aussehen wird, wenn das Buch erscheint, falls es überhaupt erscheint. Liegt die Corona-Epidemie dann hinter uns? Oder sind wir erst dann mittendrin? Ist es ein Albtraum, aus dem man aufgewacht ist und den man so rasch wie möglich vergessen will? Oder ist es ein Trauma, das ernste Verhaltensstörungen nach sich zieht? Ich schreibe über eine Stadt im Normalzustand: Verkehrslärm, Menschengedränge, die übliche Aggression und Niedertracht, Autounfälle, der Bieratem des Mannes auf dem Hocker neben dir, das Klacken der Billardkugeln im Nebenraum. Das wirkt hoffnungslos nostalgisch, das ist unwiderruflich vorbei und kommt nicht wieder.

Wenn ich morgens aufwache, komme ich mir vor wie ein DDR-Bürger nach dem Fall der Mauer. Anfangs wirkt alles wie sonst, aber dann fällt es mir ein: Das alte System ist kollabiert, das neue noch nicht etabliert, wir leben in einer Zwischenwelt, einem Ausnahmezustand, einem „Bardo“, wie wir Tibetaner es nennen – und natürlich wissen wir, dass alle Phänomene in diesem Bardo nur Projektionen des eigenen Geistes sind. (In den späten Achtziger Jahren hat Michael Stein, er bestritt mit Wiglaf Droste einst das Benno-Ohnesorg-Theater, bei Kontrollen in der U-Bahn dem Kontrolleur versichert: „Ich bin Buddhist – und Sie sind eine Illusion!“). Projektionen des eigenen Geistes? Jeden Morgen wache ich auf, der Himmel ist blau. Süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land. Aber – fuck, spätestens beim Kaffee fällt es mir wieder ein: Hände waschen! Nicht mit den Fingern ins Gesicht fassen! Die alte Nachbarin fragen, ob sie was braucht! Die selbst genähte Maske vor dem Supermarkt anlegen! Abends am Fenster für die Krankenschwestern klatschen! Rechtzeitig zum Zoom-Meeting erscheinen! Den Sauerteig füttern! Außerdem die Spaziergänge zu zweit, bei denen man wie besessen um Häuserblocks kreist, weil alle Berliner Parks so voll sind wie der Chapultepec-Park in Mexiko-Stadt an einem ganz gewöhnlichen Sonntagnachmittag. 

Ich will das alles nicht. Weder die verordnete Vernunft und Menschenscheu noch das bescheuerte Aufbegehren, indem man sich im Park wieder zusammenklumpt mit einem Kasten Bier. Ich bin mit Netflix einigermaßen durch und stöbere nächtelang in Berliner Adressbüchern von 1894, was noch nie ein gutes Zeichen war. Und wenn ich endlich einschlafe, dann mit dem buddhistischen Gebet: „Wehe, wenn ich wegen meines unbeugsamen Stolzes im Samsara umherirren muss!“ 

Dann mache ich die Augen zu, der Sargdeckel schließt sich, die sägenden Rhythmen von Astronomia flammen auf; und die ghanaischen Sargträger verrichten ihr tänzelndes Werk. Möge der Coffin Dance nie enden.

Johannes Groschupf ist Autor des vielfach ausgezeichneten Romans „Berlin Pepper“ und uns ein wohlgeschätzter Autor. Seine Texte bei CulturMag. Und weitere, sowie über ihn.