
Drei Bücher von Thomas Reverdy, Karin Smirnoff und Barney Norris
Ingrid Mylo über „Ein englischer Winter“, „Mein Bruder“ und „Die Jahre ohne uns“
Warum heißt das Buch nicht wie es heißt, im Original, warum heißt es nicht wie das Shakespeare-Zitat, von dem es handelt, warum heißt es nicht ‚Winter unseres Mißvergnügens‘? Warum dieses salonmäßige ‚Ein englischer Winter‘: als hätte mal wieder eins dieser Bildungsbürger-Paare eine Ehekrise zu durchstehen, ein Freund der Familie übt sich in Sachen Verzicht, ein Silberstreifen Tragik am Horizont und im Kamin das Feuer.

Kalt, ganz kalt: und völlig anders als Klappentext und Werbung suggerieren, geht’s kaum um Personen und noch weniger um Liebe (das halbe Buch ist rum, bevor „die schöne junge Frau“ und der Jazzmusiker einander auch nur andeutungsweise begegnen, und erst kurz vor Schluß sehen sie sich ein zweites Mal, das war’s): das Buch enthält einiges: die kursiv gesetzten Interpretationen eines Aspektes von Richard III., die Beschreibung der katastrophalen Wintermonate in England von 1978/79 (Streiks und Armut und Stillstand und soviel Schnee wie dann Jahrzehnte nicht mehr, „Labour isn’t working“ steht in wunderbar englischer Doppeldeutigkeit auf Plakaten an Londons Häuserwänden), die daraus abgeleiteten Gründe für M. Thatchers Machtergreifung, überhaupt: ein Versuch über die Macht, ein Versuch, die Mechanismen dahinter zu verstehen, die Geißelung menschlicher Dummheit in zwei Sätzen, paar Fahrradkurieranekdoten, paar zynische Bemerkungen zum Kapitalismus, ein Alphabet zur Lage der Welt in den 80ern. Und auf Günther Anders wird auch hingewiesen. Zwischen all dem zieht Reverdy immer mal wieder eine Faustvoll harscher Aphorismen aus der Hosentasche und knallt sie auf die Theke, one more for the road, dafür reicht’s noch, durch die Nacht kommt man damit nicht.
Wie aber soll, mit dieser irreführenden Werbung von wegen Liebe in der sich „breitmachenden Eiszeit“, das Buch an jene Leser gelangen, die es wertschätzen könnten?
Thomas Reverdy: Ein englischer Winter (L’Hiver du mécontentement, 2018). Aus dem Französischen von Brigitte Große. Berlin Verlag 2021. 208 Seiten, 22 Euro.
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In Bezug auf den Reichtum und die Gewalttätigkeit und die Erschütterungen von Karin Smirnoffs Romans sitzt auch ‚Der Bruder’ als Titel nicht richtig. Ist nicht unbedingt falsch: eher falsch gewichtet, da ist soviel anderes, soviel mehr als der Bruder, warum ihn hervorheben, es geht nicht um ihn.

„Wer geschlagen wird schlägt später selbst“, heißt es auf Seite 249, ohne Komma, wie alle Sätze ohne Kommas sind, ohne Gedankenstriche, ohne Fragezeichen. Punkte ja: müssen nicht Grenzen gesetzt, muß nicht Einhalt geboten werden, hin und wieder, ein Luftholen in der Atemlosigkeit, das prasselt auf einen nieder, eisig und schwarz, die Kälte, die Armut, der Schnee in den weltabgewandten Dörfern Schwedens, das bösartig Religiöse: was passiert da an Verheerendem in den Familien, was bringt das für Kinder hervor. Und warum kehrt man, wie Jana, einmal entkommen, wieder dorthin zurück, 25 Jahre später, glaubt sie, unter dem Dreck und der Angst könne das Reine hervorgeschrubbt werden, putzt sie deshalb so gern. Mißtrauen aus Erfahrung, Hoffnung wider besseres Wissen: ist die Erinnerung Feind oder Verbündeter, die gelben Stiefel auf der Kiste, warum taucht das Bild so oft auf, was hat Jana vergessen, was verdrängt, die Mistgabel im Bauch des Peinigers, mit seinem Tod auch die Erlösung vom Vater, Ödhäuser, ein Hundeskelett, Schüsse auf eine nackte Schaufensterpuppe, die Lügen des Liebhabers, seine Gemälde: man braucht, um, was geschah, zu verstehen, viel Rot. Glaskugelmomente, nur zu ertragen, solange im Schneefall die Umrisse der Vergangenheit nicht allzu deutlich werden. Eine andere Möglichkeit wäre trotz allem die Liebe.
Was da erzählt wird, wie es erzählt wird, ist ungeheuer: als hätte Karin Smirnoff mit Rollsplitt Bilder gelegt: und dann wischen Rentierhufe, knarzen Jägerstiefel darüber: zerstört. Eben nicht: das scheinbar Zerstörte fügt sich zu neuen Mustern, aus denen sich ganz andere Geschichten lesen lassen: und wer sie liest, dem brennen die Abdrücke der schwarzen Steinchen in der Haut, in den Knochen, tagelang. Länger. Viel länger.
Karin Smirnoff: Mein Bruder (Jag for ner till bror, 2018). Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin 2021. 335 Seiten, 24 Euro.
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Was ist das: ein wahres Leben. Das richtige, das eine: das, das man hat, das, das man will, das, das (von wem?) für einen vorgesehen ist? Wer ist man, wenn man ein Leben fern vom eigenen führt, wie gelangt man in Paralleluniversen (und vor allem: wieder heraus), was ist mit Illusionen, Halluzinationen, Depressionen, Fugue-Zuständen, dient das Leben nur als Nährstoff für Träume, sind sie das Eigentliche, geht es darum: zu träumen und unter den Apfelbäumen glücklich zu sein.

Und die Erinnerungen (einmal mehr): wie echt sind sie, wie verläßlich oder verlogen, wie sehr werden sie überlagert von den scheinbaren, die uns schützen vor dem, was an Schmerz einst war.
All diese Fragen, all das angespielt Philosophische: und dann wird eine Schauergeschichte daraus. Ein Mann auf dem Weg aus einer Kneipe, er tritt vor die Tür: und der Moment danach ist nicht der nächste Moment und der Mann ein anderer in einer anderen Welt: klingt das nicht seltsam vertraut. Erst vor paar Tagen gelesen, in dem letzten Erzählband von Murakami Haruki: und schon da war es ein Déjà-vu, nicht zum erstenmal von ihm verwendet, ein Echo vergangener Romane.
Vor dem Mann mit der Schauergeschichte war die Frau (der er sie, in einer Kneipe, erzählt). Die Frau, die von Kindheit an ihre Endlichkeit im Blick hatte, Anzeichen des Todes sah, wohin sie schaute (kein Einzelfall: Ulrich Tukur hat schon in jungen Jahren, wie grad zu lesen stand, die Wände seines Zimmers mit Todesanzeigen aus der FAZ überzogen), die fast 70jährige Frau, die sich durch eine Enzyklopädie voller Worte phantasiert, Worte wie Interlude, Narbenbildung, Transiente Globale Amnesie, Gartencenter und Einfriedung, Worte, die eine Biographie anders erklären, die im Schrecklichen das Schöne entdecken und es bewahren sollen, eine Sammlung kleiner Wunder und Beglückungen. (Auch wenn tote Katzen die Wege säumen und Vogelkadaver). Die alte Frau und der Mann. Und ihre Begegnung, die nicht ihre erste ist, und die Schauergeschichte bloß dazu da, dort weiterzumachen, wo sie einander abhanden kamen.
Ein Roman, in Nebel gemalt, durch den die Sätze schimmern wie Besucher auf einem Maskenball, und ja: manchmal genügt das Wissen, daß es Schnee geben könnte: und die Nerven kommen zur Ruhe.
Barney Norris: Die Jahre ohne uns (The Vanishing Hours, 2019). Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass. DuMont Verlag, Köln 2021. 249 Seiten, 22 Euro.
© 2021 ingrid mylo
Gerade von ihr in der edition AZUR erschienen, der Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen. Klappenbroschur, 90 Seiten, 18 Euro.
ISBN 978-3-942375-46-7
Ingrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Texte bei uns hier. Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.